von Wolfgang Brauer
Anfang der achtziger Jahre steckte mir die Schriftstellerin Trude Richter (1899 – 1989) mit verschwörerischer Miene ein dickes Typoskript zu: „Das ist der zweite Band meiner Erinnerungen. Lies, aber gib es nicht weiter!“ Das Buch konnte erst 1990 unter dem Titel „Totgesagt“ im Mitteldeutschen Verlag erscheinen. Es beschreibt den Leidensweg der deutschen Kommunistin und ihres Mannes Hans Günther – dessen Schrift „Der Herren eigener Geist“ über die NS-Ideologie auf den Tischen der Delegierten des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale lag – in und durch den GULAG. Günther starb 1938 wahrscheinlich an Typhus in einem Lager in Wladiwostok. Trude Richter wurde erst 1953 aus der Haft entlassen. Nach Deutschland ließ man sie erst 1956 zurückkehren. Die Lektüre war ein schockierendes Erlebnis, bestätigte sie doch, was ich von Alexander Solschenizyn kannte und bei ihm heftig anzweifelte. Auf Nachfragen bescheinigte mir Trude nur: „Was willst Du. Besser ein Stahlin als ein Alumin!“
Da war sie, die große Selbsttäuschung der sowjetgläubigen Kommunisten, die sie in letzter Konsequenz dazu brachte, das Unmöglichste zu „gestehen“: Die Genossen können sich doch nur geirrt haben. Ich darf der Partei nicht schaden. Das nützt doch nur dem Feind…
Arthur Koestler führt dieses Grundmuster „revolutionärer Prinzipienfestigkeit“ bis in den Tod hinein in der Figur des N. S. Rubaschow in seinem Roman „Sonnenfinsternis“ vor. Letztendlich wird bei Koestler das Phänomen Stalinismus auf Stalins Entartungen selbst zurückgeführt. „Genosse Stalin hat dadurch, daß er Generalsekretär geworden ist, eine unermeßliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, daß er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen.“ Das ist der Befund Lenins, dessen berühmtes „politisches Testament“ aus dem Jahre 1923. Damit lässt sich manches erklären, die selbstmörderische, Millionen Opfer kostende Verfolgungswut der Jahre zwischen „Kollektivierung“ und „Ärzteprozessen“ nicht.
An die Seite Rubaschows gehört Artem Makejew gestellt. Eine der vielen Gestalten, die im Roman Victor Serges „Der Fall Tulajew“ zwischen die Räder des Stalinschen Terrorapparates geraten. Der ehemalige Mushik Makejew überlebte Krieg und Bürgerkrieg. Makejew, kein großes Geisteslicht, machte Schritt für Schritt Karriere, stieg zum Sekretär des Regionalkomitees auf und betrieb „energisch“ die „Säuberungen in Partei und Verwaltung“: „Ich führe die Weisungen der Partei aus, das ist alles.“ Seine Skrupellosigkeit nutzt ihm ebensowenig wie dem GPU-Oberkommissar Maxim A. Erschow die langjährige Henkerstätigkeit im Dienste des „Chefs“ (der Name Stalin, im Roman allgegenwärtig, wird nicht genannt).
Auslöser für die von Serge beschriebene Verfolgungswelle ist ein Attentat, das der U-Bahnbauarbeiter Kostja eher zufällig auf den Obersten Tulajew, einen blutigen Vasallen des „Chefs“, verübt. Die Einzeltat eines Unbekannten? Nach kurzer Zeit sind davon auch die Ermittler der GPU überzeugt – aber was nicht sein darf, das nicht sein kann. Ein „Komplott“ muss her, binnen dreier Tage erfolgen sechsunddreißig Verhaftungen, am sechzehnten Tag der „Untersuchungen“ umfasst die Liste der „des Terrorismus Verdächtigen“ bereits eintausendsiebenhundert Namen.
