17. Jahrgang | Nummer 11 | 26. Mai 2014

Goethes „Faust“ in Delaware

von Charles H. Helmetag

Unlängst hatte Goethes „Faust“ in einer das Publikum begeisternden Inszenierung von Heinz-Uwe Haus am Repertory Ensemble Players (REP) in Delaware Premiere. Das Stück beginnt bekanntlich mit einem Vorspiel auf dem Theater und einem Prolog im Himmel. Im Vorspiel auf dem Theater verlangt der Dichter das Recht, „Kunst rein“ auf die Bühne zu bringen, während der Theaterdirektor darauf besteht, dass „die Menge staunend gaffen“ soll. Haus gelingt es, diesen Widerspruch für einen unterhaltungsreichen Theaterabend zu Wirkung zu bringen. Das Ensemble von zwölf Darstellern verwandelt sich atemberaubend durch immer wieder neue Masken, Kostümwechsel und Lichteffekte in Goethes Figuren. In keinem Moment werden die Kraft, Leidenschaft und Schönheit des Stücks durch „Philosophie“ überlagert und beeinträchtigt, sondern in ihrer Dialektik gegen gewohnheitsmäßige Wirkungen behauptet und ausgespielt.
Der historische Doktor Faust lebte im 16. Jahrhundert, als das Mittelalter zu Ende ging. Es heißt, er habe seine magischen Kräfte durch einen Pakt mit dem Teufel erworben. Welche Bedeutung hat diese Geschichte für unsere Zeit, in der ebenfalls nicht deutlich ist, um welchen Preis wir uns den technologischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt erkaufen? Die Inszenierung setzt auf den tragischen Konflikt, dass sich Faust bei der Verwirklichung seiner humanistischen Ideale der Kraft des Teufels bedienen muss. In Brechtscher Weise bringt sie die abgebildeten Vorgänge „in die Krise“, indem Seh- und Hörgewohnheiten infrage gestellt werden.
Der Herr erscheint im Prolog im Himmel wie die alten Maler ihn schilderten: ein vornehmer Greis im weißen Gewand mit langem Bart. Er wächst in die Höhe wie der Baum in Tschaikowskis „Nußknacker“. Gegenüber seinem nihilistischen Herausforderer Mephisto stellt er Faust als Exempel auf: An ihm soll gezeigt werden, wie die Menschheit für sich selbst einstehen kann. Mit dieser Gewissheit fliegt er in den (Bühnen-)Himmel und setzt Faust Mephisto aus. In der Inszenierung schweben auch andere Figuren durch die Luft (Hexen und Teufel) und Rosse, Reiter und allerlei Getier bevölkern die Bühne, was dem Aberglauben der Zeit des historischen Faust entspricht und auch heute dem Theaterzauber dient.
Der Gelehrte Faust, seines bisherigen Lebens überdrüssig und dabei, am Ostersonntagmorgen Selbstmord vorzubereiten, wird durch den Klang der Kirchenglocken ins Leben zurück gerissen. Dorfbewohner singen die „Loreley“ und erwecken Kindheitserinnerungen in Faust, doch dieser bleibt schmerzlicher Beobachter: Wo sie tanzen, träumt er vom Fliegen und schon ist die Rebellion, der Protest wieder da. Der Pudel, der sich als Mephisto entpuppt, hat leichtes Spiel mit dem gescheiterten Magier.
Im Osterspaziergang führt Haus ein großes weißen Tuch als Requisit ein, das als Fluss, als Falle, als Ausdruck von Gefühlen oder als Leichentuch fungieren kann. Ein großes rotes Tuch dient als Zaubermantel, auf dem Mephisto mit Faust zu Auerbachs Keller fliegt, und verbirgt später die Obszönitäten der Walpurgisnacht. Ältere Theaterbesucher aus Berlin, Bautzen, Weimar und Rostock erinnern sich vielleicht noch an Haus’ legendären „Joaquin Murieta“ (Pablo Neruda) in Bautzen oder „Pericles“, die DDR-Erstaufführung 1979 zu den Shakespeare-Tagen in Weimar, oder an „Untergang des Zentauren“ (Víctor Carvajal) mit dem Teatro Lautaro, eine Aufführung, die ich während der Brecht-Tage in Berlin Anfang der 80er sah. In all diesen Inszenierungen faszinierte das Vermögen des Regisseurs mit wenigen Tüchern, Requisiten und Masken die Phantasie des Publikums zum Ausgangspunkt seiner erzählerischen Theatralik zu wählen.
