17. Jahrgang | Nummer 9 | 28. April 2014

„…ich singe mich selbst…“

von Ulrich Kaufmann

In sein „Arbeitsbuch“ notierte Volker Braun im Sommer 1990: „seltsame übung, werk und tag aufzuschreiben, aber nicht nacht und neigung. das gerippe habe ich hier, nicht das fleisch des daseins. die knochen, um sie einmal zu zählen; die küsse erinnere ich.“ Schwerpunkt des zweiten Bandes der Braunschen „Werktage“, die dem Leser wiederum exakt 1000 Seiten hochspannender Lektüre versprechen und abverlangen, sind somit vor allem die Arbeitszusammenhänge des Autors in der Nachwendezeit zwischen 1990 und 2008. Geboten wird – den Unkenrufen zum Trotz – weit mehr als „Gerippe“ und „Knochen“. Stellvertretend sei das feinsinnige Porträt des Hesse-Orts Calw empfohlen oder aber der sinnliche Monolog „brigitte / marion (büchner)“. Dieser entstand im Sommer 1998 nach der Lektüre der Reimannschen Tagebücher und befasst sich mit Dimensionen der Sexualität.
Privates kommt in Brauns Diarium eher knapp weg (der Stolz auf die Tochter, die Liebe zum Enkel), Intimes wird, erkennbar an Auslassungen, nur angedeutet. In den Traumnotierungen vermerkt der Dichter, dass ihn auch auf diesem Felde der Humor oft nicht verlassen habe.
Erneut legt Braun kein herkömmliches Tagebuch vor, kein „So-ist-es-und-so-war-es-Werk“, sondern einen durchgestalteten, komponierten Textcorpus, der über den Augenblick hinaus Bestand haben sollte. Braun gewährt Einblicke in seine Werkstatt, indem er neben die Notate (in der Regel ein bis zwei pro Woche) Gedichte, Anekdoten Kalendergeschichten und Fragmente stellt. Auch dieser Band lebt von – meist politischen – Fotos, Dokumenten und Zeitungsausschnitten, die der Autor (wie Brecht im „Arbeitsjournal“) in seinen Speicher montiert. So entsteht ein polyphones Zeitdokument hohen Ranges, ein Buch, welches wesentlicher Bestandteil des Braunschen Werks ist, dieses zugleich in vielfältiger Weise ergänzt und tiefer begreifbar macht. Wer bislang über Braun schrieb, wird seine Arbeiten nach der Lektüre des nun unzensierten Materials überdenken und erweitern müssen.
Der Leser erfährt, wie ernst der Dichter sein Amt als Direktor der Sektion Literatur an der Berliner Akademie der Künste nahm. Ein Teil seiner, indessen Kult gewordenen knappen und präzisen Reden (auf Wolfgang Hilbig oder Rudolf Bahro etwa) ist hier nachlesbar. Eigens herausgehoben sei ein Nekrolog auf seinen Leipziger „Urfreund“ Jürgen Teller, den er liebevoll seinen Tellheim nannte. Durchgehend spürt der Leser, wie Braun Freundschaften zu pflegen weiß – etwa zu Christa und Gerhard Wolf oder zu Karl Mickel. Auch bestimmten Schreiborten – wie Hiddensee oder Kochberg in Thüringen – hielt der Dichter über Jahrzehnte die Treue.
Im Tagebuch zeigt sich Braun – wie stets – als Weltbürger, der in globalen Zusammenhängen denkt und dichtet. Nicht wie Schiller, dessen Reisen im Kopf stattfinden mussten, sondern leibhaftig studiert Braun unseren Globus. Seinen Fuß hat er wohl auf alle Kontinente gesetzt, um zu beobachten, zu reflektieren und zu fotografieren. Umso näher gehen ihm dann Zeitungsmeldungen und Fernsehnachrichten, umso entschiedener lehnt er, der als kleiner Junge seine Heimatstadt Dresden abbrennen sah, deutsche Einsätze in Kriegsgebieten ab.
Der Band verdeutlicht gleichermaßen, wie tief der weltgewandte Braun in einheimischen, sächsischen Gefilden schürfte, um Material für neue Bücher ans Tageslicht zu befördern. Als überaus ergiebig erwiesen sich Recherchen im Erzgebirge, namentlich in Schwarzenberg. Hier legte er familiäre Wurzeln frei und stieß auf Quellen, die in den Band „Das unbesetzte Gebiet“ (2004) flossen. Dieses Prosabuch kann man als harten Gegenentwurf zu Stefan Heyms utopischem Roman über die freie Republik „Schwarzenberg“ (1986) lesen. Im Erzgebirgischen fand Volker Braun zudem Archivalien, die zu den Prosatexten „Der berüchtigte Christian Sporn“ und „Der andere Woyzeck“ führten.
