von Sarcasticus
Sch…-Sarrazin! Da kann die Contenance schon mal auf der Strecke bleiben, wenn für einen potenziellen Schaden in Höhe von 204 Millionen Euro wahrscheinlich nicht die Verursacher – unter ihnen an vorderster Stelle der frühere Berliner Finanzsenator und Aufsichtsratschef der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), Thilo Sarrazin – zur Kasse gebeten werden, sondern – wie das im Land der sozialisierten Verluste so Usus ist – Otto Normalverdiener. Und der dann gleich zweifach: als Steuerzahler, der den ÖPNV alimentiert, und als Berapper regelmäßig erhöhter Fahrpreise bei der Nutzung desselben. Das könnte jedenfalls die Konsequenz aus dem Fall J. P. Morgan versus BVG sein, der am Londoner High Court anhängig ist.
Die Vorgeschichte liest sich so unglaublich, wie sie wahr ist. In den Goldgräberjahren vor der jüngsten globalen Finanzkrise wollten die Oberen der BVG, dass das Unternehmen auch vom großen Roulette an den internationalen Finanzmärkten profitiere. Deshalb hatten sie zwischen 1997 und 2002 427 neue U-Bahnwagen und 511 Straßenbahnen mittels sogenanntem Cross Border Leasing finanziert: Die neuen Fahrzeuge wurden an US-Investoren verkauft und zurück gemietet. Ein Geschäft nicht ohne Risiken – aber nichts im Vergleich zu der bösen Falle, in die das Unternehmen taumelte, als man eben diese Risiken durch ein weiteres Geschäft reduzieren wollte. Man ließ sich dabei nämlich von der Investmentbank J.P. Morgan ein oberfaules Ei, eine synthetische CDO (Colleteralized Debt Obligation) ins Nest legen.
Zur Erinnerung: Warren Buffet bezeichnete sogenannte Derivate, zu denen die CDOs zählen, als finanzielle Massenvernichtungswaffen. Vor allem amerikanische Investmentbanken hatten seinerzeit globale Kreditrisiken zu Paketen verschnürt, den CDOs, und diese Anlegern angeboten. Damit die die Ausfallrisiken übernehmen. Das konnte man denen natürleich nicht so direkt sagen, deshalb wurde die Struktur der CDOs gezielt undurchschaubar gehalten, mit jeder Menge Kleingedrucktem ummantelt, auf dass die verklausulierten kritischen Punkte, soweit überhaupt vorhanden, darin untergingen, und überdies wurde der letzte Rest von möglichem Anlegerverstand damit sediert, dass man diese CDOs nicht im klassischen Sinne kaufen musste, sondern für deren „Entgegennahme“ vielmehr eine üppig scheinende Gebühr erhielten. (Die BVG strich 7,8 Millionen Dollar ein.)
Im Kern allerdings waren die CDOs eine Wette darauf, dass die darin verschnürten Unternehmen nicht pleitegingen. Den Anlegern gegenüber, wenn die solche Details überhaupt wissen wollten, wurde das Konkursrisiko als ein quasi bloß theoretisches heruntergespielt. Schließlich handelte es sich um gestandene Unternehmen mit so wohlklingenden Namen wie etwa Lehman Brothers. Die isländische Kaupthing-Bank war ebenfalls dabei …
2006 offerierte J.P. Morgan der BVG ein entsprechendes Geschäft. „Ich bin sicher, die können keine CDO durchrechnen“, signalisierte damals einer der Verkäufer in seiner Hierarchie nach oben. Wie Recht er hatte, offenbart das Transkript der BVG-Aufsichtsratssitzung vom 25. April 2007, auf der das Geschäft im Turbomodus durchgewinkt wurde. Als neunter Tagesordnungspunkt.
„Ja … oh … Was haben wir denn hier? Ja. Oh, das war diese Rätselvorlage“, eröffnete Sarrazin, um anschließend freimütig zu bekennen: „Ich wäre ein Angeber, wenn ich behaupten würde, ich hätte sie vollständig verstanden.“ Was lag da näher, als sich an den damaligen Vorstandsvorsitzenden der BVG, Andreas Sturmowski, zu wenden, der den Deal vorgeschlagen hatte: „Ich bitte Sie einfach um die Bestätigung […], dass mit dem Geschäft nach Ihren Erkenntnissen und nach der Versicherung Ihrer Bank keinerlei Risiken verbunden sind, denn darum geht es ja, ne?“
Soweit, so ungeheuerlich, aber zumindest sprachlich noch verständlich. Dann Sturmowski, kryptisch: „Es geht hier darum, dass eine Umschuldung vorgenommen wird, ähm, in diesem Kreis, dass es darum geht, dass, äh, die US-Bilanzierung, ähm, wie das in Deutschland übrigens auch nicht anders ist, gebundene Mittel, äh, berücksichtigt, von der Credit Suisse runterkommen möchte, ähm, und aus diesem Grund diese Umschichtung erfolgt.“ Alles klar?
