von Gerd-Rüdiger Hoffmann
In dem von „einem Rheinländer“ verfassten Artikel in der Rheinischen Zeitung vom 25. Oktober 1842 über die Debatten des 6. Rheinischen Landtages über das „Holzdiebstahlgesetz“ ist davon die Rede, dass der Autor jetzt vom Spiel „auf ebener Erde“ berichten werde, nachdem in den vorangegangenen Berichten aus dem Landtag von den „Wirren in Bezug auf die Preßfreiheit und seine Unfreiheit in Bezug auf die Wirren“ gesprochen werden musste. Mit Bezug auf das Thema, „Braunkohle, Demokratie und die Macht der größeren Zahl“, wirken alle Artikel sehr aktuell. Dennoch sind diese Artikel des Rheinländers Karl Marx weitgehend unbekannt. Die Marxsche Frage ist, was die durchaus mühevolle Arbeit von Abgeordneten und Staatsbeamten, in einer Art abgehobener Binnensicht alle Paragraphen so logisch in Beziehung zueinander zu gestalten, dass sie juristisch „wasserdicht“ keine Abweichung von der tradierten und immer wieder neu bestätigten Norm erlauben, mit dem richtigen Leben zu tun hat. Marx plädiert für einen Perspektivenwechsel, weil nur so klar wird, dass es nicht zuerst um eine Verfeinerung des Gesetzes gehen kann, wenn mehr Gerechtigkeit für Betroffene das Ziel ist. Ihm geht es um die Armen, die darauf angewiesen sind, zur eigenen Existenzsicherung Holz im Wald sammeln zu dürfen, ohne zu Straftätern zu werden. Aus der Perspektive der Betroffenen und vom Standpunkt der Vernunft bezweifelt Marx die Allgemeingültigkeit der grundsätzlich als das Positive angenommenen umfassenden und kaum überschaubaren Gesetzeswerke.
Die Kritik folgte sofort und man attestierte ihm mangelnde Detailkenntnisse in technischen wie in juristischen Dingen. Lediglich die Mannheimer Abendzeitung sprach im Februar 1843 von „der wahrhaft bewunderungswürdigen Dialektik, womit der Verfasser sich in die hohlen Aeußerungen der Abgeordneten gleichsam hineinfraß“ und davon, dass „nicht oft … der kritische Verstand in solcher zerstörungslustigen Virtuosität gesehen“ ward.
Diese „bewunderungswürdige Dialektik“ ist der institutionalisierten brandenburgischen Linken in der aktuellen Debatte über Braunkohlentagebaue abhanden gekommen. So mögen sich einige Abgeordnete mit einem schlechten Gewissen herumschlagen. Aber erkennen sie auch das Problem? Nichts passt hier zusammen, wenn wir bedenken, dass DIE LINKE per Wahlprogramm und Parteitagsbeschluss neue Tagebaue ablehnt und sich für die Energiewende vehement einsetzt, auf politischer Ebene der Genehmigung des neuen Tagebaues Welzow-Süd II zustimmt, gleichzeitig den durch Abbaggerung Betroffenen den Rat gibt, doch gegen den Braunkohlenplan zu klagen. Die klima- und energiepolitische Sprecherin der linken Bundestagsfraktion hat Recht, wenn sie von einem Konflikt innerhalb der LINKEN spricht. Doch das ist nicht alles, was zu klären ist. Das Problem ist nicht einmal auf Wortbruch oder auf eventuell notwendiges taktisches Verhalten zu reduzieren. Vielmehr scheint es hier, erinnern wir uns an den Marx-Artikel vom Oktober 1842, im philosophischen Sinne erkenntnistheoretische Defizite zu geben.
Die „Wirren“ im Herangehen zeigen sich, wenn einerseits das globale Problem der stabilen Energieversorgung bemüht wird, um die Notwendigkeit der weiteren Nutzung der Braunkohle als Energieträger zu begründen. Dass damit die beschlossenen Klimaziele des Landes Brandenburg und des Bundes gar nicht zu erreichen sind, spielt dann kaum eine Rolle. Andererseits kommt eine sehr provinzielle Komponente ins Spiel, wenn internationalen Gegnern neuer Tagebaue das Recht abgesprochen wird, sich in die Probleme der Lausitz einzumischen. Wie man gar darauf kommen kann, im Braunkohlekonflikt lediglich ein regionales Problem zu vermuten, weshalb „englischsprachige Kollegen“ unter den Protestierern regelrecht verdächtig sind, wird wohl das Geheimnis des Plüschsofas bleiben, auf dem so etwas ausgedacht wird.
