von Arthur Koestler
„Die ungläubigen Epochen sind die
Wiegen neuer Aberglauben.“
Amiel
I.
Newton schrieb nicht nur die „Principia“, sondern auch eine Abhandlung über die Topographie der Hölle. Bis zum heutigen Tag glauben wir Dinge, die nicht nur mit feststellbaren Tatsachen unvereinbar sind, sondern auch mit Tatsachen, die wir selbst festgestellt haben. Der heiße Dampf des Glaubens und der Eisblock der Vernunft befinden sich mit- und nebeneinander in unseren Schädeln, aber in der Regel stehen sie in keiner Wechselwirkung. Der Dampf schlägt sich nicht nieder und das Eis schmilzt nicht. Der menschliche Geist ist im Grunde schizophren und in mindestens zwei Ebenen gespalten, die sich gegenseitig ausschließen. Der Hauptunterschied zwischen der krankhaften und der normalen Schizophrenie liegt darin, daß die irrationale Komponente bei der ersteren ein isolierter Einzelfall ist, im Gegensatz zu der massenweise auftretenden Irrationalität der normalen. Typische Beispiele sozial gebilligter Bewußtseinsspaltungen sind: der Astronom, der sowohl an seine Instrumente wie an das christliche Dogma glaubt; ein Armeegeistlicher; ein Kommunist, der die „proletarischen Millionäre“ akzeptiert; der Psychoanalytiker, der heiratet; der Determinist, der seine Gegner beschimpft. Der Urmensch weiß, daß sein Götze ein Stück geschnitztes Holz ist, und doch glaubt er an seine Macht, regnen zu lassen; und obwohl unsere Glaubensinhalte eine allmähliche Verfeinerung erfuhren, blieb doch die gespaltene Form unseres Geistes im Grunde unverändert.
Die Anthropologie und die Psychologie sind sich in den letzten fünfzig Jahren in den Ergebnissen näher gekommen. Lévy-Bruehl bewies, daß die Geistesart der Primitiven prälogisch ist; die kantischen Kategorien von Raum und Zeit und Kausalität existieren nicht in dem primitiven Bewußtsein. Dieses ist nicht durch formale Vernunft, sondern durch fertige und feststehende Glaubensinhalte bestimmt. Freud hat die gefühlsmäßigen Wurzeln der Gedanken aufgezeigt und sie verfolgt bis hinunter zu Totem und Tabu; Jung zeigte, daß gewisse „archaische“ oder „archetypische“ Bilder und Vorstellungen das kollektive Eigentum unserer Rasse sind. Selbst die moderne Philologie kam mehr oder weniger unabhängig zu denselben Ergebnissen; Ogden und Richards wiesen den gefühlsmäßigen Fetischcharter von Worten und tautologischen Feststellungen nach. Die Wissenschaft hat schließlich einen Stand erreicht, der so rational geworden ist, daß sie in der Lage ist, die Irrationalität des normalen Funktionierens des Geistes zu erkennen.
Die Wissenschaft, welche bis heute am wenigsten von diesem Ergebnis berührt wurde, ist die Politik. Der letzte Grund für den Fehlschlag der Zweiten, Dritten und Vierten Internationale und des internationalen Sozialismus im allgemeinen ist ihre Außerachtlassung des irrationalen Faktors im menschlichen Geist. Die sozialistische Lehre und die Propaganda der Linken beruhten auf der Annahme, daß der Mensch ein vernünftiges Wesen sei, das nur verlangt, mit logischen Gründen, mit Abendkursen, mit Druckschriften, mit Volksausgaben davon überzeugt zu werden, welches seine wahren Interessen seien und wie es diesen Interessen entsprechend zu handeln habe. Das Unterbewußte, die ältere Hälfte des Gehirns, die Urformen, die Traumwelt, die Drüsen, das autonome Nervensystem, das Es, das heißt neunzig Prozent von dem, was den wirklichen Homo sapiens ausmacht, blieb aus dem Bilde weg. Daher das totale Unvermögen der Linken, die Erscheinung des Faschismus zu analysieren und zu erkennen und ihr zu begegnen, daher ihr sich selbst täuschender flacher Optimismus sogar noch an dem Rande des gegenwärtigen Abgrunds.
II.