Mephisto, unauffällig dunkel gekleidet, trägt eine Mütze, die gewendet zum Kopf eines schwarzen Pudels wird. Tiere tauchen öfter in dieser Inszenierung auf, um die volkstümlichen mittelalterlichen Wurzeln Mephistos zu betonen. Wenn Faust versucht, ihn in einem Pentagramm einzufangen, erscheinen zum Beispiel Ratten, die das Pentagramm weg nagen, sodass Mephisto Fausts Studierzimmer verlassen kann; Affen dienen in der Hexenküche, in der Faust verjüngt wird. Zwar erwähnt Goethe all diese Tiere, aber die Magie des Theaters schlägt die Zuschauer derart in den Bann, dass sie beinahe glauben müssen, Mephisto sei imstande, sie heraufzubeschwören (Choreographie: Joann Browning).
In Goethes „Faust“ hat Mephisto eine Doppelfunktion als phantastische und höchst irdische Gestalt. Haus’ Inszenierung unterstreicht, wie er mit einem Fuß im Mittelalter und einem im 21. Jahrhundert agiert. Mic Matarrese erinnert in dieser Rolle an einen Brechtschen Erzähler, da er gelegentlich direkt ans Publikum spricht, den Verlauf der Fabel kommentiert oder Szenen annonciert. Ein klassischer „Brecht-Vorhang“ zwischen den Szenen betont, dass hier Theater gespielt wird. Mit seinen magischen Tricks, seiner Pyrotechnik, seinem Charme und seinem Witz verführt dieser Mephisto nicht nur Faust, sondern auch uns, die Zuschauer.
Am Anfang der Handlung ist Faust der einsame Intellektuelle. Mephisto führt ihn aus seiner Isolation in die Welt hinaus und der Kern dieser Welt wird Gretchen. In der Sinnlichkeit wird Schönheit gesucht, im Genuss Produktivität, in Gretchen die Welt. So sicher Faust damit Mephisto entgleitet, so sicher treibt ihn die unausweichliche Katastrophe in dessen Arme zurück. Doch wie in dieser Inszenierung Gretchens Verhalten abgebildet wird, ist überraschend und provokativ neu. Gretchen bricht unbedrängt von Faust aus ihrer Welt enger Konventionen aus. Ihre große freie Entscheidung ist ihre Hingabe an Faust nach dem Religionsgespräch. Sie schläft nicht nur mit einem Mann vor der Ehe, sondern mit einem Mann außerhalb aller Gesetze ihrer Welt, nicht fragend nach Kirche, Ordnung und Sicherheit.
Haus gelingt es im Gartenhaus, eine der sinnlichsten Liebesszenen zu entfalten. Wieder kommt den beiden die „Loreley“ in den Sinn: „Ich weiß nicht, was soll das bedeuten“. Gretchen verbirgt sich in dem weißen Tuch, das die Liebenden sich in Wogen und Wolken verlieren lässt. Befreit von aller Spießermoral tanzt Gretchen mit Faust, zieht ihn an sich und küsst ihn. Dann singt das Ensemble “Let It Be” von den Beatles. Das Ende ist bekannt: die Normen und Institutionen fallen über Gretchen her, ihre Familie geht zugrunde. Gretchen unterwirft sich dem Verdikt der Welt, aus der sie ausbrach, aber aus dem Himmel ertönt am Ende die Stimme Gottes: „Ist gerettet!“
Auch Faust, in rasender Verzweiflung, hört das Vermächtnis: Wir heißen Euch hoffen! Mephisto ist am Ende zum Bodyguard geschrumpft, der den vernichteten Faust nur noch davonschleppen kann. Genugtuung den Zuschauern!
In einem Brief am 20. Juli 1831 schrieb Goethe, dass er jahrelang mit dem Stoff zu Faust II als ein „inneres Märchen“ umgegangen war. In seinem Buch „The Uses of Enchantment“ (deutsch 1977: „Kinder brauchen Märchen“) beschrieb Bruno Bettelheim das Märchen als eine Geschichte, die auf eine besondere Weise die Wahrheit ausdrückt, als eine Geschichte, die etwas Traumhaftes an sich hat. Haus hatte diese Auffassung des Märchens im Sinn, als er „Faust“ bearbeitete und inszenierte. Er benutzt drei Übertragungen: Howard Brentons poetische Bearbeitung für das Royal Shakespeare Theatre, Robert Davis MacDonalds Einrichtung für Citizens Company Glasgow und Walter Kaufmanns Übersetzung. So entstand ein Text, der nicht an den Leser, sondern an den Schauspieler gerichtet ist, in einer Sprache, die mit ihrer Poesie unterhält und überzeugt.
In seiner Inszenierung betont Haus das Visuelle sowie die populär-theatralischen Wurzeln Fausts und Mephistos. Das Stück ist auf knapp zweieinhalb Stunden Spielzeit reduziert worden. Der Abend aber scheint in noch weit kürzerer Zeit vorbei zu gehen. Mit Feuer und Magie, mit Engeln, Affen und Ratten, mit den wunderbaren Kostümen von Andrea Barrier, mit fliegenden Schauspielern und einem verdammt charmanten Teufel ist diese Inszenierung in dem von William Browning eingerichteten Bühnenraum ein Schauspiel, ein Spektakel im wahrsten Sinn: produktiv, phantasievoll und lebendig.