von Erhard Crome
Märchen sind Töchter der Erinnerung des Volkes; ursprünglich nicht nur für Kinder gedacht, wachsen Kinder mit ihnen auf. So gab es immer russische Märchen, in denen „Väterchen Zar“ auftaucht. Manchmal ist er böse oder ungerecht, aber doch das Väterchen und als solches eine Vertrauensperson. Selbst während der russischen Revolution von 1905 bis 07 hatten es die sozialistischen Agitatoren auf dem Dorf meist schwer, weil die Bauern zwar Land erhalten und den Gutsbesitzer vertreiben, nicht aber den Zaren stürzen wollten. Sie wollten nicht keinen Zaren, sondern einen guten.
Der realexistierende Zar Nikolaus II. allerdings regierte das Land seit seiner Thronbesteigung 1894 nicht nur autokratisch, sondern spielte die verschiedenen Institutionen zielstrebig gegeneinander aus. So lenkte er die Geheimdienste und ein Netz von Agenten im ganzen Land an den „eigentlichen“ Einrichtungen des Staates und der Regierung vorbei persönlich und hinter dem Rücken seiner Minister. Über diese Netze gehörten auch Pogrome und gewaltsame Ausschreitungen zur „Politik“ zum Zwecke der Unterdrückung der Revolution. Aufständische wurden mit Armee und Flotte bekämpft, selbst in Petersburg und Moskau ganze Stadtviertel mit Artilleriegeschützen beschossen, mit Tausenden von Toten. Es wurden Sondergerichte eingerichtet, die nach Kriegsrecht zu urteilen hatten, das heißt es gab nur Todesurteile. Ein interner Befehl legte fest, den Zaren nicht mit Gnadengesuchen zu belästigen. Meuternde Soldaten und Matrosen in den Seefestungen nahe Petersburg ließ er am 20. Juli 1907 von See her von Kriegsschiffen aus mit Kanonen zusammenschießen. Am selben Tag empfing der Zar mehrere Politiker aus den Reihen der gemäßigten Monarchisten, die ihn zu Reformen drängen wollten. Fürst Lwow, einer von ihnen, berichtete über diese Audienz: „Ich erwartete, einen von Gram schwer getroffenen, für die Heimat und sein Volk leidenden Fürsten zu sehen. Statt dessen kam ein vergnügter, lustiger Bursche in einem himbeerroten Hemd und breiten Pumphosen, mit einer Schnur umgürtet, zu mir heraus.“ Der Herr hatte in der See zu baden geruht. Fürst Lwow notierte, das Gespräch habe dieser Kleidung und Stimmung des Zaren entsprochen. Der Fürst begab sich anschließend in psychiatrische Behandlung. Aus den Reformen wurde nichts. Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg kamen die Revolutionen von 1917.
Ganz in der russischen Tradition, wie sie der Zar verkörpert hatte, stand später „Väterchen Stalin“. Sein glückliches Jahr war – wie Wladislaw Hedeler und Nadja Rosenblum in einem leider viel zu wenig wahrgenommenen Buch beschrieben haben – das Jahr 1940. Nach den Jahren des andauernden und immer wieder modifizierten Terrors war eine Atempause eingetreten und der deutsche Überfall auf die Sowjetunion war noch nicht erfolgt. Stalin hatte seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert, an den Mythen des „Väterchens“ war durch immer wieder neues Umschreiben der Geschichte und Verschwindenlassen unliebsamer Dokumente und Zeitzeugen aus früheren Jahren zielstrebig gearbeitet worden. Er hatte eine unbestrittene Verfügungshoheit über alle wichtigen Entscheidungen im Lande, wie auch nach 1945 nicht mehr.
Das ist in der heutigen Ukraine nicht so. Da müssen sich verschiedene Personen und Machtgruppen um die Macht streiten. Eines aber scheint konstant: die Macht der „Oligarchen“, jener aus den sowjetischen Verhältnissen hervorgegangenen Clique von Kapitaleignern. Das Münchener Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (ISW) hat in einer Untersuchung im April 2014 deren Strukturen dargestellt. Der reichste Oligarch der Ukraine ist ein Herr mit Namen Rinat Achmetow. Er verfügt über ein Vermögen von 16 Milliarden US-Dollar (2011). Das sind etwa zehn Prozent des Brutto-Inlandsprodukts der Ukraine – einen solchen Grad der Konzentration des Kapitals gibt es weder in den USA, noch in Deutschland. Es folgen Viktor Pintschuk (4,2 Milliarden US-Dollar), Igor Kolomojskij (3 Milliarden), Gennadij Bogoljubow (2,8 Milliarden), Vadim Nowinskij (1,9 Milliarden) und schließlich Petro Poroschenko (1,3 Milliarden).