Dieses Versagen der Linken kann nicht mit dem individuellen Versagen ihrer Führer erklärt werden. Die Wurzeln liegen viel tiefer. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten revolutionäre Bewegungen entweder eine religiöse Basis oder mindestens starke religiöse Bindungen. Sie befriedigten sowohl den rationalen Wunsch nach einem besseren Leben, wie die irrationale Sehnsucht nach dem Absoluten. Mit anderen Worten: Sie waren gefühlsmäßig gesättigte Bewegungen. Hierin brachte die Französische Revolution eine radikale Änderung. Die Reformation hatte die korrupte päpstliche Geistlichkeit im Namen Gottes angegriffen. Ihr weltlicher Kampf ließ die Gottheit unberührt. Die Französische Revolution war ein Frontalangriff nicht nur gegen die Geistlichkeit, sondern gegen Gott. Robespierres Versuch, einen synthetischen Ersatz in der „Göttin der Vernunft“ zu schaffen, war ein Fiasko. Glücklicherweise setzten sich andere absolute Größen an ihre Stelle: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ war nicht nur ein Schlagwort, sondern ein Fetisch; dies waren auch die Trikolore und die Phrygische Mütze. Die römische Tradition – Konsuln, Patrioten, der neue Kalender usw. – schufen die Mythologie eines neuen Kults. Die Kirche als das weltliche Instrument der Gottheit wurde überlagert von dem Vaterland als dem Instrument für die Verbreitung des Neuen Testaments der Menschenrechte. Die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung enthält die Worte: „Wir halten die Wahrheit, daß alle Menschen gleich geschaffen sind, für unmittelbar gewiß (self-evident).“ Die Betonung liegt auf „self-evident“; es ist das Schlüsselwort für einen axiomatischen Glauben, für eine Offenbarung jenseits des Bereichs der logischen Vernunft.
Aber der direkte gefühlsmäßige Appell an die neuen Gottheiten war von kurzer Wirksamkeit; er verbrauchte sich in weniger als einem Jahrhundert, verglichen mit den beinahe zwei Jahrtausenden des christlichen Mythos. Die Gründe liegen zutage. Der Mythos und der Ritus des Christentums hatten eine ununterbrochene Ahnenreihe über Judäa, Sumeria, Babylon zum neolithischen Menschen, zu Magie und Animismus. Ihre Wurzeln lagen in den tiefsten Urgeschichten des Unterberwußten. Aber die Grundsätze von 1789 waren ein Produkt bewußter Vernunft. Für eine kurze Zeit waren sie imstande, das plötzliche Vakuum auszufüllen und in Ermangelung von besserem als Idole zu dienen. Aber sie waren keiner Personifizierung fähig; sie waren keine Projektionsfläche für die Sehnsucht des Menschen nach dem Absoluten. Sie konnten keine mystische Kompensation bieten für das Bewußtsein, daß die irdische Existenz edel und eitel sei, für die Urangst. Es waren weltliche und synthetische Ersatz-Gottheiten. Götter wohnen in Wolken und im Zwielicht. Die „Mystik“ der Linken, wie die Franzosen sie nennen, war in der scharfen Klarheit des Aufklärungs-Zeitalters entstanden, um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Nach 1848 hatte der neue Glaube seinen religiösen Fetischcharakter verloren. Die Epigonen der Französischen Revolution – Proudhon, Fourier, Saint-Simon – waren keine Propheten, sondern Sonderlinge. Es gab keine Bewegung mit einem unwiderstehlichen gefühlsmäßigen Appell, die die Erbschaft des verfallenden Christentums hätte übernehmen können.
Die Gründer des modernen Sozialismus glaubten, daß ein Appell dieser Art unnötig geworden sei. Religion war Opium für das Volk und war durch eine Vernunftdiät zu ersetzen. Der schnelle Fortschritt aller Wissenschaften, bei dem der Darwinismus der Schrittmacher war, schuf einen allgemeinen optimistischen Glauben in die Unfehlbarkeit der Vernunft, in eine klare, kristallhelle Welt mit durchsichtiger Atomstruktur, ohne Raum für Schatten, Zwielicht und Mythos. In dieser Atmosphäre wurde der marxistische wissenschaftliche Sozialismus geboren; in einer Periode, in der die Beziehungen zwischen vernunftmäßigem und gefühlsmäßigen Verhalten so angesehen wurden, wie etwa die Beziehungen zwischen Reiter und Pferd; wobei der Reiter das vernünftige Denken repräsentierte und das Pferd das, was man die „dunklen Instinkte“ und das „Tier in uns“ nannte. Heute sind wir etwas bescheidener geworden und neigen wieder eher dazu, zu glauben, daß der mythologische Centaur wohl ein passenderer Vergleich sei.
Aber in der Zwischenzeit war es in der Linken Tradition geworden, sich an den Reiter zu wenden, während andere das Pferd anpeitschten.
Das Ergebnis war danach. In den anderthalb Jahrhunderten seit dem Bastillesturm folgte eine Bewegung der andern und verging. Jakobinismus, Fourierismus, Utilitarismus, die Erste und Zweite Internationale, Owenismus, Trade Unionismus, der Völkerbund, die Weimarer Republik, die Dritte Internationale – alles waren Zweige desselben Baumes, der seine Wurzeln im Aufklärungszeitalter hatte, und die Zweige starben alle innerhalb von zehn oder zwanzig Jahren ab.
