von Erik Baron
Nur der Dialog mit den Toten verhindere deren Wiederkehr als untote Gespenster – so das Credo Heiner Müllers. Man müsse die Toten ausgraben, immer wieder, denn nur aus ihnen könne man Zukunft beziehen. Insofern sei Nekrophilie Liebe zur Zukunft. Was bei Müller so zugespitzt daherkommt, praktiziert Kathrin Gerlof in ihrem vierten Roman mit dem etwas seltsam klingenden Titel „Das ist eine Geschichte“. Sie gräbt und gräbt, bis sie im 19. Jahrhundert angekommen ist, und legt mit Salomon Weinreb und Hermann Weizmann zwei tote Juden frei, die sie in ihre Geschichte hineinzuziehen versucht. Doch die wehren sich vehement gegen diese Art von Vereinnahmung durch die Schickse, wie Salomon Weinreb die Autorin zu nennen pflegt. Am Ende jedoch steckt der tote Jude mittendrin in der Geschichte und bekommt von der Autorin gar das Schlusswort eingeräumt.
Doch von vorn: Fünf Jahre nach der sogenannten Wende werden auch in Warenberg, einer Kleinstadt im Speckgürtel Berlins, Rückübertragungsansprüche geltend gemacht, ein Vorgang, der zum ostdeutschen Alltag gehört, seit im Vereinigungsvertrag Rückgabe vor Entschädigung festgeschrieben steht. Das Delikate an Gerlofs Geschichte: Hier tritt eine jüdische Erbengemeinschaft, verstreut in alle Welt und vertreten durch einen Anwalt, als Kläger auf. Eine ganze Siedlung steht zur Disposition, eine Siedlung rund um die Salomon-Weinreb-Straße, die erst kurz zuvor – allerdings gegen Widerstand vieler Anwohner – nach jenem jüdischen Siedler umbenannt worden war, dessen Nachfahren nunmehr Anspruch auf die Grundstücke anmelden. Mittlerweile liegt ein Angebot der Erbengemeinschaft an die Anwohner vor, sich mit sechs D-Mark pro Quadratmeter „freizukaufen“. Der erste Aufschrei, der durch die Siedlung ging, hat sich mittlerweile gelegt – immerhin sehen sich viele in ihrer Existenz bedroht. Eine Anwohnerinitiative, die diese Rückübertragungsansprüche prüfen will, hat sich gegründet. Man ist an eine versierte Anwältin mit der Bitte um Unterstützung herangetreten. Alles scheint seinen bürokratischen Gang zu gehen.
Doch jetzt beginnt das Delikate an Gerlofs Geschichte zu wirken. Die Anwohner stellen Nachforschungen an, inwieweit der Verkauf der Grundstücke im Dritten Reich nicht doch rechtens gewesen war und keineswegs unter Zwang erfolgte, wie die jüdische Erbengemeinschaft behauptet. Immerhin sei keiner der betroffenen Juden je zu Schaden gekommen, im Gegenteil, sie konnten sich mit Ihren Koffern voller Geld rechtzeitig ins Ausland absetzen. Plötzlich brechen sie wieder durch, stereotype antisemitische Vorurteile, die sich dann auch in Leserbriefen des „Warenberger Boten“ ausgiebig Luft verschaffen. Da liest man Sätze, die mit „Wir haben nichts gegen Juden“ beginnen und mit einem „aber“ fortgesetzt werden. Ist dies schon Antisemitismus oder sind es berechtigte Äußerungen von in ihrer Existenz bedrohten Anwohnern? Macht es tatsächlich einen Unterschied, von welcher Seite Restitutionsansprüche gestellt werden? Wie verhält es sich bei solch individuellen Schicksalsfragen mit kollektiver Schuld und historischer Verantwortung? Was geschieht mit uns, wenn wir so direkt von unserer Vergangenheit eingeholt werden?
Diesen Fragen geht Kathrin Gerlof nach, wissend, dass es keine einfachen und schnellen Antworten auf sie gibt. Daher bittet sie die toten Vorfahren der jüdischen Erbengemeinschaft, jenen Salomon Weinreb und dessen Bruder Hermann Weizmann, um Mithilfe, zieht sie mit in die Geschichte hinein. Jene Brüder, die sich 1872, wie so viele Juden, in Preußen angesiedelt hatten, um sich fortan als preußisch-deutsche Staatsbürger zu integrieren. Und die am Ende doch ihrer Gutgläubigkeit und Naivität aufgesessen sind, als sie und ihre Nachfahren annahmen, vollwertige und gleichberechtigte Mitbürger zu sein. Nein, die alteingesessenen antisemitischen Vorurteile zogen sich wie ein roter Faden durch die deutsche Geschichte. Ein roter Faden, der nicht unbedingt immer offen und aggressiv in Erscheinung trat, sondern vielfach subtil wirkte. Und so sahen sich auch die Weinreb- und Weizmann-Nachfolger Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts gezwungen, ihr Gut, das heutige Warenberg, parzellieren zu lassen und zu verkaufen.
