von Erik Baron
Vogel federlos hockt in der Ecke seines Käfigs und sinnt wehmütig über seine gescheiterten Flugversuche als Ikarus nach. Doch die Flügel wurden ihm, wie so vielen, gestutzt. Zurück bleibt die Erkenntnis: frei sein heißt ab jetzt alleine sein – so das bittere Resümee der namenlosen Ich-Erzählerin aus Helga M. Novaks autobiographischen Roman „Vogel federlos“, der 1982 (natürlich nur im Westen) erschien. Nach „Die Eisheiligen“, drei Jahre zuvor erschienen, setzte Novak der Hoffnung ihrer Protagonistin auf Befreiung ein jähes Ende. Die 1935 geborene Ich-Erzählerin war der Hölle ihres Adoptivelternhauses entflohen, suchte Zuflucht unter den Fittichen des neu gegründeten Staates DDR, begab sich voller Enthusiasmus in die Kaderschmiede der FDJ, um dort bald mit ihrer offenen Art, Fragen zu stellen und auf ihre Zweifel zu hören, anzuecken, bis sie federlos und einsam zurückblieb.
Helga M. Novak hatte mit „Die Eisheiligen“ und „Vogel federlos“ zwei autobiographische Romane vorgelegt, die an Härte, Schmerz und Melancholie kaum zu überbieten waren. Mit sprachlicher Wucht verdichtete Novak, von Hause aus Lyrikerin, Worte und Sätze zu Textblöcken und fertigte aus ihnen eine einzigartige Collage aus Prosa, Lyrik und Report, getragen von einer schier unbändigen Sehnsucht nach Emanzipation, die in Ernüchterung und schließlich in Melancholie umschlägt. Wer etwas über die Anfangsjahre der DDR und ihre Geburtsfehler erfahren will, kommt an diesen Romanen nicht vorbei.
Nunmehr, nach fast dreißig Jahren, kurz vor ihrem Tode im Jahr 2013, erscheint der lang erwartete letzte Teil der autobiographischen Trilogie von Helga M. Novak: „Im Schwanenhals“. Die Erwartungshaltung ist entsprechend hoch – wird aber, um vorzugreifen, enttäuscht. Wer die Fortsetzung ihrer sprachgewaltigen prosaischen Dichtung erwartet, muss sich nun mit linear erzählter Erinnerungsliteratur begnügen, einer Chronik, die teils als Roadmovie, teils als Tagebuch daherkommt. Nur selten findet Novak zurück zu ihrem dichten Sprachstil der beiden vorangegangenen Romane. Im Gegenteil: ihre nicht nachvollziehbaren Wechsel in den Zeitformen verwirren den Leser, der dahinter Absicht vermutet. Nein, Helga M. Novak setzt dieses durchaus probate stilistische Mittel keineswegs, wie zuletzt Christa Wolf in „Stadt der Engel“, als Annäherungsversuche an das frühere Ich ein. Sie ließ hier offensichtlich Tagebucheintragungen unbearbeitet in ihre Erinnerungen einfließen, und das Lektorat hat es nicht bemerkt oder beanstandet. Doch über den Sprachduktus ihres dritten autobiographischen Romans wird nur derjenige stolpern, dem die beiden ersten Bücher auch der Form nach den Atem verschlagen haben. Für die anderen reiht sich „Im Schwanenhals“ in die Reihe individueller DDR-Erinnerungen ein, die im Falle Helga M. Novaks natürlich eine äußerst spannende Lebensgeschichte darstellt und ein Stück DDR-Zeitgeschichte widerspiegelt.