Die praktischen Errungenschaften dieser fehlgeschlagenen Bewegungen waren trotzdem ungeheuer und ohne Vergleich in der Geschichte. Diejenigen, die gerne spotten und sich in überheblichen Negationen des tatsächlichen Fortschritts gefallen, sollten das Kapitel im „Kapital“ über die Kinderarbeit in englischen Fabriken am Anfang des letzten Jahrhunderts lesen oder die Geschichte des Aufstands in „Spitzhead and Nore“ oder Maughams „Liza of Lambeth“. Diese 150 Jahre weltlicher Bewegungen brachten mehr spürbare Verbesserungen für das Los des gemeinen Mannes zustande als 2500 Jahre Christentum. Aber dies bezieht sich nur auf die materielle Wirklichkeit. Der Reflex dieser Wirklichkeit im Geiste der Menschen war ein anderer. Gemessen an ihren ursprünglichen Zielen waren diese Fortschrittsbewegungen lauter Fehlschläge. Keine unter ihnen hatte als Ziel diese beschränkten Ergebnisse gehabt, die sie wirklich erreicht hat. Jede begann damit, dem europäischen Menschen ein Goldenes Zeitalter zu versprechen. Ihre tatsächlichen Errungenschaften waren mehr oder minder Nebenprodukte ihres ideologischen Mißlingens; es waren die Überreste, die die Testamentsvollstrecker nach dem Tod eines bankrotten Millionärs feststellen. So kam es, daß während auf der materiellen Ebene die Gesamtwirkung der Linksbewegungen eine langsame und stetige Verbesserung der sozialen Verhältnisse war, gleichzeitig die Gesamtwirkung auf der psychologischen Ebene eine wachsende Verarmung und Enttäuschung war. Es gab nichts, was den verlorenen absoluten Glauben ersetzen konnte, den Glauben an eine höhere Wirklichkeit, an ein festes System moralischer Werte. Fortschritt ist ein seichter Mythos, weil seine Wurzeln nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft reichen. Die Linke wurde gefühlsmäßig immer wurzelloser. Der Lebenssaft vertrocknete. Als die britische Labour-Partei und die deutsche Sozialdemokratie zur Macht kamen, war die Vitalität bereits erschöpft. Die Verbindung mit den unbewußten Schichten war abgeschnitten; ihre Moral beruhte auf rein vernunftmäßigen Vorstellungen; das einzige Überbleibsel war der bissige Voltairesche Ton ihrer Polemiken.
Auf einem kommunistischen Schriftsteller-Kongress hat André Malraux nach stundenlangen Reden über die schöne neue Welt im Aufbau ungeduldig gefragt: „Und was ist zu dem Mann zu sagen, der von einem Straßenbahnwagen überfahren wird?“ Er traf auf verständnislose Blicke und ließ von der Frage ab. Aber in uns allen ist eine Stimme, die nicht ablassen will. Wir sind alle von dem Glauben an ein persönliches Fortleben abgeschnitten worden, an die Unsterblichkeit unseres Selbst, das wir stärker lieben und hassen als alles andere, und die Wunde dieses Schnitts ist nie verheilt.
Auf einer Barrikade getötet zu werden oder als ein Märtyrer der Wissenschaft zu sterben, gibt einen gewissen Ausgleich; aber was ist dem Mann zu sagen, der von einer Straßenbahn überfahren wird, oder zu einem ertrunkenen Kind? Der Mensch der Gotik hatte eine Antwort auf diese Frage. Das scheinbar Zufällige war Teil eines höheren Planes Das Schicksal war nicht blind; Stürme, Vulkane, Sturmfluten und Seuchen bildeten zusammen ein geheimes Muster; eine höhere Hand befaßte sich mit uns. Kannibalen, Eskimos, Hindus und Christen, alle haben eine Antwort auf die Frage aller Fragen, die, wenn auch verdrängt, verspottet und verschämt verhalten, der letzte entscheidende Regulator unserer Handlungen ist. Aber die einzige Antwort, die Malraux nach einem peinlichen Schweigen bekam, war: „In einem vollkommenen sozialistischen Transportsystem wird es keine Unfälle geben.“
III.
