von Ulrike Krenzlin
Mein Leipziger Universitätslehrer Johannes Jahn behandelte die Barockkunst von 1600 bis 1750 mit feinsinniger Fachliebe. Zuerst den italienischen Barock mit Glanznamen wie Gian Lorenzo Bernini und Alessandro Algardi, den Barock in Österreich und dann die klassisch römische Variante in Frankreich. Zum norddeutschen Barock kam nur ein kurzer Kommentar, ungefähr so: „Da gibt es Andreas Schlüter und das Berliner Schloss. Obwohl dieser hochbarocke Vierkantbau wie ein Gefängnis wirkt, ist er doch der bedeutendste Profanbau im protestantischen Norden.“ Im Hörsaal 11 sahen wir dann mit qualitätsvollen Alinari-Dias an die Hörsaalwand projiziert Schlüters ungeheures Werk mit seiner fulminanten Außenhautplastik, die Reihung der dickbäuchigen Adler mit ihren weitaufgespannten Flügeln an der Balustrade zur Lustgartenseite, muskulöse Männer-Karyatiden kraftvoll vorspringenden Hofportale tragen, die kühnen Treppenläufe im Inneren, die alles Hergebrachte hintan setzten, den Wendelstein und die Reiterschnecke. Das Schloss erschien unversehrt, obwohl es 1950 durch die DDR-Regierung gesprengt worden ist. In der Kunstgeschichte gilt auch ein verlorenes Bauwerk als immer noch vorhanden. Virtuell besteht es also ewig.
Die Ausstellung im neubarocken Bode-Museum ist zwar zum 300. Todestag des Künstlerarchitekten eingerichtet worden. Doch wollen Präsentation und wissenschaftliche Neubearbeitung von Schlüters Gesamtwerk mit Katalogbuch mehr sein, nämlich das Résumé derjenigen Generation, die sich erfolgreich für die Wiedererrichtung des Schlosses eingesetzt hat. Denn im Jahr 2017 soll es mit der kompletten Außenhaut wieder auf dem Schlossplatz stehen.
Trotz Qualität und vom Veranstalter betriebenem Aufwand gibt es mit dieser Ausstellung Probleme. Sie ist geradezu ein Langweiler. Das Publikum bleibt aus. Dafür sehe ich mehrere Gründe.
Erstens. Ihre streng kunsthistorische Ausrichtung macht sie zum reinen Bildungserlebnis für Kenner. Doch gerade Kennerschaft fehlt uns heute. Gebäude, die der Schlossbaumeister in knapp zwanzig Jahren, von 1694bis zu seiner Entlassung 1706, in der kurfürstlichen Residenzstadt Berlin regelrecht aus dem Boden herausgestampft hat, sind – außer dem Zeughaus – heute allesamt aus dem Stadtbild verschwunden. Neben dem Schloss waren es das Gießhaus, die Alte Post (Palais Wartenberg), die Lange Brücke mit der Reiterfigur des Großen Kurfürsten und die Ministerialvilla Kameke. Sie können in der Ausstellung verständlicherweise nur zweidimensional mit Aufrissen, in Gemälden und Fotos gezeigt werden.
Zweitens. Die Frage, weshalb Schlüter heute kaum bekannt ist, bleibt weitgehend offen. Dass es kein Bildnis von ihm gibt, kein Grabmal und sein Geburtsjahr bis vor kurzen noch zwischen 1659 und 1660 schwankte, sind doch Nebenfragen. Schlüter hat immer auf der Königsebene gearbeitet, für den polnischen König Jan III. Sobieski, für die Könige Friedrich I., dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm I. Letzterer beendete 1713 das Dienstverhältnis mit dem erst 53-jährigen Hofbildhauer. Danach ging er zu Zar Peter I. nach St. Petersburg, wo 1714 er starb. Wir erfahren nichts über die Todesursache. Die russischen Quellen sind immer noch nicht bearbeitet. Diese Königsebene enthält viel Zündstoff, der kaum angedeutet, längst nicht geklärt ist.
Der Zugang zum barocken Berlin ist auch versperrt durch unsere dynastische Unbildung. Es sind nicht nur die uns fremden Kurfürsten von Brandenburg, auch deren Staatsdenken bleibt völlig ausgespart. Hier wäre es ja nur um die langfristigen Absichten des Großen Kurfürsten und seines Nachfolgers gegangen, mitten in Europa ein neues „Königreich in Preußen“ zu errichten, was die Altmächte Frankreich, England und Russland provoziert hat.
Das Scheitern Schlüters hing zusammen mit den forcierten Bemühungen des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelms II. (1620-88) um die Königswürde in Preußen. Um 1700waren die Würfel gefallen. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Leopold I. wird durch den Tod Karl II. in Spanien in den Spanischen Erbfolgekrieg gezogen. Kurfürst Friedrich Wilhelm III. bezahlt ihm diesen Krieg. Im gleichen Jahr erkennt der Kaiser dem Kurfürsten den Titel „König in Preußen“ zu. Eine Überlegung des Kaisers überzeugte damals: Das Herzogtum Preußen gehörte nicht zum Reich. Infolgedessen brauchte sich niemand daran zu stören.