Alles beginnt mit einer Lüge. Wir schreiben das Jahr 1954. Die Ich-Erzählerin steht vor der Aufnahmekommission zu ihrem Journalistikstudium in Leipzig und wird nach ihrem letzten Buch befragt, das sie gelesen hat. Ausgerechnet Nietzsches „Zarathustra“ war es, ein Buch, das auf dem Index steht! Natürlich kann sie dies nicht als Lektüre angeben, windet sich um die Antwort und nennt irgendetwas Belangloses. Diese Begebenheit, gleich zu Beginn des Studiums, ist bezeichnend für eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der man mit der Wahrheit schnell aufs politische Glatteis gerät. Doch dem Vogel federlos sind offenbar die gestutzten Flügel wieder nachgewachsen, er kann die offene Art, Zweifel zu formulieren nicht einfach unterdrücken – denn immerhin ist Helga M. Novak seit gut einem Jahr Mitglied der SED und möchte das widersprüchliche Experiment Sozialismus mit ihrem Tun vorantreiben. Und da ist das mit der Entstalinisierung in der UdSSR beginnende Tauwetter, das sich auch auf den übrigen Ostblock auszudehnen scheint und für gesellschaftliche Euphorie sorgt. Doch die Widersprüche dieses Experiments brechen alsbald unbarmherzig auf und stürzen auch die Ich-Erzählerin in eine tiefe Krise. Die Nachrichten aus Polen und Ungarn verheißen nichts Gutes und geben einen Vorgeschmack auf eine kommende Eiszeit: Meine Gutwilligkeit zerstob, befindet die Ich-Erzählerin. Der Drill im GST-Lager, ihr Verweis aus dem Studentenwohnheim wegen unmoralischen Verhaltens bis hin zum FDJ-Tribunal, treiben sie wieder in die Ecke, wie seinerzeit Vogel federlos. Hier, in der Erinnerung an das bedrückende FDJ-Tribunal, findet Helga M. Novak auch die adäquate Form verdichtender Sprache. Hier hämmert der Rhythmus im Takt der Reglementierung. Hier steckt die Ich-Erzählerin fest in jenem Fangeisen, Schwanenhals genannt, das die Jäger als Fallen aufstellen. Ein mörderisches Instrument. Oftmals ziehen die gefangenen Tiere das Eisen bis zum Tode hinter sich her. Manche beißen sich den eigenen Fuß ab, um irgendwie frei zu kommen. Hinzu kommt die erpresserische Anwerbung zum IM der Staatssicherheit – mit dem Totschlagargument: Du bist doch für den Frieden?! Also tu was dafür! Da sie mit einem isländischen Studenten befreundet ist, möchte die Stasi gern näheres über die isländischen Kommilitonen erfahren. So unterschreibt die in die Ecke Gedrängte die IM-Verpflichtung mit Verschwiegenheitserklärung – und bespricht diese Anwerbung sogleich mit ihrem Freund, der empört seine Kommilitonen informiert. Danach geht alles sehr schnell. Die Ich-Erzählerin tritt nach dem FDJ-Tribunal aus der Partei aus, wird daraufhin exmatrikuliert und reist mit ihrem Freund Steinar aus panischem Selbsterhaltungstrieb im Dezember 1957 nach Island aus. Eine überstürzte Flucht, die sie alsbald bereuen wird, treibt sie doch das Heimweh, die Sehnsucht nach ihren Freunden und der Sprache auch in Island in die Einsamkeit. Nach nur vier Monaten kehrt die Protagonistin in die DDR zurück, geläutert, wie es scheint, und schwanger. Ich mußte endlich einmal in die Knie gehen… Mir ist, als sei ich von einer langen Krankheit gesund geworden, schreibt sie ihrer Freundin Tonka nach Leipzig. Sie verdingt sich als Fließbandarbeiterin im Werk für Funk- und Fernsehtechnik, arbeitet im Schichtbetrieb, bringt ihren Sohn Alexander zur Welt, scheint in der DDR anzukommen. Doch dann, im Herbst 1960, das Staatsbegräbnis für Wilhelm Pieck, ein martialisch-militärischer Festzug, dem sie mit ihrem zweijährigen Sohn beiwohnt und sich beim Anblick der militärischen Formationen schwört, dass ihr Sohn niemals Soldat werden soll. Sie heiratet Örn, den isländischen Vater ihres Sohnes, und kehrt der DDR erneut den Rücken, um nach Island auszureisen. Erneut ein überstürzter Entschluss, bedenkt man, dass sie mittlerweile zwei Jahre in der DDR verlebt und am durch und durch politisierten gesellschaftliche Leben teilgenommen hat. Und da soll ein einziger Militärumzug ausgereicht haben, in Panik zu verfallen und die DDR erneut fluchtartig zu verlassen? Hier scheint mir eher der von ihr selbst diagnostizierte Fluchtimpuls gewirkt zu haben, ein reflexartiger Impuls, der Vogel federlos immer wieder aus seiner Ecke getrieben hat. Dieser Fluchtimpuls lässt die Ich-Erzählerin nie sesshaft werden, sie ist geradezu bindungsunfähig, kann nicht einmal ihre eigenen beiden Kinder annehmen (Hab bis heute nicht den blassesten Schimmer, was Mutterliebe ist). Immer wieder treibt es sie weg von dem Ort, an dem sie sich gerade aufhält.