Angeblich hatte ja der in den westlichen Großmedien vielgerühmte Protest auf dem Maidan-Platz in Kiew wegen der sozialen Ungerechtigkeit und der Herrschaft der Oligarchen begonnen. Nun wurde mit Petro Poroschenko ausgerechnet einer dieser Oligarchen zum Präsidenten gewählt. Angeblich waren diese Präsidentenwahlen auch die wieder einmal die „ersten freien Wahlen“. Das war auch schon bei der Wahl von Wiktor Juschtschenko behauptet worden, der nach der sogenannten „Orangen-Revolution“ ab 2005 Präsident war. Auch die Wahl von Wiktor Janukowytsch 2010 war damals nicht beanstandet worden. Erst nachdem man ihn zum Diktator und zur Verkörperung des Bösen (weil er den Vertrag mit der EU nicht unterzeichnet hatte) erklärt hatte, der mit den Maidan-Protesten schließlich unter Zutun westlicher Minister und Politiker aus dem Amt gejagt wurde, wurden auch die damaligen Wahlen inkriminiert. Nun also Poroschenko. Er erhielt bei den Wahlen im Mai bereits im ersten Wahlgang eine erforderliche Mehrheit. Die Oligarchen hatten sich auf ihn geeinigt. Er war unter Juschtschenko Außenminister der Ukraine und unter Janukowytsch Wirtschaftsminister. Nach Wikipedia und laut Wikileaks gilt er als langjähriger Informant der USA. Damit passt er in jeder Weise in die neuen Verhältnisse.
Ursprünglich hatte der rechte Flügel der im Februar 2014 installierten Kiewer Regierung den Krieg in der Ostukraine gegen die Kräfte, die in den Medien immer gern als „Separatisten“ bezeichnet werden, noch vor der Amtseinführung Poroschenkos (die am 7. Juni stattfand) siegreich beenden wollen. Nun geht der Krieg weiter. Poroschenko hatte eigentlich einen Waffenstillstand zugesagt, lässt aber Armee und „Nationalgarde“ (die umgekleideten Kämpfer des „Rechten Sektors“) auch mit Panzern, Kanonen und Flugzeugen auf eine Bevölkerung schießen, die ja eigentlich die „eigene“ Bevölkerung in der Ostukraine ist. Verhandlungen mit den dortigen politischen Kräften lehnt er ab. Ein „Runder Tisch“ funktioniert aber nur, wenn die Regierungsseite auch mit den tatsächlichen Gegenkräften redet, um den Konflikt zu befrieden – dies war zumindest die Erfahrung in Ostmitteleuropa 1989. Ein solcher „Tisch“ nur mit den Leuten eigenen Einverständnisses regelt nichts. Ob die oppositionellen Kräfte in der Ostukraine tatsächlich eine Separierung und den Weg nach Russland wollen, oder aber mit einer echten Föderalisierung der Ukraine zu gewinnen wären, scheint nicht ausgemacht. Wirklich erfahren wird man das nur, wenn man verhandelt.
Mit großem Geschrei wird quittiert, wenn die Milizen der ostukrainischen Opposition ein Militärflugzeug der ukrainischen Armee abschießen. So etwas liegt in der Logik eines Krieges, auch eines Bürgerkrieges. Wenn aber die Zivilbevölkerung durch die Armee beschossen wird, taucht das in den hiesigen Nachrichten kaum mehr auf. Es stört das Bild von der zu assoziierenden Ukraine. Väterchen Oligarch sollte die dafür erforderliche Ruhe schaffen. Und sei es mit schweren Waffen. Das aber ist eher die Tradition, die auf den Zaren weist, als ein Aufbruch in die schöne neue Welt von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten.
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