Ein Perspektivenwechsel ist in diesem Punkt mit einem modernen Heimatbegriff möglich. Das mag kein Lieblingsthema linker Bewegung sein, weil Heimat mit Vergangenheit und bloßem Festhalten an Errungenem verbunden ist. Denken wir jedoch an Ernst Bloch und sein „Prinzip Hoffnung“, so wirkt Heimat durchaus modern. Denn für ihn ist Heimat nicht bloß das, was wir im Keller aufbewahren und ab und an zur nostalgischen Erinnerung herausholen. Für ihn ist Heimat stets mit der noch zu schaffenden Zukunft verbunden. Die bundesdeutsche Rechtssprechung konnte sich zwar noch nicht dazu durchringen, das Recht auf Heimat zum einklagbaren Recht zu erheben. Dennoch wird immer stärker angezweifelt, ob es durchzuhalten ist, dass das im Wesentlichen aus dem Jahre 1938 stammende Bergrecht stets höher zu bewerten ist als die zivilgesellschaftliche Norm, Heimat frei zu wählen und nicht wegen wirtschaftlicher Interessen anderer aufgeben zu müssen. Durchaus ambivalent und vielleicht sogar politisch brisant ist es, wenn ein durch Abbaggerung bedrohter ehemaliger Bundeswehroffizier meint, dass er wohl das Recht zur Verteidigung seines Heimatdorfes habe, wo er doch schon einmal angehalten wurde, seine Heimat am Hindukusch zu verteidigen.
Auf die sachliche Ebene gebracht heißt das, dass es doch nicht legitim sein darf, wenn eine nicht betroffene Mehrheit über die Existenz einer stark betroffenen Minderheit beschließen will. Adrian Rinnert, mit seiner alternativen Wohngemeinschaft am Rande des Tagebaues Nochten vom Bergbau bedroht, bringt es auf den Punkt mit dem Satz: „Du wirst abgebaggert und ich bin dafür!“ Ein Perspektivenwechsel, also das Problem aus der Sicht der Bedrohten zu betrachten, dürfte helfen, eine menschliche Sicht zu ermöglichen, von den Kriterien profitorientierter Energiegewinnung wegzukommen.
Im demokratischen Spektrum um Macht und Einfluss ringende Parteien sind auf Mehrheiten angewiesen. Jedoch neue Ideen sind selten sofort bei Mehrheiten entstanden. Gegenwärtig zeigt sich, dass echte Alternativen sowie die Bereitschaft, auch die Interessen der Bergleute ernst zu nehmen, eine große Rolle bei den Tagebaugegnern spielen. Mit dem Nein der Linken im brandenburgischen Kabinett, sogar allein mit dem Nein der Umweltministerin, hätte dieser Protest Ermutigung erfahren. Wer genau hinsieht, weiß, dass es sich dabei nicht um ein plattes Dagegen handelt, sondern die Grundlage des Protestes immer stärker eine „wissende Unzufriedenheit“ (Bloch) bildet, die Alternativen aufzeigt und nicht selten in „wahrhaft bewunderungswürdiger Dialektik“ Lokales und Internationales als komplizierte Einheit begreift.
Der Hinweis, dass doch bei den letzten Kommunalwahlen eine Mehrheit im Revier die Braunkohlebefürworterpartei SPD gewählt habe, damit die Frage nach der Akzeptanz neuer Tagebaue geklärt sei, hat einen regelrecht zynischen Zug. Besonders schlimm ist es, wenn von dieser Haltung die wendische Minderheit wie in Proschim (Prožym) betroffen ist. Kein Bürgerrechtler auf internationaler Ebene versteht, warum das Verfassungsrecht auf Schutz und Förderung des Wendischen in Deutschland durch die Macht der größeren Zahl außer Kraft gesetzt werden darf. Der Perspektivenwechsel hat jedoch nicht bloß die sehr wichtige moralische Komponente, sondern ebenfalls einen heuristischen, erkenntnistheoretischen, Wert. Exemplarisch steht dafür das Dorf Proschim (Prožym). Das Land Brandenburg läuft nämlich Gefahr, eine Provinzposse mit kulturpolitischer und ökonomischer Brisanz zu produzieren, wenn tatsächlich dieses Dorf wegen eines neuen Tagebaues abgebaggert wird. Dann würde ein Dorf verschwinden, dass sich komplett mit erneuerbaren Energien, selbstverständlich CO2-frei, versorgt und wo es gelungen ist, auch darüber hinaus regionale Wirtschaftskreisläufe zu etablieren. Ein Dorf, das lokal verwirklicht hat, was landesweit als mittel- beziehungsweise langfristige Aufgabe steht, würde zugunsten der technologisch, sozial und ökologisch überholten Braunkohlenverstromung vernichtet werden. Eine Energiepolitik des Gestern würde über ein Dorf, das für Tradition und Zukunft steht, den Sieg davon tragen dürfen. Damit im Zusammenhang steht auch die Frage, wie Partikularinteressen eines Konzerns zu Allgemeininteressen werden können. Und es stellt sich andererseits die Frage, wieso Interessen der Minderheiten als Partikularinteressen denunziert werden. Wer aus dieser Perspektive die Probleme betrachtet, kann erkennen, um welche Interessen es eigentlich geht.
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