17. Jahrgang | Nummer 6 | 17. März 2014

Gibt es doch fremdes Leid?

von Gerhard Röpcke

Dass die Bibel nicht nur für Christen eine elementare kulturelle Bedeutung hat, ist vermutlich unstrittig. Das gilt auch dann, wenn die Heilige Schrift in diverser Hinsicht Widersprüchliches auszusagen weiß. Befürwortet zum Beispiel das Alte Testament das archaische Rachepostulat von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, so empfiehlt Jesus von Nazareth im Neuen Testament dem Geschlagenen, seinem Kontrahenten widerstandslos auch noch die andere Wange zum Schlag hinzuhalten.
Letzteres ist umgangssprachlich zur geläufigen Deutung dessen geworden, was man Pazifismus nennt. Und dieses Denken wirkt – auch ohne Bibelbezug – noch heute verbreitet fort: Jede Gewalt ist abzulehnen! Dieses Prinzip hat den unbedingten Vorzug, dem Menschen in seinem privaten und gesellschaftlichen Miteinander dienlich und schon deshalb erstrebenswert zu sein; auch als politisches Paradigma bietet es sich förmlich an.
Folgt man der biblischen Empfehlung indes nicht, so wird es zugegeben gelegentlich schwierig, zu bestimmten politischen Vorgängen das zu beziehen, was man „eine unerschütterliche Position“ nennt. Auf die derzeit zu Recht heiß diskutierte Frage der Berechtigung internationaler militärischer Eingriffe in die Vorgänge anderer Staaten bezogen könnte das eigene Nachdenken dazu führen, dass ein solches Vorgehen in jedem Einzelfall zumindest zu prüfen ist – dann, wenn vorausgehende politische Einflussnahme zur Abwendung von Gewalt sich als fruchtlos erwiesen hat und eine ultima ratio vonnöten ist.
Natürlich muss bis zur Neige ausgeschöpft werden, was gewaltlose Lösungen von Konflikten denkbar macht. Ebenso natürlich bleibt aber möglicherweise irgendwann nur noch die Alternative: Zusehen, wie Menschen massenhaft abgeschlachtet werden, oder solchen Blutrausch per Eingriff stoppen und viele Menschenleben retten.
Nur so sind immerhin zehntausende Kambodschaner durch den vietnamesischen Militäreinsatz gegen das Pol-Pot-Regime davor bewahrt worden, heute in den Beinhäusern der ermordeten Landsleute aufbewahrt zu werden. Nur so sind nicht noch mehr als die fast eine Million Tutsi in Ruanda hingemetzelt worden. Wenigstens Frankreich hatte sich entschlossen, das Morden dort zu stoppen. Nur so ist es in Darfur nicht noch schlimmer gekommen. Und wohl nur so ist auch in Mali ein sich anbahnender Genozid aufgehalten worden.
Hat je ein Linker den humanistischen Hintergrund von Gründung, Existenz und Bedeutung der Internationalen Brigaden im Spanien der 1930er Jahre – wenngleich deren Heroik erfolglos blieb – angezweifelt? Und war das nicht auch ein militärischer Eingriff in die inneren Belange eines Staates? Der unternommen wurde, da sich die eingriffsfähigen Nachbarstaaten durch das Weltbund-Diktum der Nichteinmischung gebunden sahen? Und sollte wirklich denkbar sein, dass jemand die Rettung einer „Sache“ (damals der jungen spanischen Linksdemokratie) vor dem Klassenfeind für akzeptabel hält, die Rettung von Menschenleben jedoch nicht, wenn damit nicht gleichzeitig eine „Sache“ zu schützen ist?
Gewiss kann man sich nach wie vor auf den Standpunkt stellen, eine militärische Option sei grundsätzlich zu verwerfen, da sie keine Probleme löst. Das ist zutreffend, ändert es aber etwas am sehr wohl humanistischen Ergebnis solcher Aktionen?
Gewiss kann man darauf verweisen, dass bei den Interventen ja bei alledem auch quasi-imperialistisches Kalkül obwaltet. Die daran anknüpfende Frage ist aber die gleiche wie im Absatz zuvor.
Der ungarische Publizist György Dalos hat einst eine Feststellung getroffen, über die es sich – auch im Kontext des hier Erwogenen – vielleicht doch nachzudenken lohnt: „Ich bin ein Linker in meinen kulturellen Reflexen, möchte jedoch diese Haltung nicht ohne Reflexion über mich ergehen lassen. Dementsprechend muss ich für den GAU gerüstet sein, wenn etwa ein Konservativer plötzlich Recht hat oder ein Vertreter des Fortschritts eine enorme Dummheit präsentiert. Jenseits dieser traditionellen Sicht fühle ich mich jenen Paradiesvögeln verpflichtet, die in einer Frage so, in einer anderen wiederum anders denken. Andersdenken ist für mich nicht nur eine Form der ideologischen Devianz, sondern auch das Recht, über etwas anderes als die Themen des gängigen Diskurses nachzudenken.“ Genau das ist ein Dilemma, vor dem wohl jeder steht, der sich nicht allein an den Geländern von Prinzipien und Paradigmen durchs Leben bewegen mag. Das Dumme ist nur, dass sich dieses Leben – wie es scheint –immer wieder mal unterhalb des Niveaus unserer Prinzipien abspielt.
