von Holger Politt, Warschau
Nur wenige Führungsleute im Warschauer Vertrag kannten die politische Mentalität im Kreml wie er. Viele Jahre später, längst war das Verteidigungsbündnis nur noch Geschichte, erklärte Wojciech Jaruzelski mit diesem Wissen das Vorgehen der Sowjetunion in Ungarn 1956 und in der ČSSR 1968. In beiden Fällen sei der Einsatz massiver militärischer Mittel die allerletzte, die nicht gewollte Option gewesen, die schließlich doch gewählt worden sei, weil im Kreml das Gefühl vorherrschte, das unter großen Opfern hergestellte und aufwendig aufrechterhaltene sicherheitspolitische Gleichgewicht gerate außer Kontrolle. Die zu erwartenden negativen internationalen Auswirkungen hätten bei der Entscheidung eine untergeordnete Rolle gespielt, so auch die jeweilige innenpolitische Situation. Man habe sich berechtigt immer stark genug gefühlt, diesen Druck entsprechend lange auszuhalten und vor Ort die genehme Ordnung und Stabilität wiederherzustellen.
Als der General am 13. Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht erklärte, nahm er Moskau alle Möglichkeit, im Nachbarland eine eigentlich nicht gewollte Option doch noch durchsetzen zu müssen. Der naive Betrachter könnte daraus schließen, man habe in Moskau deshalb aufgeatmet, denn die internationale Situation war durch Breshnews Afghanistankrieg – diesen schweren außenpolitischen Fehler – ohnehin bereits sehr zum Nachteil der Sowjetunion ausgeschlagen. Die Aussichten, dort am Hindukusch wenigstens innenpolitisch die Situation bereinigen zu können, waren von Anfang an äußerst gering, nun kam im Herzen Europas Polen hinzu. Jaruzelskis Schritt bedeutete jedoch, dass Moskau die Kontrolloption über die weitere innenpolitische Entwicklung weitgehend verloren hatte – eine Variante wie in der ČSSR nach 1968 war nun ausgeschlossen. Nirgends wurde das so genau registriert wie in der DDR, man ahnte dort, dass die weiteren Entwicklungen in Polen über Sein oder Nichtsein entscheiden würden, eine Ahnung, die zwar nicht trog, aus der aber die falschen Schlüsse gezogen wurden.
Als junger Frontoffizier der polnischen Armee gelangte Jaruzelski im Mai 1945 bis an die Elbe. Seit 1943 hatte er in vorderster Linie an der Ostfront gekämpft, an der acht von zehn gefallenen Wehrmachtsangehörigen ihr Leben ließen. Fortan gehörte er zu jener Generation, die schrittweise die politische Verantwortung für die Volksrepublik Polen und die neuen Grenzen des Landes übernahm. Als hochrangiger Militär, ab April 1968 in der Funktion des Verteidigungsministers, war ihm der Schutz und die Sicherung der Oder-Neiße-Grenze eine der wichtigsten Angelegenheiten. Er hielt den 1945 erfolgten gewaltigen Gebiets- und Bevölkerungsaustausch in der Summe für einen nicht zu unterschätzenden zivilisatorischen Gewinn des Landes, der allerdings mit dem Verlust bestimmter Souveränitätsrechte einherging. Jaruzelski war sich stets bewusst, dass Polen diese Westgrenze der Sowjetunion zu verdanken hat. Moskau garantierte de facto allein deren Unantastbarkeit, daran änderten auch die Verträge mit der DDR 1950 und mit der Bundesrepublik 1970 nicht viel. Als Tatsache, um das zu illustrieren, führte Jaruzelski gerne an, dass bis 1989 kein westliches Land in den vor dem Krieg zu Deutschland gehörenden Gebieten eine konsularische Vertretung eingerichtet, dass kein führender westlicher Politiker bis dahin einen offiziellen Besuch in Wrocław oder Szczecin absolviert hatte.
Nun versuchte der General ab Ende 1981, Polen innenpolitisch zu stabilisieren, was objektiv das Ziel einschloss, die 1944/45 verloren gegangenen Souveränitätsrechte zwar zurückzuverlangen, dabei die territoriale Lage jedoch nicht zu gefährden. Eine Gratwanderung, die letztlich zum Erfolg führte und in Mitteleuropa den Weg zu einem friedlichen Systemwechsel wies, wie ihn die Weltgeschichte bis dahin noch nicht kannte. Alle Nachkriegsgrenzen blieben unangetastet; und die Grenze zwischen den beiden Deutschlands verschwand erst, nachdem alle beteiligten Seiten sie als innere Angelegenheit der Deutschen akzeptieren konnten. Meilensteine auf diesem Weg waren der Runde Tisch in Polen und die dortigen Parlamentswahlen am 4. Juni 1989. Der von General Jaruzelski zu verantwortende Weg verlief vom Kriegsrecht zur vollständigen, restlosen Beseitigung des sowjetisch geprägten Systems in Polen – nicht umgekehrt. Dass dieser schwierige, dornenreiche und widersprüchliche Weg nach dem Kriegsrecht ohne Blutvergießen verlief, bleibt für immer das Verdienst des am 25. Mai 2014 in Warschau verstorbenen Mannes.
Nicht von ungefähr würdigten Lech Wałesa und Aleksander Kwaśniewski, die Jaruzelski nach 1990 auf dem Präsidentenstuhl folgten, den Wegbereiter des Runden Tisches als herausragenden Politiker. Beide taten es aus jeweils eigener, durch unterschiedliche, ja entgegengesetzte Erfahrung geprägter Sicht. Doch die Worte der beiden ändern nichts daran, dass Wojciech Jaruzelski Polens öffentliche Meinung auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten spalten und nicht einen wird. Plätze und Straßen werden nicht nach ihm benannt, ein Denkmal ihm zu Ehren wird auf öffentlichem Platze nicht aufgestellt werden.
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