Nach dem ersten Weltkrieg explodierte die aufgestaute Entbehrung. Die vernachlässigte Sehnsucht nach einem Glauben, nach etwas Absolutem und Unbezweifelbarem, ging über ganz Europa hin. Es war die Rückkehr des Verdrängten. Der elektrische Sturm entlud sich in verschiedenen Formen, je nach den verschiedenen lokalen Bedingungen. In einigen Ländern zog sich die Wirkung durch die mildernden Einflüsse des Sieges hinaus; in einigen brach er als Taumel des Vergnügens, als Orgie von Jazz und Sexualität aus. Der historisch bedeutsamen Erscheinungen, in denen die Rückkehr des Glaubens sich kristallisierte, waren zwei: der Faschismus und der Sowjet-Mythos.
Ich muß sofort betonen, daß ich mit dem Sowjet-Mythos nicht die Entwicklung in der Sowjet-Union meine, sondern deren psychologische Rückwirkung in der europäischen Linken. Ich werde versuchen, zu beweisen, daß er, wie alle echten Mythen, einer gewissen tiefen und unbewußten Sehnsucht entsprach, die beinahe unabhängig von der geschichtlichen Wirklichkeit war, die er reflektierte; genau so, wie der christliche Mythos vollkommen unberührt blieb durch alle historischen Entdeckungen über die wirkliche Persönlichkeit des Jesus von Nazareth und seiner Jünger.
IV.
Weder der faschistische noch der Sowjet-Mythos waren synthetische Konstruktionen, sondern Wiederbelebungen von Urvorstellungen – Archetypen – und deshalb beide imstande, nicht nur den vernünftigen Bestandteil in uns, sondern den ganzen Menschen zu erfassen: beide schufen gefühlsmäßige Sättigung. Der faschistische Mythos ist unverhüllt und geradeheraus. Das Opium wird den Massen von den Führern ganz offen verabreicht. Die Archetypen von Blut und Boden, des drachentötenden Übermenschen, die Gottheiten von Walhall und die teuflischen Mächte des Judentums werden systematisch für nationale Zwecke aufgerufen. Eine Hälfte des Hitlerschen Genius bestand darin, die richtigen unbewußten Saiten anzuschlagen, die andere Hälfte bestand in einem flinken Zusammenstoppeln, in seinem Sinn für über- oder scheinmoderne Methoden in Wirtschaft, Architektur, Technik, Propaganda und Kriegführung. Das Geheimnis des Faschismus ist die Wiederbelebung archaischer Glaubensinhalte in moderner Fassung. Das Nazigebäude war ein Wolkenkratzer, dessen Heißwasserleitung aus unterirdischen Quellen vulkanischen Ursprungs gespeist war.
Auf der anderen Seite bezog die sozialistische Bewegung ihr Wasser von einer Zisterne auf dem Dach, die sich hoffentlich eines Tages mit Regen füllen werde. Die russische Revolution brachte nicht nur Regen, sondern einen tropischen Wolkenbruch. Plötzlich begannen die bis dahin trockenen Röhren zu sprudeln.
Während der ersten paar Jahre stimmten der Sowjet-Mythos und die russische Realität einigermaßen überein. Es war das heroische Zeitalter, in dem sich Legenden bilden. Hinter dem Rauch war ein wirkliches Feuer.
Und welches Feuer! Das Volk hatte die Macht ergriffen und hatte sich in den Besitz eines Sechstels der Erde gesetzt. Das Privateigentum, das Profitmotiv, geschlechtliche Vorurteile, soziale Überlieferungen wurden mit einem Strich abgeschafft. Es gab keine Reichen und Armen, keine Herren und Diener, keine Offiziere und Gemeinen mehr. Der Ehemann hatte keine Gewalt mehr über seine Frau, die Eltern nicht mehr über ihr Kind, der Lehrer nicht mehr über den Schüler. Die Geschichte des Homo sapiens schien neu zu beginnen. Es schien ein Donner hinter den Worten dieser unerhörten Gesetze zu grollen, wie die Stimme von Sinai, die die zwölf Gebote gab. Die, die sie hörten, hatten das Gefühl, als ob eine spröde Schicht in ihnen plötzlich gesprungen wäre, die eingetrocknete Kruste des Skeptizismus, der verzichtenden Entbehrung; sie spürten einen gefühlsmäßigen Aufschwung, dessen sie sich nicht mehr für fähig gehalten hatten. Irgendetwas war in ihnen freigesetzt, etwas so tief Verdrängtes, daß sie seiner Existenz nicht mehr bewußt gewesen waren, eine Hoffnung, die so tief begraben war, daß sie sie vergessen hatten. Die Linke