von Hubert Thielicke
Während die USA und die EU Russland mit weiteren Sanktionen drohen, die EU ihre Krise noch nicht überwunden hat und in Brüssel das Postengeschacher in vollem Gange ist, kam es Ende Mai im Zentrum Eurasiens zu einem bemerkenswerten Schritt. Die Präsidenten von Belarus, Kasachstan und Russland unterschrieben in der kasachischen Hauptstadt Astana den Vertrag über die Eurasische Wirtschaftsunion.
Das Projekt ist nicht neu. Bereits 1994 hatte der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew eine Eurasische Union vorgeschlagen. Die 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion entstandene Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) hatte die ursprünglich in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Sie blieb eine lose Organisation, die auf wirtschaftlichem Gebiet nicht über Freihandelsvereinbarungen hinaus kam. Als Vorstufe zu weiter führenden Integrationsprojekten gründeten Belarus, Kasachstan, Kirgistan, Russland und Tadschikistan im Jahre 2000 in Astana die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG), mit Armenien, Moldawien und der Ukraine als Beobachter.
Am 1. Januar 2010 nahm schließlich die aus Belarus, Kasachstan und Russland als „Integrationskern“ bestehende Zollunion ihre Tätigkeit auf, 2012 begann die Formierung des Einheitlichen Wirtschaftsraums (EWR). Die 2011 von den Präsidenten der „Troika“ unterzeichnete Deklaration über die Schaffung des Einheitlichen Wirtschaftsraums stellt gewissermaßen die „Roadmap“ zur Eurasischen Wirtschaftsunion dar, die schließlich zum Abschluss des EAWU-Vertrages führte.
Das Vertragswerk – 159 Seiten Vertrag und 784 Seiten detaillierte Anlagen – ersetzt die bisher zu Zollunion und EWR vereinbarten Abkommen, stellt somit die rechtliche Grundlage des Integrationsprojektes dar. Es soll am 1. Januar 2015 in Kraft treten und einen gemeinsamen Markt für die freie Bewegung von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskraft schaffen. Vereinbart wurde auch, die Politik in Außenhandel und Makroökonomie abzustimmen. Letzteres betrifft vor allem solche Schlüsselzweige der Wirtschaft wie Energie, Transport, Industrie und Landwirtschaft. Darüber hinaus gibt es Regelungen zu den Finanzmärkten, Steuern, der Währungspolitik, der Migration von Arbeitskräften etc.
Als Grundprinzipien der Organisation werden die souveräne Gleichheit und die territoriale Integrität hervorgehoben. Ersteres findet seinen besonderen Ausdruck in der Zusammensetzung und Entscheidungsfindung der wichtigsten Körperschaften der Organisation. An der Spitze stehen der aus den Staatschefs bestehende Höchste Eurasische Wirtschaftsrat und der Eurasische Interregierungsrat der Ministerpräsidenten. Entscheidungen werden im Konsensus getroffen. Damit soll – zumindest rechtlich – der gewaltige Unterschied zwischen dem bei weitem stärksten Mitglied – der Russischen Föderation – und den anderen Teilnehmerstaaten ausgeglichen werden.
Die bisherige Entwicklung der eurasischen Integration und der Inhalt des neuen Vertragswerkes lassen erkennen, dass man weitgehend die Erfahrungen der EU als des am weitesten entwickelten Integrationsraumes berücksichtigt hat. Das gilt insbesondere für das etappenweise Herangehen: von der Freihandelszone über die Zollunion zum einheitlichen inneren Markt, aber auch hinsichtlich eines supranationalen Organs in Gestalt der 2011 eingesetzten Eurasischen Wirtschaftskommission (EAWK), die auch jetzt als Exekutivorgan der EAWU dient. Sie besteht aus dem Rat mit jeweils einem stellvertretenden Ministerpräsidenten der Teilnehmerstaaten und dem Kollegium aus neun Ministern, die den Fachressorts vorstehen.
Andererseits sind die durch politische, historische und ökonomische Faktoren bedingten Unterschiede zur EU nicht zu übersehen: Beim östlichen Projekt geht es auch um eine Re-Integration, denn der heutige postsowjetische Raum war lange Zeit – Zarenreich und UdSSR – ein einheitlicher volkswirtschaftlicher Komplex mit gemeinsamer Infrastruktur und Staatssprache. Das mag auch ein schnelleres Vorgehen im Integrationsprozess möglich machen. Vermieden werden sollen einige offensichtliche Probleme der EU wie die ausufernde Bürokratie. Dem in Moskau basierten Apparat der EAWK gehören etwa tausend Beamte an. Wert gelegt wird auf den Vorrang der Vertiefung vor der Erweiterung.