Wie der erste Band der „Werktage 1977-1989“ von 2009 erschien auch sein Nachfolger ohne Kommentar und Register. Dies schränkt die Benutzbarkeit dieser Fundgrube bislang ein. Der Suhrkamp Verlag aber verspricht Abhilfe: Für das Frühjahr 2015 wird der wissenschaftliche „Apparat“ durch den Brecht-Experten Erdmut Wizisla nachgereicht, in einem Extraband, gemeinsam mit versprengten Notaten Brauns zu dem kulturpolitisch brisanten Jahr 1976, in dem Wolf Biermann die Wiedereinreise in die DDR verwehrt wurde.
An prägnanter Stelle, zu Beginn des Diariums, zitiert der Dichter Losungen der Umbruchszeit und versieht diese mit einer kleinen Ergänzung:
WIR SIND DAS VOLK
WIR SIND EIN VOLK
ich bin volker
Diesen Zusatz könnte man als Calauer abtun, vielleicht gar als einen selbstverliebten. Vielmehr zeigt er an, dass hier ein zeitgenössischer Dichter am Werke ist, der sich in allen Lebensphasen seines eigenen Verstandes bedient, der sich nicht vereinnahmen oder benebeln lässt. Brauns Zeilen korrespondieren zudem (auf der Seite 50) mit der Zeichnung DER ANSCHLUSS von Alfred Hrdlicka, dem politisch-radikalen Künstler, den Braun vor dessen Tod noch im Wiener Atelier besuchte.
Braun reflektiert 1992 über einen eigenen Vers aus den Monaten des Umbruchs:
„nie wieder leb ich zu auf eine wende“.
Er ist sich nun bewusst, dass nur „ eine wende uns retten kann. ein bewußtwerden des verkehrten kommunismus der sachen, der globalen vernutzung der abstrakten arbeit durch das unersättliche geldsubjekt,….das brechen der weltmacht der ware“.
Der Autor bändigt das ausufernde, disparate Material (Arbeit als Dichter und Akademiemitglied, Lektüre, Theaterbesuche, Redaktionsbeirat der Zeitschrift Sinn und Form, Weltreisender…), indem er nicht selten in die Rolle des Schelms schlüpft, der scheinbar vieles nicht durchschaut. Dem Poeten ist mitunter übel mitgespielt worden – nicht zuletzt an seiner Hausbühne, dem „Berliner Ensemble“ unter Claus Peymanns Leitung. Peymann trägt eine Aktie daran, dass Volker Braun als Theaterautor weniger gefragt war und allmählich verstummte. Der Tagebuchschreiber versucht in der Regel sachlich und höflich zu bleiben, er kann aber auch mit satirischer Schärfe austeilen. Im Januar 2007 notierte er: „wenn einmal ein theater der reißzahn am sitz der regierung war, dann das maxim-gorki-theater ende der achtziger jahre, wenn einer über seine grenzen ging, dann der intendant albert hetterle.
beiseite: ich höre immer von den castorf-transporten, und will dagegen protestieren, aber der mann ist ja immer noch da. und was peymanns reißzahn betrifft, sollte man für den zahnarzt sammeln.“
Als der Dichter 58 Jahre alt wurde, vermerkte er lakonisch: „es kommt nun andere geburtstagspost: landesbank berlin anlage- und finanzierungsservice, csb care service berlin gmbh.“ Möge es dem Autor in diesem Frühjahr besser ergehen. Brauns neues „Werktagebuch“ ist gerade erschienen. Zu seinem 75. Geburtstag am 7. Mai 2014 gratuliert der Leipziger Lehmstedt Verlag mit einem Prachtband, in dem mehr als hundert Dichter, bildende Künstler, Freunde und Weggefährten das Zwiegespräch mit dem Jubilar suchen.

Volker Braun, Werktage 2 – Arbeitsbuch 1990-2008, Suhrkamp Verlag Berlin 2014, 1000 Seiten, 39,95 Euro.

Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt – Im Zwiegespräch mit VOLKER BRAUN, herausgegeben von Michael Opitz und Erdmut Wizisla, Lehmstedt Verlag Leipzig, 264 Seiten, 29,90 Euro.

Die Redaktion gratuliert Volker Braun zum 75. Geburtstag!