hat jahrelang, jahrzehntelang, ja mehr als ein Jahrhundert lang von der kommunistischen Revolution gesprochen; als sie nun da war, war sie von dem Ereignis so überwältigt, wie ein Landpfarrer es sein mag, wenn er, nachdem er seine Sonntagspredigt vor einer leeren Kirche gehalten hat, von seinem Mesner erfährt, dass das Himmelreich eben im Radio verkündet worden sei. – Nach den Begriffen der Linken war es tatsächlich eine messianische Prophezeiung, die sich erfüllte. Alle die herkömmlichen Wendungen aus den sozialistischen Lehrbüchern, die Herrschaft der Arbeiter und Bauern, die Expropriation der Expropriateure, die Diktatur des Proletariats, waren plötzlich aus Tinte zu Blut geworden. Der Mythos der Linken war, wie wir oben sagten, nicht von der Vergangenheit hergeleitet, sondern auf eine hypothetische Zukunft bezogen. Diese Zukunft hatte sich nun verwirklicht. Ein blutloses Utopien hatte sich in ein wirkliches Land mit einem wirklichen Volk verwandelt; räumlich entfernt genug, um der Vorstellung Spielraum zu geben, die mit malerischer Ausstattung und mit wehmütigen Gesängen genährt wurde. Fortschritt, Gerechtigkeit und Sozialismus waren Abstraktionen, die keine Nahrung für Träume boten, keine Gelegenheit für Verehrung, Liebe und Selbstaufgabe. Nun hatte die heimatlose, zerstreute Bewegung ein Mutterland, eine Flagge, und die bärtige Silhouette eines Vaters mit humorvollen, zwinkernden Augen und mongolischen Zügen. Der Heldenkampf eines großen Volkes, das die Schlachten der Freiheit schlug und dazwischen die Balalaika spielte, befriedigte das ausgehungerte Gemütsleben dieser Jahrhunderte alten Jungfer, nämlich der europäischen Linken, die bis dahin nie die Umarmung der Macht erfahren hatte.
Dies war die Geburt des Sowjet-Mythos – oder vielmehr seine Wiedergeburt, denn Rußland war nur der neue Anlaß für die Wiederbelebung einer Urvorstellung, die so alt war wie die Menschheit. Wie deren frühere Symbole, das Goldene Zeitalter, das Gelobte Land und das Himmelreich, bot es wunderbare Entschädigung für ein Leben der Entbehrung und die Sinnlosigkeit des Todes. Diejenigen unter uns, die in der kommunistischen Bewegung gelebt haben, wissen, wie vollständig der Sowjet-Mythos diese Funktion erfüllt hat – nicht für die Russen, sondern für die Gläubigen außerhalb Rußlands.
Ein wesentlicher Bestandteil dieser Urform ist, daß die Erfüllung der Verheißung im heftigen Sturm erfolgt: Mit dem Jüngsten Gericht, mit der Erscheinung des Kometen usw. Daher auch die instinktive Ablehnung aller reformistischen Ideen über einen allmählichen Übergang zum Sozialismus von seiten waschechter Kommunisten. Die revolutionäre Apokalypse ist notwendig, um die Form des „Neuen Tages“ zu erfüllen.
Die kraftlosen Versuche der westlichen Mächte, den Bolschewismus durch militärische Intervention zu ersticken, vermehrten die Begeisterung der Jünger und verschaffte Rußland einen Schein von Märtyrertum, der sich noch erhielt, als es die größte Militärmacht Europas geworden war und halb Polen und die Baltischen Staaten verschlungen hatte. „Hände weg von Rußland“ begann als politisches Schlagwort und wurde zum religiösen Tabu. In ähnlicher Weise führten die Beschimpfungen der reaktionären Presse zu einer Ausdehnung des Tabus auch gegenüber Kritik und Diskussion. Die offizielle Erklärung dieser Erscheinung war, daß Kritik an Rußland, wenn sie auch freundlich und objektiv sei, der Reaktion in die Hände spiele. Aber dies war offensichtlich nur eine Rationalisation der gefühlsmäßigen Haltung; denn sogar in privatem Kreis – wen kein Reporter einer reaktionären Zeitung anwesend war – wurde jede kritische Äußerung von den Gläubigen als Blasphemie und Verbrechen betrachtet. Das Gebot, Rußland zu verteidigen, löste sich von der Wirklichkeit ab und wurde zur geistigen Welt eines Glaubens, gegen die von außen kommende Intervention des Zweifels.
Der Fortschritt hatte seine verlorene Religion wiedergefunden: Sowjet-Rußland wurde das neue „Opium für das Volk“.
V.