Um auf jemanden zurückzugreifen, dem das Blättchen gewiss sehr nahe steht und der gern als ausgewiesener Pazifist bemüht wird – wenn Kurt Tucholsky, und mit ihm die Weltbühne, sich ausdrücklich dem Pazifismus verpflichtet gefühlt haben, so ging es ihm und der Zeitschrift nicht um das von Jesus angebotene Verständnis, sondern um eine revolutionäre Interpretation dieser Haltung, die er mit Bedacht als „militanten Pazifismus“ bezeichnete. „Es gibt nur eine Sorte Pazifismus: den, der den Krieg mit allen Mitteln bekämpft. Ich sage: mit allen, wobei also die ungesetzlichen eingeschlossen sind; denn es kann von der Rechtsordnung des Nationalstaates, der auf der Staatenanarchie beruht, nicht verlangt werden, daß sie die Kriegsdienstverweigerung anerkennt – es wäre Selbstmord. Also müssen wir dem Staat, bis sich die Erkenntnis vom Verbrechen des Krieges allgemein Bahn gebrochen hat, ein wenig nachhelfen – mit allen Mitteln.“ (Ignaz Wrobel: Gesunder Pazifismus). Und Kurt Hiller, ebenfalls prägender Autor der Weltbühne und Begründer der „Gruppe Revolutionärer Pazifisten“ – der auch Tucholsky angehörte – postulierte: „Gewaltloser Pazifismus ist gut als Beschreibung eines Endzielzustandes, als visionäre eschatologische Malerei, nicht als Anleitung zum Handeln morgenfrüh. Und nennt dieser Pazifismus sich selber ‚radikal‘, so muss gesagt werden, dass er radikal ausschließlich in seiner Verwirklichungs-Unfähigkeit, in seiner politischen Impotenz, in seiner Ohnmacht gegen die menschliche Bestie ist. […] Der revolutionäre Pazifismus hat immer wieder ausgesprochen, dass Pazifismus eine Doktrin des Ziels, nicht des Weges ist; dass der Weg zum Ziel durch Blut führen kann.“ (Kurt Hiller: Ist der Pazifismus tot?)
Angeführt sind diese Rückgriffe auf Weltbühnenautoren nun nicht, um sie als sakrosanktes Finalverständnis der „letzten Dinge“ zu ge- und somit zu missbrauchen. Als prüfender Abgleich zu einer heutigen Auffassung wie der, lieber naiv zu sein als ein realpolitischer Kriegstreiber, eignen sie sich vielleicht dennoch. Es sei denn, man folgt in atheistischer Auslegung denn doch dem Diktum des salomonischen Spruches, zugunsten einer Ideologie auf den eigenen Verstand zu verzichten.
Geschehen ist dies in linken Lagern leider schon oft und mit letalen Folgen für viele Menschen. Erinnert sei hier nur an die Haltung der „Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (KAP) – als linke Abspaltung der KPD –, die eine Beteiligung an der weltweiten Hilfsaktion für das hungernde Russland der Jahre 1921/22 (rund zwei Millionen Tote) mit der Begründung ablehnte, dass es sich dabei um ein „sozialdemokratisches und opportunistisches“ Unterfangen handele, und der einzige Weg zur revolutionären Hilfe die proletarische Revolution in allen kapitalistischen Ländern sei.
Oh ja – man kann und muss einem Gros jener Staaten, die heute eilfertig mit Kriegseinsätzen operieren, vorwerfen, dass sie wenigstens in der Vergangenheit einen nicht eben geringen Anteil am Werden dieser Konflikte haben, in die sie nun eingreifen. Und auf diese Mitschuld muss immer und immer wieder hingewiesen werden. Aber stoppt diese auch noch so zutreffende Anklage und der Hinweis darauf aktuelles Massenmorden?
„Es gibt kein fremdes Leid“ heißt ein Buch von Konstantin Simonow, das im ostelbischen Deutschland einst eine große Leserschaft hatte. Die Interpretation dieser Erkenntnis war seinerzeit immer auch eine ideologische. Vielleicht ist es an der Zeit, eine solche Betrachtungsweise zu überwinden. Aufgeben muss man das ethische und politische Prinzip der Ablehnung von Krieg und Gewalt deshalb nicht.