von Wolfgang Brauer
Also folgen Sie mir! Wir wollten sowieso zu Wolle und Naturseifen. Gehen wir durch das kleine Fußgängertor in der Stadtmauer zum Wollelädchen. Es sind nur knapp 50 Meter des alten Kirchhofes zu überqueren… aber das gestaltet sich schwieriger als beabsichtigt. Wir werden aufgehalten.
Der Friedhof berührt den Fremden auf eine merkwürdige Weise. Die preußisch-deutschen Hygienebestimmungen verbannten die Friedhöfe an den Rand – der Bevölkerungsanstieg infolge der Industrialisierung gab das Seine hinzu; um 1900 war einfach kein Platz mehr in den Städten. Dieser Friedhof ist mitten drin. Die Radstädter leben neben, ja mit ihren Toten. Der Friedhof ist noch in Betrieb. Jedenfalls der zum Steirer Tor gelegene Teil, fein säuberlich durch eine Natursteinmauer vom kirchlichen, unter Denkmalschutz stehendem Gottesacker abgetrennt. In der Mauer sind etliche Urnen der Feuerbestattungen deponiert, gleichsam mit dem Rücken zur Kirche – viele sind frei sichtbar. Offenbar nicht nur aus ästhetischen Gründen, da steckt wohl auch ein mit dem Geruch der Freidenkerei verbundenes Bekenntnis dahinter. Bis zum heutigen Tag hat die katholische Kirche ein gebrochenes Verhältnis zur Kremierung. 1917 verbot der Codex Iuris Canonici diese ausdrücklich. Erst 1963 ließ man sich zu Lockerungen für katholische Gläubige hinreißen. In Österreich brauchen solche Neuerungen immer etwas länger.
Aber noch haben wir die Urnenmauer nicht entdeckt, unseren forschen Schritt in Richtung Wollladen bremst eine merkwürdig gestaltete größere Glasplatte neben dem Westportal der Stadtpfarrkirche aus. Eine Art Grabstein. Ein Familiengrab. An der prominentesten Stelle des Friedhofes. Dafür trägt die Votivplatte aber ein imposantes Adelswappen und der zuletzt Beigesetzte einen imposanten Titel. Es handelt sich um den 2010 verstorbenen Utz Freiherrn von Künßberg. Die Berufsangabe ist bescheiden: Apotheker. Die Stadtapotheke in Radstadt wird immer noch von einem Künßberg betrieben, ebenso die Tauernapotheke in Altenmarkt im Pongau. 2001 ließ sich – aus Österreich „zugewandert“, wie er selbst schreibt – ein Künsberg in Fellbach bei Stuttgart nieder und gründete… klar doch, eine Apotheke. Allerdings darf der Neu-Württemberger den alten Namen vollständig führen: Herr von Künsberg Sarre. In Österreich darf man das nur auf dem Friedhof. Toten kann man nichts mehr verbieten.
Seit 1919 gilt hier bis zum heutigen Tage das „Adelsaufhebungsgesetz“. Das stellt das Führen von Adelsbezeichnungen, Titeln und Würden unter Strafe. Der österreichische Alt-Adel und seine rechtskonservativen Vasallen in Politik und Gesellschaft betrachten dies als Menschenrechtsverletzung. Das ist keine Ironie! Zumindest Freiherr Utz von Künßberg nebst Mama und Papa trotzen dieser roten Gemeinheit. Außerdem ruhen sie in geweihtem Boden. Seien wir nicht arrogant, in Deutschland empfindet nicht nur die Regenbogen-Presse immer wieder Phantomschmerz ob der 1918 abgegangenen Hoheiten.
Aber Künsberg – mit „s“ oder „ß“ ist egal, es ist dieselbe weit verzweigte Sippe mit oberfränkischen Wurzeln –, da war doch noch etwas?