Die revolutionäre Welle, die im Kielwasser der russischen Revolution über den Kontinent hinging, endete in einer Reihe von Niederlagen in Deutschland, Italien, Ungarn und auf dem Balkan. Vom Anfang der zwanziger Jahre an wurde es klar, daß die Hoffnung auf eine baldige europäische Revolution aufgegeben werden müsse. Bis dahin war der Sowjetstaat als der Vortrupp der revolutionären Bewegung angesehen worden. Nun wurde die revolutionäre Bewegung die Nachhut des Sowjet-Staates. In einer Reihe tragischer Episoden, von China bis Spanien, hatte diese Nachhut als Selbstmordtruppe zu kämpfen. Die Interessen des Welt-Proletariats wurden den Interessen der Sowjet-Union untergeordnet. Die Kommunistische Internationale wurde ein Hilfsinstrument des russischen Außenministeriums. Die plötzlichen Wechsel in der Parteilinie in den einzelnen Ländern Europas waren nichts als die nach außen sichtbaren Ergebnisse der geheimen Manöver der Sowjet-Demokratie, wie die Zuckungen und Sprünge eines kleinen Anhängers hinter einem Auto.
Diese Entwicklung wurde rationalisiert und zurechtgelegt als die Lehre des „Sozialismus in einem Lande“. Das Mutterland des Proletariats war die Festung, die erhalten werden mußte, selbst um den Preis der Opferung der Menschen außerhalb der Festung, d.h. der Elite der revolutionären Bewegung in Europa. Irgendeinmal in der Zukunft, wenn die Festung genügend stark sei, werde die Besatzung ausfallen und die Leute draußen befreien. Dieses Opfer sei in Wirklichkeit eine langfristige Anlage, die ihre ruhmvolle Belohnung in der Stunde der Abrechnung erhalten werde. Auf diese Weise wurde der Charakter des messianischen Versprechens noch deutlicher. Der Rückzug Sowjet-Rußlands von der europäischen Arbeiterklasse, sogar die Tatsache, daß sein Gebiet, außer für sorgfältig ausgelesene Mekka-Pilger, unzugänglich war, all dies half dazu, Rußland immer mehr von dem Feld der Wirklichkeit zu entrücken und die phantasiemäßigen Quellen des Mythos zu speisen.
VI.
Die unheilvollen Ergebnisse dieser Politik für die europäische Linke sind inzwischen geschichtlich geworden. In ganz Europa spielten die kommunistischen Parteien die Rolle unfreiwilliger Hebammen des Faschismus. Diejenigen Führer und Mitglieder, die vernünftig und mutig genug waren, zu protestieren, wurden ausgeschlossen, getötet oder der Polizei denunziert. Die byzantinische Struktur der Komintern spiegelte die Struktur der Sowjet-Diktatur wider, das kommunistische Verhältnis zu den Arbeitern und zu der Intelligenz Europas war nach dem russischen Muster gestaltet, das darin bestand, eine halb asiatische und so gut wie analphabetische Bevölkerung in die Hand zu bekommen, und das die westlichen Verhältnisse und Geistesart vollkommen unberücksichtigt ließ. Alles dies ist durch Kritiker der Komintern von Trotzki bis Borkenau im einzelnen dargelegt worden. Aber diese Darlegung beschränkte sich auf die politische Ebene; die psychologischen Gründe, warum die Mehrheit der Kommunisten und Sympathisierenden außerhalb Rußlands diesen Stand der Dinge hinnahmen, bedarf noch der Klärung.
Unausgesetzte „Reinigungen“, die monoton wiederholte Exkommunikation angesehener Führer von gestern, der Mangel jeden Einflusses der Mitgliederschaft auf der Parteilinie, die Opferung Tausender in hoffnungslosen Abenteuern, die abwechselten mit Kapitulationen gegenüber und Bündnissen mit dem Feind, das Zurechtbiegen von Schlagworten dergestalt, daß sie das genauer Gegenteil des eigentlichen Sinns zu bedeuten hatten; entrüstete Ableugnung der Wahrheiten von gestern, die Atmosphäre von Verleumdung, Denunziation und byzantinischer Verehrung; wie ist es möglich zu erklären, daß Millionen im Westen das alles geschluckt haben, und zwar freiwillig, in selbstauferlegter Disziplin und ohne Nachdruck von seiten einer Gestapo oder GPU?
Diese bedingungslose Kapitulation der kritischen Fähigkeiten verrät immer das Vorhandensein eines Faktors, der jenseits der Vernunft steht. Man könnte versucht sein, dies einen neurotischen Komplex zu heißen, wenn nicht die Tatsache feststünde, daß der wirklich Gläubige (sei es der Christ, sei es der Sowjet-Mythos-Anhänger) in der Regel glücklicher und ausgeglichener ist als der Atheist oder Trotzkist. Tiefverwurzelte, archetypische Glaubensformen führen nur dann zur Neurose, wenn der Zweifel einen Konflikt schafft. Um diesen Zweifel fernzuhalten, wird ein System elastischer Abwehr geschaffen. Die äußere Abwehrlinie wird hergestellt durch den katholischen Index, durch die Verbannung trotzkistischer Literatur, durch die Vermeidung jeder Berührung mit Ketzern und Verdächtigen. Dies hat eine charakteristische sektiererische Unduldsamkeit zur Folge, die sich in überraschend heftiger Form äußert, auch wenn sie von sonst gutmütigen Menschen geübt wird.
