von Karsten D. Voigt
Der Westen im Allgemeinen und die Bundesregierung im Besonderen hätten sich in den vergangenen Jahren mehr um eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit Russland bemühen sollen. Dieses Versäumnis wollten die Sozialdemokraten bei ihrem Regierungseintritt korrigieren: In Anknüpfung an das von ihm entwickelte Konzept der Modernisierungspartnerschaft wollte Außenminister Steinmeier gleich zu Beginn seiner Amtszeit entsprechende Initiativen entwickeln. Die kooperative Absicht bleibt auch nach der Annexion der Krim bestehen: Voraussetzung ist allerdings, Russland kehrt zu den weltweit gültigen völkerrechtlichen Normen zurück und orientiert sich darüber hinaus wieder an den spezifisch europäischen Normen und Regeln, die in Europa seit dem Beginn der Entspannungspolitik vereinbart wurden. Die Verletzung der in zahlreichen bilateralen und multilateralen Vereinbarungen festgelegten Normen und Regeln sind ein Angriff auf die politischen Konzepte für eine europäische Friedensordnung, für die Sozialdemokraten seit dem Beginn der Entspannungspolitik gekämpft haben.
Wer eine stabile Friedensordnung in Europa will, muss legitime Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen. Gleichermaßen muss Russland aber die legitimen Sicherheitsinteressen seiner kleineren Nachbarn respektieren. Schritte in Richtung auf eine europäische Friedensordnung sind nur dann realistisch, wenn sie nicht nur den Interessen einiger größerer Staaten, sondern auch denen der meisten kleineren Staaten entsprechen. Natürlich haben größere Staaten mehr Einfluss als kleinere Staaten. Die Erinnerung an Bedrohung und Dominanz ist in der Regel in kleineren Staaten noch lebendiger als in größeren Staaten. Deshalb sind größere Staaten gut beraten, wenn sie mit den historischen Erinnerungen und Mythen ihrer kleineren Nachbarn konstruktiv umgehen. Der Dialog zwischen polnischen und russischen Historikern war ein erfreulicher Schritt in diese Richtung. Wenn Präsident Putin den Schutz russischer und russisch-sprachiger Minderheiten zum wichtigen Ziel seiner Außenpolitik erklärt und dabei die Anwendung militärischer Gewalt nicht ausschließt, dann sehen mehrere Nachbarstaaten Russlands in dieser Außenpolitik eine Bedrohung ihrer staatlichen Integrität. Alte Ängste und Erinnerungen werden wieder wach. Und diese Sorge ist nicht Ergebnis westlicher Propaganda und amerikanischen Drucks, sondern russischen Handelns.
Die USA und die EU haben zum Teil schwerwiegende Fehler im Umgang mit Russland gemacht. Aber die Veränderungen in der russischen Außen- und Europapolitik sind die entscheidende Ursache für die gegenwärtige Krise. Sie ist die schwerste Krise in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges. Sie hat dazu geführt, dass die meisten seiner Nachbarn Russland erneut mit Vorbehalten und Ängsten begegnen. Mein Ziel bleibt eine europäische Sicherheitsordnung mit Russland. Aber die Politik der russischen Regierung hat dazu geführt, dass für die meisten der Nachbarn Russlands die Sicherheit vor Russland wieder aktuell geworden ist.
Die SPD ist immer für enge vertragliche Beziehungen zwischen Russland und der EU eingetreten. Dieses Ziel bleibt. Russland wandte sich gegen eine NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine. Die deutsche Politik hat diesen russischen Bedenken insofern Rechnung getragen, als sie sich für entsprechende Verträge mit der EU, nicht aber für eine weitere Osterweiterung der NATO eingesetzt hat. Seit einiger Zeit aber wendet sich Russland nicht nur gegen die Osterweiterung der NATO. Es versucht jetzt auch die geplanten Assoziationsverträge der EU mit früheren sowjetischen Republiken zu verhindern.
Russland hat seine Politik geändert: Für Russland steht nicht mehr der Ausbau vertraglicher Beziehungen mit der EU, sondern ein eigenes Integrationsprojekt, die Zollunion und die Eurasische Union, im Vordergrund. Russland sieht in einer Assoziation Georgiens, Moldawiens und der Ukraine eine Gefährdung dieser vor allem geostrategisch motivierten Projekte. Die EU wendet sich nicht gegen eine enge Kooperation der Ukraine mit Russland, der Zollunion und der geplanten Eurasischen Union. Im Gegenteil. Nach Auffassung der EU lässt sich aber eine Vollmitgliedschaft in der Zollunion mit den Bestimmungen der Assoziationsverträge nicht vereinbaren. Die SPD wird sich, sobald die gegenwärtige Krise überwunden sein wird, erneut für ein kooperatives Verhältnis zwischen der EU, der Zollunion und der geplanten Eurasischen Union einsetzen. Hierzu gehört auch ein möglichst kooperatives Verhältnis zwischen Russland und den künftig mit der EU assoziierten Staaten Georgien, Moldawien und Ukraine.
Die Regierungen dieser Staaten streben – unterstützt von der Mehrheit der jeweiligen Bevölkerung seit Jahren eine möglichst enge Beziehung zur EU an. Viele ihrer Bürger sehen in einem Assoziationsvertrag mit der EU sogar nur einen Zwischenschritt zu einer Vollmitgliedschaft in der EU. Die Perspektive einer Vollmitgliedschaft verweigert ihnen bisher die EU. Georgien, Moldawien und der Ukraine wegen der Einwände Russlands die Assoziierung mit der EU zu verweigern, würde bedeuten, die Ziele und Interessen dieser Staaten und der Mehrheit ihrer Bevölkerung zu missachten. Die Missachtung grundlegender Interessen und Ziele der kleineren Nachbarn Russlands ist keine geeignete Grundlage für eine stabile Partnerschaft mit Russland. Deutschland wird die Bereitschaft zur Kooperation mit Russland nur vergrößern können, wenn es gleichzeitig die kleineren Nachbarn Russlands gegen Drohungen und überzogene Kritik in Schutz nimmt.
Eine deutsche Russlandpolitik über die Köpfe der westlichen Nachbarn Russlands und der östlichen Nachbarn Deutschlands hinweg, würde alte Ängste wiederbeleben und Ursache neuer Spannungen werden. Diese Einsicht gilt nach der Wiedervereinigung noch mehr als zu Zeiten des Kalten Krieges. Wenn Russland meint, zu einer Großmachtpolitik im Sinne des 19. Jahrhunderts zurückkehren zu wollen, dann wird es im Europa des 21. Jahrhunderts wieder kalt werden. Deutschland würde sich an einem „Konzert der Mächte“, bei denen größere Staaten über das Schicksal kleinerer Staaten entscheiden, nicht beteiligen. Im Interesse Europas und im Interesse guter deutsch-russischer Beziehungen ist zu hoffen, dass Russland seine Politik wieder an den in den letzten Jahrzehnten vereinbarten europäischen Normen und Regeln orientiert. Dann aber kann und sollte mit ihm intensiv über seinen legitimen Platz in der europäischen Ordnung verhandelt werden.
Schlagwörter: Außenpolitik, Friedensordnung, Karsten D. Voigt, Russland, Sicherheitspolitik, SPD