Nach anderthalb Jahren Island, wo sie sich den Lebensunterhalt in einer Fischfabrik verdient und nebenher Gedichte schreibt, die sie im Eigenverlag herausgibt, fährt sie mit Dagur, einem isländischen Künstler, quer durch Italien, um in Sizilien das Gegenteil vom nordischen Island zu erleben – ein bohemehaftes Leben in Armut und Hunger. Bis sie einen westdeutschen Verlag findet, der ihren Gedichtband herausgeben will. Nun scheint sie am Ziel ihrer Wünsche zu sein. Und da ist ja immer noch die DDR, von wo sie neuerdings wieder hoffnungsvolle Nachrichten erfährt: ein neues Tauwetter soll dort eingesetzt haben, ein gewisser Robert Havemann hatte gar eine Vorlesungsreihe an der Humboldt-Universität gehalten, die im Westen unter dem Titel „Dialektik ohne Dogma“ erschienen ist, ein Buch, das die Protagonistin begierig verschlingt und den neuerlichen Entschluss fasst, in die DDR zurückzukehren. Diesmal endgültig. Sie lässt sich im Herbst 1965 am Literaturinstitut Johannes R. Becher immatrikulieren (mit Doppelpass DDR und BRD; den isländischen Pass hatte man ihr bisher verweigert). Doch wieder schlägt das Tauwetter um, und es bildet sich ein kulturpolitischer Orkan heraus. Am 14. Dezember 1965, einen Tag vor dem 11. Plenum der SED, dem berüchtigten Kulturplenum, wird die Ich-Erzählerin exmatrikuliert und kurze Zeit darauf aus der DDR ausgewiesen – zehn Jahre vor Wolf Biermann. Es bleibt ihr der Weg zurück nach Island und zu ihrer Arbeit in der Fischfabrik.
An dieser Stelle lässt Helga M. Novak ihre Erinnerungen ausklingen, fügt jedoch, in groben Zeitsprüngen, zwei weitere Themenkomplexe an: das unsägliche Nach-Wende-Kesseltreiben gegen Sascha Anderson, initiiert von Wolf Biermann, von dem sie sich ausdrücklich distanziert. Diese selbstgerechte Art von Vorverurteilung eines jeden Stasi-Spitzels geht der selbst Betroffenen gegen den Strich. In einem Offenen Brief an Wolf Biermann, Sarah Kirsch und Jürgen Fuchs im Herbst 1991 bekennt sie: Ich war auch mal ein Spitzel! Die „Einsamkeit der weißen Weste“ paßt mir also nicht. Und sie erinnert daran: Komplizen waren wir alle. Aus Befürchtung, selbst in jenem Kesseltreiben aufgerieben zu werden, geht sie in die Offensive – ein mutiger Schritt, der ihr den kalten Nach-Wende-Wind ins Gesicht blasen soll.
Ein nicht minder beschämendes Thema ist ihr vergeblicher Versuch nach der Jahrtausendwende, die deutsche Staatsbürgerschaft zurückzuerlangen. Sie scheitert mit diesem Versuch an der deutschen Bürokratie, in deren Augen, sie eine Isländerin ist, die versucht, wie alle Ausländer auch, mir einen deutschen Paß zu erschleichen und den Sozialstaat auszubeuten. Dann verzichtet sie lieber darauf. Wie hatte sie doch 1991 in ihrem Offenen Brief an den Spiegel geschrieben, frei von jeglichen Rachegelüsten: Und eher will ich im polnischen Wald verbluten, als mich auf einen deutschen Richterstuhl setzen. Nun ist sie verblutet, ein Leben lang im Schwanenhals festgesteckt.
Am 24. Dezember 2013 ist die Weltbürgerin Helga M. Novak nach langer, schwerer Krankheit gestorben.
Helga M. Novak: Im Schwanenhals, Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt/Main, August 2013, 346 Seiten, 21,95 Euro.
Schlagwörter: DDR, Erik Baron, Helga M.Novak, Island