Victor Serge führt vor, mit welch gnadenloser Präzision die Maschinerie dieses Verfolgungsapparates abläuft. Wer einmal von ihm erfasst wird, den gibt dieser Moloch nicht mehr frei. Am Ende trifft es selbst die graue Eminenz des Politbüros Popow. Das ist der, vor dem alle Angst haben. Popow stolpert darüber, dass sich ausgerechnet seine Tochter Xenia für einen der Verfolgten einsetzt. Wenn in diesem Buch des Grauens Hoffnungsschimmer aufleuchten – dann ist es die voller Verzweiflung aufbrechende Menschlichkeit Xenias, dann ist es das Schicksal des Zufallsattentäters Kostja, dann ist es der alte Revolutionär Rischik, der sich auf eine sehr eigene Weise dem ihm zugedachten Schauprozess entzieht. Empathie wird ansonsten vom Erzähler absichtsvoll vermieden. Er führt vor, wie – um Majakowskis „Linken Marsch“ zu persiflieren – Zukunft zu Schande geritten wird.
Der Autor bedient kein klassisches Romanmuster. Er erzählt eher nach dem Simultanprinzip einzelne Biographien parallel – vergleichbar dem Ziehen einer Vielzahl von einzelnen Fäden aus den Kokons der Seidenraupe. Gebündelt entsteht ein starker, kaum zerreißbarer Strang. Serges Geschichte ist ein solcher Faden, der sich um den Leser wickelt und ihn nicht mehr los lässt. Sicherlich hat das auch mit dem biografischen Hintergrund des Autoren zu tun. Der kannte das, worüber er schrieb. Hinter dem Pseudonym Victor Serge steckt der russische Schriftsteller und Revolutionär Viktor Lvovič Kibalčič (1890 – 1947). Er gehörte in den 1920er Jahren zur „Linken Opposition“ um Leo Trotzki, wurde deswegen 1927 aus der Partei ausgeschlossen und 1933 für drei Jahre nach Orenburg im Ural verbannt. Aufgrund einer internationalen Solidaritätskampagne, in der auch Romain Rolland seine Stimme erhob, konnte er noch 1936 die Sowjetunion verlassen. Das rettete ihm wohl das Leben. Exil fand Serge in Frankreich, während des Krieges konnte er mit seiner Familie nach Mexiko flüchten.
Sein Buch „Der Fall Tulajew“, im Untertitel nennt er ihn „einen Revolutionsroman“, wurde erst ein Jahr nach seinem Tod veröffentlicht. Der deutsche Titel „Die große Ernüchterung“ führt in die Irre. Serge geht es nicht um „Ernüchterung“ – an der Notwendigkeit einer revolutionären Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse zweifelt er nicht. Er stellt aber die Existenzberechtigung von Verhältnissen in Frage, die das genaue Gegenteil des den „arbeitenden Massen“ versprochenen Glückes bedeuten. Sein Roman – der Autor warnt eindringlich davor, das Buch als Werk „des Geschichtsschreibers“ zu lesen – vermag Antworten zu geben, zu denen die Historiographie noch nicht in der Lage ist. Mir hätte er seinerzeit geholfen, Trude Richters Aufzeichnungen besser zu verstehen. In der DDR war Serge allerdings ebenso wie Arthur Koestler, Gustav Regler und viele andere eine Unperson.
Der Zürcher Unionsverlag brachte dieses so wichtige Buch jetzt in einer Taschenbuch-Ausgabe heraus. Die Übersetzung von N. O. Scarpi ist streckenweise etwas holprig, das nimmt dem Text aber wenig von seiner atemberaubenden Dramatik. Da der Verlag die 2012 erschienene Fassung der Büchergilde übernahm, wird die Edition von einem Vorwort Walter Laqueurs aus dem Jahre 2003 eingeleitet. Auf dieses hätte man verzichten sollen.
Victor Serge: Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew, Unionsverlag, Zürich 2014, 512 Seiten, 13,95 Euro.
Schlagwörter: Arthur Koestler, Stalinismus, Trude Richter, Victor Serge, Wolfgang Brauer