Die innere Abwehr ist unbewußt. Sie besteht in einer Art von magischem Schrein, den der Geist um den geliebten Glauben herum bildet. Mit Argumenten, die in diesen magischen Schrein hineindringen, setzt sich nicht die Vernunft auseinander, sondern eine spezifische Form von Pseudovernunft, Absurditäten und Widersprüche, die außerhalb dieser magischen Aura sofort zurückgewiesen würden, werden durch ausgefallene Rationalisierungen annehmbar gemacht. Je höher entwickelt die geistigen Fähigkeiten des einzelnen sind, desto feiner sind die Formen dieser Pseudoüberlegungen, die er anstellt. Scholastizismus, Talmudismus, Alchimie sind bestürzend geistreich und in sich von einer gewissen Geschlossenheit. Die Magie solcher Systeme beruht auf einer Art nichteuklidischer Geometrie, einer ihnen innewohnenden logischen Verkrümmung. Diese Verkrümmung wird hergestellt durch bestimmte Grundsätze und Dogmen; im Falle des kommunistischen Gläubigen ist die wirksame Formel die, daß eine Behauptung zwar „mechanisch richtig aber dialektisch falsch“ sei.
Als der Abgrund zwischen dem Sowjet-Mythos und der Realität weiter wurde, verstärkte sich auch die dialektische Verkrümmung im Geiste des Gläubigen, bis er es vollkommen natürlich fand, daß Ribbentrop mit dem „Orden der Revolution“ ausgezeichnet wurde, daß ein Millionäre ein Proletarier und ein Tisch ein Ententeich sei. Wenn man die Leitartikel des „Daily Worker“ während der letzten zehn Jahre durchliest, kommt man sich vor wie Alice im Wunderland.
VII.
Unter diesen Umständen ist jede öffentliche oder private Diskussion mit Mythos-Anhängern zum Scheitern verteilt. Eine Debatte steht schon von Anfang an nicht auf der Ebene der Objektivität; Gründe werden nicht nach ihrem Gewicht beurteilt, sondern danach, ob sie in das System passen, und, wenn sie nicht passen, wie man sie passend machen kann. Es ist ein ähnliches Verhältnis zur Wirklichkeit wie dass des Kindes, das jeden Gegenstand, der ihm in die Hände fällt, unter dem einzigen Gesichtswinkel prüft, ob er eßbar ist oder nicht, ob er „gut-gut“ oder „pfui-pfui“ ist. Wenn du z.B. zufällig erwähnst, daß Trotzki die Rote Armee geschaffen hat, so hast du damit keine historische Tatsache festgestellt, sondern etwas gesagt, was „pfui-pfui“ ist, und du mußt auf die entsprechende Reaktion gefaßt sein.
Das wirkende Element äußert sich nicht unbedingt in nach außen gerichteter Agitation. Der Abwehrmechanismus arbeitet häufig als glattgeölte, geräuschlose Maschinerie. Wenn sie in Gefahr ist, festzulaufen, nimmt sie automatisch ihre Zuflucht zu allgemeinen Fragen und Plattheiten. So kommt es häufig vor, daß der Gegner aus der Fassung kommt, während der Mythos-Anhänger seine Ruhe bewahrt, nämlich die lächelnde Überlegenheit des Fanatikers und des Priesters.
Der Gegner muß noch weitere Schwierigkeiten überwinden. Er kommt in Verlegenheit durch unangenehme Verbündete, durch die Zustimmung aus dem reaktionären Lager, deren triumphierendes „Habe ich es nicht immer gesagt!“ Diese haben mit allen ihren falschen Gründen recht, und im Herzen hält es der Gegner mit dem Mythos-Anhänger, der mit den richtigen Gründen unrecht hat. Aber zur selben Zeit gerät er außer sich über den törichten Anhänger, denn nichts ärgert uns so, wie die Feststellung, daß eine andere Person hartnäckig an den Fehlern unserer eigenen Vergangenheit festhält; das ist der Grund, warum uns Jünglinge zuweilen so sehr auf die Nerven gehen. In manchen wächst dieser Ärger zu Haß aus; dies ist die trotzkistische Haltung des verratenen Liebhabers, der jedermann erzählt, dass seine Geliebte eine Hure sei und doch bei jedem neuen Beweis dessen wieder vor Wut schäumt. Der Verlust einer Illusion wirft das Gleichgewicht ebenso über den Haufen wie eine Triebstörung.
