17. Jahrgang | Nummer 8 | 14. April 2014

Weltkrieg

von Jörn Schütrumpf

Der Pazifismus eines Jean Jaurès beunruhigte einen Anhänger der Grande Nation so sehr, dass er vorsichtshalber den Kopf der französischen Sozialisten ermordete – am 31. Juli 1914 in einem Café, in aller Öffentlichkeit.
Vier Tage später wollte Jaures’ Feindfreundin Rosa Luxemburg, getrieben von der Illusion, den deutschen Arbeitern ein Fanal gegen den ausbrechenden Krieg setzen zu können, ihrer eigenen Ermordung durch einen Selbstmord zuvorkommen. Die wenigen Freunde, die ihr geblieben waren, verbrachten einen anstrengenden Abend mit dieser an beiden Enden brennenden Frau; letztlich lenkte man sie auf einen nichtsuizidalen Protest.
Der ging allerdings unerhört unter: im teutonischen Jubel, endlich sinn-simuliert sterben zu dürfen. Selbst die politisch erfahrene Clara Zetkin im fernen Stuttgart war ob des teutonischen Mord/Selbstmord-Wahns irritiert und verweigerte unter die Protesterklärung ihrer Freundin Luxemburg die Unterschrift: Man müsse vermeiden, sich von den Massen zu isolieren.
Heute gilt es nicht nur als chic, den Beginn des Ersten Weltkrieg in ein Ergebnis kollektiven Schlafwandelns und damit in ein in aller Unschuld Schuldigwerden umzudeuten, es wird auch das Bild vom kollektiven Jubel in Frage gestellt und auf Widerständigkeiten und Repressalien verwiesen.
Das Erstere geschieht im Interesse der Auflage (Christopher Clark, „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“, Stuttgart 2013). Spätestens seit „Hitlers willige Vollstrecker“ gehört es im anglo-amerikanischen Raum zur üblichen Historikerprostitution, mit „steilen Thesen“ das Feuilleton und darüber die Geldbeutel der Halbgebildeten zu erobern. (Da wünscht man sich einen Ernst Nolte und den Historikerstreit über stalinistischen Terror und Holocaust zurück: 1986 meinten die Leute noch, was sie sagten …)
Das Zweitere ist zwar nett gemeint und auch nicht ganz falsch: Schließlich waren 1914 wirklich nicht alle Deutschen dem Kollektivrausch verfallen. Aber der Beigeschmack des Relativierens bleibt. Man merkt die Absicht und ist verstimmt …
Vielleicht bin ich auch bloß überempfindlich: Es erinnert aber halt an die Praxis in der SED-Geschichtsschreibung, das Verhalten der deutschen Bevölkerung am Beginn des Ersten Weltkriegs zum Staatsgeheimnis zu erklären und den wenigen Widerstand, den es gegeben hat, zu hypertrophieren.
Als nach dem XX. Parteitag der KPdSU Jürgen Kuczynski glaubte, die Entstalinisierung sei ernst gemeint, schrieb er über die Euphorie bei Kriegsbeginn ein Buch: „Der Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie“ (1957) – und verlor darüber beinahe ein anderes Buch – sein Mitgliedsbuch der SED.
Auch wenn 1914 manche Ehefrau heimlich weinte, war die Kollektivhysterie allgemein. Denn niemand hatte aus dem Erfolg der französischen Aufklärung so konsequent Schlussfolgerungen gezogen wie die feudalen und bürgerlichen „Eliten“ Europas. Ihnen war völlig klar: ohne Aufklärung keine (französische) Revolution, zumindest keine erfolgreiche. Sie wussten: Der Kampf um die Köpfe entscheidet den Kampf um die Macht.
Die Brandmauer gegen jeglichen Umsturz, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts quer durch die europäischen Gesellschaften gezogen wurde, war der Nationalismus – neben dem Aufruhr das viel erfolgreichere Exportprodukt der französischen Revolution. Um als der innere Feind der Unterdrückten, Ausgebeuteten und Gedemütigten unerkannt zu bleiben, hatten die „Eliten“ die äußeren Feinde erfunden; unter Marketing-Gesichtspunkten zweifellos genial … Damit ließ sich die Revolution zwar nicht überall abwenden, aber immerhin bis 1917 verschieben.
Und: Es reichte für den großen Krieg um die Neuaufteilung der Welt. Der Traum vom deutschen Platz an der Sonne wurde nicht schlafwandlerisch, sondern mit offenen Augen geträumt – und zwar nicht nur vom – zugegeben – etwas minderbemittelten Kaiser der Teutonen.
Der Islamismus von heute funktioniert natürlich nicht anders. Darüber darf man beunruhigt sein; Verachtung sollte man sich jedoch schenken. Unsere Vorfahren waren vor 100 Jahren nicht besser. Und ob wir es beim nächsten „Ernstfall“ sein werden, ist auch noch nicht entschieden …