von Frank-Rainer Schurich
So sang die österreichische Pop-Rock-Band „Erste Allgemeine Verunsicherung“ in ihrem Lied vom Banküberfall, der aber ein Happyend findet – wenn’s schon nichts zu holen gibt, dann wird eben eingezahlt! Das Böse also in einer heiteren Miniaturausgabe.
Das wirkliche Böse hat ganz andere Dimensionen. Wir fragen uns fast täglich, wie das Böse auf die Welt kommt. Und was macht das dann, wenn es da ist? Und wie gehen wir mit dem Bösen um, wenn wir es endlich entdeckt haben? Die Gerichtsreporterin Uta Eisenhardt hat in ihrem neuen faszinierenden Buch „Jenseits von Böse“ versucht, auf diese schwierigen Fragen ein paar vorsichtige Antworten zu finden.
Der Untertitel verspricht kranke Verbrechen und die krassesten Fälle, und er verspricht nicht zu viel. Uta Eisenhardts Worte sind trotzdem immer sachlich gesetzt in einer wohltuenden und notwendigen Distanz zum oft grausigen Geschehen. Und man merkt, dass sie ein Herz hat für alle Beteiligten, für die Opfer, ihre Familienangehörigen, die Zeugen, die Richter, die Gutachter, für die Mitarbeiter im Maßregelvollzug. Und sie macht sich sensible Gedanken über die Täter, die zum Teil psychisch schwerstkrank sind. Und sie fragt immer, ob sie therapierbar seien und wann sie vielleicht einmal wieder auf freiem Fuß sind.
Psychopathen, Wahnsinnige eben, die solche unfassbaren Verbrechen begangen haben. Und die nicht ins Gefängnis kommen, sondern in forensisch-psychiatrischen Krankenhäusern, im sogenannten Maßregelvollzug, untergebracht sind. Etwa 8.000 solcher Patienten, ungefähr 800 Frauen darunter, leben dort zurzeit deutschlandweit. Sie sind vermindert schuldfähige oder gar schuldunfähige Straftäter, weil sie nicht erkennen konnten, dass sie etwas Unrechtes getan haben. Und wenn doch, waren sie dennoch zum Verbrechen bestimmt, von ihren Trieben hingerissen worden, weil sie zur Tatzeit schwachsinnig oder psychisch krank waren, schwere Persönlichkeitsdefizite aufwiesen oder an einer sexuellen Abweichung litten.
Ein 23-Jähriger, ein „Loser der Nation“, wie er sich selbst bezeichnet, schmächtig, schüchtern, stotternd, will endlich zeigen, was in ihm steckt. Ein Verbrechen begehen, das sich kaum einer traut. Keine Scheußlichkeit wird er dabei auslassen. Er tötet einen jungen Mann, schneidet ihm Penis und Hodensack ab, entnimmt dem warmen Körper die Organe und zerstückelt die Leiche. Bei ihm wird eine selten auftretende schizoide Persönlichkeitsstörung festgestellt; eine Todesliste mit möglichen Kandidaten gibt es auch schon. Mindestens 14 Jahre wird der Mörder im Maßregelvollzug einsitzen, die Verteidiger sind zufrieden, denn dort kann er besser therapiert werden als im Gefängnis.