Salomon Weinreb und sein Bruder, die toten Juden, geben mit ihrer Geschichte einen tiefen Einblick in die deutsche Historie, ohne die die Rückübertragungsansprüche der Gegenwart nicht zu greifen sind. Für Kathrin Gerlof sind die toten Juden Katalysatoren des Bewusstseins. Mit filigraner Feder zeichnet sie die Anwohner der Siedlung keineswegs als tumbe Antisemiten, sondern als ganz normale Menschen, die sich plötzlich in ihrer Existenz bedroht fühlen. DDR-sozialisiert, fühlen sich die Anwohner eher in einer antifaschistischen Tradition. Und auch die aus dem Westen Hinzugezogenen sind eher links zu verorten. Die Heterogenität des betroffenen Personenkreises zeigt die Widersprüchlichkeit des Sujets: Hier greifen keine Stereotype mehr. Die Tochter von Antifaschisten, die im KZ ums Leben gekommen sind, schwingt sich zum Sprecher der Bürgerinitiative auf und wird mittlerweile als Antisemitin vom Dienst wahrgenommen. Die Anwältin (West), an die die Bitte der Rechtsvertretung herangetragen wurde, will ihre Entscheidung von eigenen Recherchen über ihren Vater abhängig machen, der offensichtlich in Kriegsverbrechen verwickelt gewesen ist. Bestätigte sich dies, wolle sie – aus Befangenheit – die Anwohnerinitiative nicht vertreten. Ein Filmemacher aus der Siedlung arbeitet an einem Film über seine Familiengeschichte und dreht sich doch nur im Kreis, verzettelt sich in immer neuen Film-Ideen, um festzustellen, wie einfach (und befreiend?) es doch ist, sich immer weiter vom eigentlichen Thema zu entfernen, von jenem Punkt, an dem es wehtut. Und nichts anderes geschieht mit den recherchierenden Anwohnern von Warenberg: Sie stochern in der Geschichte herum, verzetteln sich in Einzelgeschichten, Rechtfertigungsversuchen und Schuldzuweisungen, ohne zu begreifen, dass mit solch stereotyper Herangehensweise der Mehrdimensionalität von Geschichte nicht beizukommen ist.
Genau darum aber geht es Kathrin Gerlof. Sie spannt den historischen Bogen weit zurück ins 19. Jahrhundert, führt all die Familiengeschichten, die durch die drohende Rückübertragung aufbrechen und die zunächst einmal nichts miteinander zu tun haben, zusammen und zeigt, wie sich Geschichte aus eben diesen vielen kleinen Geschichten mehrdimensional zusammensetzt. Eine Lösung für diesen Rückübertragungskonflikt bietet uns Gerlof nicht an. Da hält sie es wie ihr Protagonist Ulrich Sturm, der Filmemacher: Der findet auch keine Lösung, aber wenigstens eine Haltung. Und vielleicht, so lässt Gerlof den Filmemacher mutmaßen, ginge es nur darum: Eine Haltung zu finden. Weil sich all diese Angelegenheiten nicht lösen und nicht auflösen lassen.
Mit fortschreitender Lesedauer legt sich die Betonung des Romantitels immer stärker auf „eine“. Auch wenn es nur eine Geschichte ist, der Dialog mit den Toten, wie ihn Kathrin Gerlof praktiziert, ist für den Fortlauf der Geschichte, unserer Historie, für unser Selbstverständnis lebensnotwendig. Insofern ist „Das ist eine Geschichte“ ein Roman ganz im Müllerschen Sinn. Und liest man heute den dritten Teil von Heiner Müllers Arisierungs-Trilogie „Der arme Nazi und der reiche Jude“, ein kurzer Prosa-Text, den Müller 1990 für Hanne Hiobs Projekt „Die Beute bleibt deutsch. Eine Arisierungsrevue“ geschrieben hat, könnte man meinen, dies sei das Exposé zu Gerlofs Roman.
Kathrin Gerlof: „Das ist eine Geschichte“, Aufbau Verlag, Berlin 2014, 396 Seiten, 19,99 Euro.
Schlagwörter: Erik Baron, Heiner Müller, Kathrin Gerlof, Rückübertragung