Und schließlich besteht die Gefahr, in das andere Extrem zu fallen, wofür Laval und Doriots ein warnendes Beispiel sind. Beide waren einstige Mitglieder der französischen Kommunistischen Partei. Man fürchtet sich davor, den Abhang hinunterzuschlittern, der von der langen Reihe derjenigen geglättet ist, die von Idealisten zu Verrätern geworden sind. Es ist eine schwierige Aufgabe, sich in der Mitte zu halten, und man steht ziemlich allein dabei.
VIII.
Die magische Aura des Sowjet-Mythos wirkt nicht nur auf die Mitgliederschaft des Kommunistischen Partei, sondern, nur in etwas gedämpfterer Weise, auch auf Sozialisten, Liberale, fortschrittliche Intellektuelle und aufgeklärte Pfarrer. In den unglücklichen Jahrzehnten zwischen den beiden Kriegen, als die Linke in einer Atmosphäre von Niederlage und Verrat lebte, als Inflation, Arbeitslosigkeit, Faschismus über ein Land nach dem anderen hinging, war Rußland das einzige Land, für das sich leben und sterben ließ. Rußland war die einzige Hoffnung in einem Zeitalter der Hoffnungslosigkeit, die einzige Verheißung der Müden und Enttäuschten. An der Oberfläche zwar war die Haltung der Sympathisierenden kritischer, aber im Grunde waren sie doch alle von dem Mythos gefangen. Da sie nicht durch das Gelübde der Orthodoxie gebunden waren, konnten sie sich Ketzereien, ja sogar frivole Witze erlauben; aber ihre kritischen Einwände zerstörten ihren Glauben nicht, weil dieser vager, verschwommener und deshalb elastischer war. Aber er hatte einen festen und unberührbaren Kern, eine mythische Formel, die ungefähr besagte: Rußland ist trotz allem „richtig“; der einzige Wegweiser in die Zukunft; die letzte Hoffnung usw. Sogar ängstliche Börsenmakler und aufgeklärte Geschäftsleute haben in Zeiten der Depression gefunden, daß schließlich doch etwas daran ist; so ungefähr wie der Atheist auf seinem Totenbett noch die letzte Ölung nimmt.
Obwohl dieser Glaube vager und verschwommener ist, wird er doch ebenso unbewußt und eifersüchtig gehütet wie die Lehre des Orthodoxen. Die Interpretation, die der „New Statesman and Nation“ der stalinistischen Politik angedeihen läßt, entfaltet all die Findigkeiten des offiziellen Verfechters, obwohl mit etwas eleganterer logischer Krümmung. Der Sympathisierende erfreut sich der offenbaren Überlegenheit des aufgeklärten Theisten über den doktrinären Katholiken. Aber die Wurzeln des einen Glaubens sind so irrational wie die des andern.
IX.
Der Versuch, die Abwehrstellungen des Anhängers zu durchbrechen, indem man die irrationalen Wurzeln ihm zum Bewußtsein bringt, ist praktisch hoffnungslos. Der unbewußte Widerstand gegen diese Operation, die die Fundamente bedroht, ist wie bei jedem harteingewurzelten Glauben ungeheuer. Dieser Widerstand seinerseits hat sich rationalisiert in der kommunistischen Ablehnung der „Bourgeoisie-Psychologie“ als eines „Abtrünnigwerdens“ vom „Klassenkampf“; Psychoanalyse ist in der Sowjet-Union offiziell verboten. Die kommunistische Psychologie ist auf der hypothetischen Annahme eines „Klassenbewußtseins“ aufgebaut, das angeblich die Stellung einer Person im Produktionsprozeß widerspiegele und das bis heute noch von keinem Psychologen an einem lebenden Individuum demonstriert worden ist. So wird ein dogmatischer Glaube durch eine gleichfalls dogmatische Ablehnung derjenigen Mittel verteidigt, die ihn analysieren könnten; ein Vorgang, der sowohl den Psychotherapeuten wie den Kirchengeschichtlern vertraut ist.
Wie im Fall der Kirche, ist der Prozeß der Entwöhnung von zwei Faktoren abhängig: die allmähliche Abnutzung, die durch die ständige Erweiterung des Abstands zwischen Realität und Mythos verursacht ist und durch das Auftauchen eines neuen Glaubens, der gleiche gefühlsmäßige Macht hat, aber besser mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
Aus Artur Koestler: Der Yogi und der Kommissar. Auseinandersetzungen, Bechtle-Verlag, Esslingen 1950. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber.
Schlagwörter: Arthur Koestler, Internationale, Kommunismus, Linke, Mythos, Orthodoxie, Proletariat, Psychoanalyse, Sowjetunion