Über die Verhandlungen mit J.P. Morgan verlor Sturmowski auch noch ein Wörtchen: „Die Menschen, die uns gegenübersaßen, hatten schwarze Anzüge an und dunkle Brillen, äh, was aber durchaus auf Seriosität schließen ließ.“ Da hätte es seiner Versicherung, dass „das Ganze auf hohem Sicherheitsniveau stattfinden“ werde, an sich gar nicht mehr bedurft. Sturmowski bat „um die Genehmigung dieser Transaktion“. Sarrazin rief zur Abstimmung auf. Keine Gegenstimmen. „So, also, okay, dann haben wir das so beschlossen“, konstatierte der Aufsichtsratschef. Die Dauer dieses Tagesordnungspunktes: vier Minuten.
Wer auf eine solche Weise ein derartiges Geschäft abschließt, der ist entweder in den Bereichen seiner grauen Substanz, wo die professionelle Kompetenz zu Hause sein soll, hirntot oder er wurde durch „Landschaftspflege“ zuvor konditioniert, sich genauso zu verhalten, wie es in diesem Falle der Fall war. Da Sarrazin lesen, schreiben und zusammenhängend formulieren kann und überdies damals von sich behauptete „Bei mir stimmen alle Zahlen“, kommt für ihn die strafmildernde Gefälligkeitsdiagnose „hirntot“ eher nicht infrage. Aber korrupt? Er mag ja ein formidabler Kotzbrocken sein und, wie man aus seinen sich häufenden Buchveröffentlichungen inzwischen weiß, intellektuell keineswegs auf der Höhe wandeln, auf der er sich selbst wähnt, doch bestechlich? Vielleicht gibt es ja noch ein drittes mögliches Erklärungsmuster für die der Olsenbande zur Ehre gereichende Dramaturgie der BVG-Aufsichtsratssitzung vom 25. April 2007 …
Doch zurück zu jenen schicksalsträchtigen vier Minuten. Es wurden die kostspieligsten in den Annalen der BVG. Mit dem Kollaps des amerikanischen Hypothekenmarktes und dem damit in Gang gesetzten globalen Crash wurden anderthalb Jahre später aus einem quasi bloß theoretischen Risiko ganz handfeste Verluste – in Höhe von 204 Millionen Dollar. Die Wette war verloren. Zahltag für die BVG.
Die weigerte sich, und seither klagt J.P. Morgan. Selbst die Anwälte der Bank bezweifeln zwar, wie dem bei Gericht eingereichten Schriftsatz zu entnehmen ist, dass Sarrazin den Deal begriffen hatte, und der oben zitierten Einlassung Sturmowskis verpassten sie das adelnde Prädikat „konfus“. Aber das hätte die BVG nicht von dem Geschäft abgehalten. Daher sei zu zahlen.
Die Verteidigungsstrategie der BVG entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, lässt sie sich doch auf die Kurzformel bringen: dämlich, also nichtig. Die Anwälte des Unternehmens machen geltend: Der zuständige Mitarbeiter der BVG – seiner E-Mail-Signatur zufolge „Experte für Finanzprodukte“ – habe einem Kollegen gegenüber gestanden, die BVG „verstehe nicht, was genau wir unterschreiben“. Er habe angenommen, dass die BVG nur dann zahlen müsse, wenn alle 150 in der CDO verpackten Unternehmen – wie Lehman Brothers von Ratingagenturen übrigens mit Triple-A, der höchsten Note, bewertet – in Konkurs gingen. (Im richtigen Leben genügten einige wenige Pleiten.) Daher sei die BVG-Unterschrift unter den Deal als ultra vires zu bewerten – das heißt im juristischen Fachjargon „vollmachtüberschreitend“ –, und der Vertrag sei somit nichtig.
Man darf gespannt sein, ob ein Gericht am Finanzplatz London dieser Logik folgt. Thilo Sarrazin hat aus der Sache aber offenbar schon etwas gelernt. Verallgemeinernd verkündet er heute jedenfalls zwischen Buchdeckeln, dass „viele Vermögen untergehen, weil wirtschaftliche Aktivitäten scheitern“.
So gesehen hat die BVG ja nochmal Schwein gehabt. Und eine gute Nachricht für die ÖPNV-Nutzer gibt es auch: Dem Vernehmen nach sollen die Fahrpreise in Berlin erst 2015 wieder steigen.
P.S.: Thilo Sarrazin hat inzwischen vor dem High Court in London ausgesagt, unter anderem dieses: „Es war meine Aufgabe als Senator, mich um das Wohlergehen dieser Betriebe zu kümmern. Insofern, immer wenn das Management eines dieser Betriebe auf mich zukam und mir einen Vorschlag unterbreitete, wie es die Finanzsituation verbessern konnte, hatte es mich auf seiner Seite.“
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