Das verdeutlichen die Bestimmungen über die Aufnahme neuer Mitglieder. Die Union ist offen für Staaten, die ihre Ziele und Prinzipien teilen. Der Höchste Rat entscheidet über einen Aufnahmeantrag. Bei Zustimmung wird eine Arbeitsgruppe gebildet, die den Antrag prüft, ein Aktionsprogramm für die Mitgliedschaft erstellt und den Beitrittsvertrag aushandelt. Gerechnet wird derzeit mit dem Beitritt Armeniens im Juni und Kirgistans gegen Ende des Jahres. Zur Überwindung der wirtschaftlichen Probleme des kleinen zentralasiatischen Landes – niedrige Produktivität und hohe Arbeitslosigkeit – gibt es Hilfsprogramme seitens Russlands und Kasachstans. Zu erwarten ist auch der Beitritt Tadschikistans, ebenfalls ein Land mit großen wirtschaftlichen Problemen, zu denen noch die aus der Grenzlage zu Afghanistan resultierenden kommen. Bei diesen Beitrittskandidaten spielen vor allem geopolitische Überlegungen eine Rolle. Das könnte auch für die „abtrünnigen“ Regionen Georgiens, Moldawiens und Aserbeidschans – Abchasien, Südossetien, Transnistrien und Berg-Karabach – gelten. Ein weiteres Moment sind die geplanten Freihandelsabkommen mit den vier EFTA-Staaten Island, Liechtenstein, Norwegen und Schweiz sowie mit Neuseeland, Vietnam, Syrien und anderen. Über Handelspräferenzen wird auch mit Indien und Israel verhandelt; die Kooperation mit China ist ebenfalls im Gespräch.
Aufgrund ihres wirtschaftlichen Potenzials wurde der Ukraine von Anfang an große Bedeutung beigemessen. Bis zur „Orangenen Revolution“ 2004 zeigte sie Interesse an der Integration. Unter Präsident Janukowitsch näherte sie sich der Zollunion an und erhielt 2013 Beobachterstatus. Seine „Schaukelpolitik“ zwischen Zollunion und EU führte schließlich zu den Maidan-Ereignissen, seinem Sturz und der forcierten Annäherung der neuen Kiewer Machthaber an die EU.
Mit der EAWU entsteht eine neue geoökonomische, damit nicht zuletzt auch geopolitische Größe mit etwa 170 Millionen Menschen. Ihre Stärke sind die riesigen Rohstoffressourcen. Immerhin verfügt sie über etwa ein Viertel der entdeckten Bodenschätze sowie ein Fünftel der Erdgas- und 15 Prozent der Erdölvorräte der Erde und ist damit der größte Exporteur von Energierohstoffen. Andererseits liegt sie in puncto Wirtschaftskraft noch weit hinter EU, USA und China zurück. Die industrielle Basis bedarf dringend der Modernisierung und damit nicht zuletzt auch der wirtschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit mit dem Westen, vor allem der EU, die ihr größter Handelspartner ist. Die Integration führte bisher zum Anstieg des Handels innerhalb der „Troika“. In den letzten drei Jahren nahm der gegenseitige Warenaustausch um 50 Prozent zu, wie Präsident Putin in Astana erklärte.
Im Westen vor kurzem noch als „Illusion“ oder „Integrationstheater“ abgetan, wird die EAWU heute eher als ein „Gegenprojekt zur EU“ angesehen. Oft wird sie gar apostrophiert als eine „neue UdSSR unter russischer Dominanz“. Russland ist zwar die überragende Wirtschaftsmacht der Union, was durchaus zu Problemen und Widersprüchen im eurasischen Integrationsprozess führt, von einem Aufleben der alten Sowjetunion kann aber unter den heutigen Bedingungen nicht die Rede sein. So ist die ausschließliche Betonung der wirtschaftlichen Seite auch darauf zurückzuführen, dass Belarus und Kasachstan derzeit nicht zu weitergehenden Schritten in Richtung auf eine politische Eurasische Union bereit sind, eine Tendenz, die nicht zuletzt durch die jüngsten Ereignisse in der Ukraine gefördert wird.
Im Vordergrund stehen die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen. Damit kann die EAWU durchaus zu einer Brücke zwischen der EU und der sich rasant entwickelnden ostasiatischen Wirtschaftsregion werden, beginnend mit Infrastrukturprojekten wie dem „Transeurasischen Gürtel“. Damit würde sich die einzigartige Chance auftun, durch Kooperation zwischen EU und EAWU einen riesigen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok zu etablieren. Umso unverständlicher, dass die EU sich bisher einer direkten Zusammenarbeit mit dem östlichen Integrationsprojekt verweigert und – wie der Fall Ukraine zeigt – eher auf Konfrontation setzt. Mehr noch, wie Erweiterungskommissar Stefan Füle erst jüngst erklärte, solle sich die EU weiter nach Osten ausdehnen, sollten Moldawien, Georgien und die Ukraine EU-Mitglieder werden. Stellt sich nicht nur die Frage, wo die Grenzen Europas liegen, sondern wer die gewaltigen Mittel dafür aufbringen soll, nicht zuletzt angesichts der schon bestehenden finanziellen Probleme der EU.
Schlagwörter: Eurasische Wirtschaftsunion, Geopolitik, Hubert Thielicke, Russland