Ja, es gab in Heidelberg einen Rechtsgelehrten, der den Nazis durchaus genauso eifrig wie die meisten anderen Rechtsgelehrten der Weimarer Republik (Carl Schmitt: „Der Führer setzt das Recht!“) den Weg bereitete. Der hatte nur das Pech, mit einer Jüdin verheiratet gewesen zu sein. Das Paar konnte immerhin noch seine fünf Kinder rechtzeitig genug nach England schaffen; Eberhard von Künßberg starb 1941 nach einer schweren Operation. Damit war der Schutz für die Frau weg. Katharina Freiin von Künßberg entging 1942 der Deportation nur, weil sie bis Kriegsende untertauchen konnte. Ein anderer Eberhard von Künsberg, diesmal ohne „ß“, wurde auch Jurist und ein strammer Nazi dazu. Im Krieg führte er das „Sonderkommando Künsberg“ der SS, das kunstraubend und plündernd durch Frankreich und später durch die besetzten Gebiete der Sowjetunion und den Balkan zog. Dieser seiner raubenden Ahnen durchaus würdige Berufsmörder und Räuberhäuptling fand sein Ende wahrscheinlich im Januar 1945 in oder bei Budapest. 1943 hatte ihn das Auswärtige Amt übrigens zum Legationsrat befördert. Die mittelbaren Spuren seines „Wirkens“ führen bis ins Salzburgische: Im Salzbergwerk von Altaussee lagerte auch vom „Sonderkommando Künsberg“ Geraubtes. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wir bleiben im Ennstal. Die Architektin Margarethe Schütte-Lihotzky berichtet in einem Aufsatz für Friedrich Stadlers Sammelband „Vertriebene Vernunft“ von einer „Flaschenpost“ die ihr als Fund aus einem Radstädter Hausgarten in die Hände geriet. Ich zitiere mit allen Fehlern originalgetreu: „Dieser Bau wurde von der Fa. Pekoll in Schladming erbaut […] Die Arbeiter sind Sämtliche Hackenkreutzler und Judenfeinde. Sollte so ein Lump im Besitze dieses von deutschen Händen geschaffenen gelangen sollte er weder Rast noch Ruh haben den wir hassen die Juden und Schwarzen sowie Rotbonzen diese Volksbetrüger.“ Unterschrieben hat dieses Papier am 31. August 1931 im Namen auch von zehn Arbeitern der Polier Franz Pribik, offenkundig Mitglied der NSDAP. Das war keine leere Drohung, in dieser von der Krise hart gebeutelten Gegend –aufgrund der hohen Arbeitslosenzahlen war die Stadt 1932 zahlungsunfähig und konnte noch nicht einmal Brennholz für das Spital kaufen – hatten die Braunen leichtes Spiel: 1939 hatte Radstadt 2.783 Einwohner, im Jahr zuvor stimmten nur 9 Wahlberechtigte gegen den Anschluss an Deutschland.
Von den Folgen erzählt der Radstädter Kirchhof. Wenige Meter vom Grab der Künßbergs entfernt liegen der Bahnmeister i.R. Alois Stadler nebst Gattin Maria. Ihr Grabstein erinnert auch an Alois Stadler jr., Ingenieur und Flugzeugführer. Der Fähnrich einer Jagdstaffel fiel am 25. September 1940. Es waren die Tage der heftigsten Luftangriffe auf London. An der nördlichen Friedhofsmauer, es ist die Stadtmauer, findet sich das imposante Erbbegräbnis der Bauern- und Unternehmerfamilie Habersatter. Für Josef Habersatter gibt es eine kleine Gedenktafel „zur frommen Erinnerung“. Der Weißenhofsohn fand „am 30. April 1945 […] den Heldentod“. Er war keine 18 Jahre alt, das Foto zeigt ihn in der Uniform des Jungvolks. Nur ein wenig weiter ein Sammelgrab. Da liegen die, die im letzten Aufgebot – im oberen Ennstal konzentrierten sich Trümmer der 12. SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“ – Radstadt gegen die amerikanischen Truppen verteidigen wollten: der Marinehelfer neben der Flüchtlingsfrau, der Rottenführer neben dem (adligen) Major, der Hauptmann neben dem Obergefreiten. Sepp Habersatter ist in Istrien verscharrt. Max Stangl irgendwo in Karelien, der 27-jährige fiel im September 1941 „ an der Eismeerfront gegen den Bollschewismus“. Gegen den kämpfte auch der Bauernsohn Karl Thaler, der starb am 20. Dezember 1943 bei Saporoshe.
Der Friedhof dieser kleinen Stadt ist ein offenes Geschichtsbuch des großdeutschen Krieges gegen den Rest der Welt. Und diese liebevoll gepflegten Erinnerungsstätten widersprechen still aber nachdrücklich einer der Lieblingslegenden Österreichs, der Legende vom ersten Opfer Hitlers. 1973 errichtet die Stadtgemeinde auf ihrem Friedhof, dem mit den Urnengräbern, ein weiteres – unkommentiertes – Denkmal: „Den gefallenen Kameraden der Sturmartillerie“. Das Denkmal ziert ein Balken mit dem Eisernen Kreuz und den Jahreszahlen 1939 und 1945.
Die offizielle Internet-Seite der Stadt vermeldet, dem Zweiten Weltkrieg seien „183 Radstädter zum Opfer gefallen“. Darüber, was Radstädter in Gegenden anrichteten, in denen sie weiß Gott nichts zu suchen hatten – in Istrien, in Karelien, am Don oder in der Pannonischen Tiefebene –, darüber steht in den Chroniken nichts. Die Kriegsjahre sind weitgehend ausgeblendet worden. Ein Gang über den Kirchhof rund um die Stadtpfarrkirche ist da weit auskunftsfähiger.
Aber es gibt eine Versöhnungskirche in der Stadt. Die ist ein evangelisches Gotteshaus und soll an den 1528 umgebrachten Georg Scherer erinnern. Wer bittet hier eigentlich wen um Versöhnung? Die Kirche liegt an der Gaismairallee. Aber auch das hat genaugenommen nicht viel zu sagen. Der erwähnte Legationsrat von Künsberg kam als Angehöriger der 8. SS-Kavalleriedivision um. Die hieß „Florian Geyer“ und war unter den üblen Mördertruppen eine der übelsten.
Die Stadt strahlt Liebreiz aus. Ihre Geschichte macht nachdenklich.
Teil 1 in Das Blättchen 4/2014.
Schlagwörter: Faschismus, Österreich, Radstadt, Wolfgang Brauer