Schlüter sollte für den neuen König Friedrich I. in Preußen eine Königsstadt schaffen. In Windeseile musste sich die Doppelstadt Berlin-Cölln, zwei Nester, die infolge des Dreißigjährigen Kriegs auf 2.000 Einwohner dezimiert worden war, unter den Altmächten sehen lassen können. Zuerst sollte Schlüter die Holzbrücke zwischen Berlin und Cölln durch eine Steinbrücke ersetzen. Dafür war der erste Großbronzeguss bestimmt: das Reiterdenkmal für den Großen Kurfürsten. Zum Problem Kur-Brandenburg und die Königswürde hätte für die Ausstellung der Blick von Historikern einbezogen werden müssen. Ebenso notwendig wäre ein Exkurs über den Calvinismus im Kurfürstentum Brandenburg gewesen. Kunstgeschichte für sich funktioniert heute nicht mehr.
Schlüters Tätigkeit als Baumeister für den Ersten König in Preußen, Kurfürst Friedrich Wilhelm III., musste zwangsläufig in ein Fiasko führen. Der nahezu unübersehbare Auftragsstrudel ist bis heute unentwirrt. Die Ereignisse überstürzen sich. Der Münzturm, eigentlich die Wasserversorgung für den gesamten Schlosskomplex, stürzt vor Erreichen der geplanten Hundertmeterhöhe bei 80 Metern ein. Schlüter hatte auf die ingenieurtechnischen und Sandbodenprobleme hingewiesen. Der König aber duldete keine Widerrede und verlangte unbedingten Gehorsam in der zügigen Ausführung seines Hauptstadt-Projekts. In der ersten Schlüter Biografie von 1937 hat Heinz Ladendorf den Einsturz des Münzturms als zentrale Ursache für Schlüters Scheitern in Berlin gesehen. Bei dieser These einer unzulänglichen Ingenieurkunstleistung von Schlüter verharrt leider auch die Ausstellung.
Überzeugender gelingt die Darstellung des Bildhauers Schlüter. Mit seiner Plastik konnte der gebürtige Danziger um 1700 dem Niveau des europäischen Barock Paroli bieten. Der artifiziellen Raffinesse eines Bernini war ohnehin nichts hinzuzufügen. Und sie gehörte nach Italien. Schlüter kannte die römische und französische Kunst von Dienstreisen und Stichwerken.
Was machte er daraus? Der Mittdreißigjährige mischte diese Hochformen auf mit dem Maß an Brutalität, Derbheit und Einfalt, das er im Kurfürstentum Brandenburg und im Kriegsgeschehen zur Zeit seiner Berufung 1694 vorfand. Im Zeughaus-Hof sind die herausragenden Masken sterbender Krieger erhalten. Schlüter zeigt den Todeskampf vom Körper abgeschlagener Kriegerköpfe, die als Trophäen aufgestockt waren: gefallene Türken vor Wien. Diese Werke, von denen in der Ausstellung nur Nachzeichnungen anderer Künstler gezeigt werden können, sind angeregt vom Sieg über die Türken bei Wien 1683, den der polnische König Johann III. Sobieski unter seinem Feldherrn Prinz Eugen von Savoyen errungen hat. Ein Saalregent ist die herrliche Büste des Landgrafen von Hessen, Prinz von Homburg, dem Kleist ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Schlüter schuf mit dieser Bronzebüste um 1700 ein wild bewegtes Bildnis des Landgrafen, der 1675 bei Fehrbellin die Schweden geschlagen, dabei ein Bein verloren hatte und mit diesem Sieg dem Kurfürsten Friedrich II. zum Titel „Großer Kurfürst“ verhalf. Für ihn schuf Schlüter auch das erste Reiterstandbild in Bronze, das der barocke Norden kennt. Der Standort an der Langen Brücke ging verloren. Die Reiterfigur mit Sockel und gefesselten Sklaven steht heute im Ehrenhof des Charlottenburger Schlosses. Eingequetscht in die Kuppelhalle des Bodemuseum begrüßt den Besucher eine Galvanonachbildung des Reiters mit Sockel. Die in der barocken Todesallergorik schwelgenden reichen Grabmäler des ersten Königspaares Sophie Charlotte und Friedrich I. in Preußen kann man wenige Schritte vom Bode-Museum entfernt im Berliner Dom sehen. In der Ausstellung werden zwanzig Jahre Künstlertum von Schlüter lebendig. Wer sich viel Mühe gibt, kann die Genialität und Lebendigkeit des Künstlers erleben.
SCHLOSS BAU MEISTER. Andreas Schlüter und das barocke Berlin, Bode-Museum Berlin bis 13. Juli, Dienstag bis Sonntag 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr; Katalog: Andreas Schlüter und das barocke Berlin, Hirmer-Verlag, 49,90 Euro.
Schlagwörter: Andreas Schlüter, Barock, Berliner Schloss, Bode-Museum, Ulrike Krenzlin