Ein 34-jähriger Nekrophiler treibt auf Friedhöfen sein Unwesen, bettet Leichen um, vergeht sich an ihnen und benutzt deren Wäsche als Fetisch, schneidet den Frauen die Brüste ab. Am liebsten, so gesteht er später dem Psychiater, hätte er noch seinen Penis in die Scheide der Leiche gesteckt, aber er traut sich nicht. Er hätte gelesen, dass sich dabei der Penis einklemmen könnte. Neben einer Persönlichkeitsstörung mit schizoiden Anteilen wird bei ihm eine Störung der sexuellen Präferenz festgestellt, einer Paraphilie (einem krankhaften Abweichen von der Norm) in Form einer Nekrophilie. Drei Jahre lebt er in einer forensischen Klinik und wird als geheilt entlassen. Aber das Böse schlägt wieder zu, er wird gefasst und verbringt 13 Jahre im Maßregelvollzug, dann kommt zur Bewährung frei. Er wird psychotherapeutisch behandelt und erhält triebdämpfende Medikamente. Diesmal scheint es gut zu gehen…
Ein Chirurg tötet eine Prostituierte, weil sie mitbekommt, dass bei ihm nichts läuft, weder auf die französische Tour noch im Handbetrieb. Die „Drogennutte“ muss sterben! Vier weitere Frauen können sich gerade noch retten. Eine schizoide Persönlichkeitsstörung wird auch ihm bescheinigt, der Gutachter klassifiziert ihn als Sadisten, allerdings keinen, der sexuelles Vergnügen dabei empfindet, seine Opfer zu quälen. Vielmehr reagiere er bei sexueller Frustration außerordentlich aggressiv. Er landet lebenslänglich im Maßregelvollzug, wodurch er frühestens nach 15 Jahren seine Entlassung beantragen kann. Und für die Zeit danach hat seine Mutter bereits einen Plan: „Die Weibergeschichten werde ich ihm schon noch austreiben!“
Das sind die Fälle, die Uta Eisenhardt vor uns ausbreitet. Und sie schreibt auch von Schwächen im System, wenn zum Beispiel Menschen mit chronischen Psychosen nicht mehr ausreichend behandelt werden, weil die „zivile“ Psychiatrie unter den Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen leidet. Oder wenn ein „Rückfall“ auch daran liegt, dass „Prognoseteams“, deren Mitglieder den Patienten kaum kennen und an einem Tag auch gar nicht näher kennenlernen können, über dessen „Lockerungen“ entscheiden (zum Beispiel unbegleitete Ausgänge). Oder wenn sich ein psychisch kranker Sexualstraftäter um einen Einzeltherapeuten bemüht, aber keinen findet – er wird also untherapiert bleiben.
Uta Eisenhardt spricht mit drei Patienten, einem Pfleger, einem Psychiater in der forensischen Klinik, einer Rechtsanwältin, zwei Richtern, einer Psychotherapeutin und einem psychiatrischen Gutachter. Die zwischen den Fällen abgedruckten Gespräche geben zusätzliche Informationen und ziemlich ehrliche Selbstkundgaben, zum Beispiel wenn der Gutachter überhaupt keine Lust verspürt, als Entertainer instrumentalisiert zu werden – seine Aufgabe sei ohnehin schwierig genug. Und der Gutachter ist froh, nicht fürs Bestrafen zuständig zu sein: „Ich beneide unsere Richterschaft nicht darum, sich auf einen bestimmten Tatablauf festlegen zu müssen. Oft wissen das nicht einmal die Täter oder die Opfer einer Straftat.“
Das Statement am Ende seines Interviews erklärt (fast) alles: „Ich habe am liebsten mit der neuen Generation der Richter zu tun, die sind aufgeschlossener. Die gucken, wen sie als Angeklagten vor sich haben. Da hat unsere Branche sicherlich einiges dazu beigetragen. Diese Richter suchen nach einer angemessenen Lösung – für die Gesellschaft, für die Wahrung der Rechtsordnung, zur Förderung des Gefangenen, zum Opferausgleich und zur Verhinderung eines Rückfalls. Das sind Aspekte, die heute sehr ausgewogen nebeneinanderstehen. Die Verhandlungen sind in vielerlei Hinsicht lösungsorientierter geworden – nicht im Sinne eines schnellen Verfahrens, sondern mit dem Ziel, ein gutes Ergebnis für alle Beteiligten zu finden. Bei dieser neuen Richtergeneration herrscht jedenfalls nicht mehr dieser alttestamentarische Gedanke von Rache und Vergeltung.“
Ende gut, alles gut in dieser Welt des Bösen? Leider nein. Immer wieder gibt es fatale Fehleinschätzungen, weil normale Menschen plötzlich ganz böse sind. 1994 wäre zum Beispiel der international bekannte Münchener Kunsthändler Eberhardt Herrmann fast in der Psychiatrie gelandet – per Ferndiagnose des Münchener Psychiaters Prof. Hans-Jürgen Möller, der sich in den entscheidenden Punkten nur auf die Aussagen der Ehefrau verließ (stern 47/1997). Dabei sind Psychiatrisierung und Kriminalisierung namentlich im Rahmen ehelicher Auseinandersetzungen historisch wie auch zeitgenössisch beliebte Waffen, wie der Schweizer Psychiater Jürg Good kritisiert: „Es ist ein Schulbuchbeispiel dafür, welche schlechte Arbeit von einer international bekannten Größe auf dem Gebiet der Psychiatrie geleistet werden kann.“ In diesem Zusammenhang muss unbedingt auch an den aktuellen Fall Gustl Mollath erinnert werden (Das Blättchen 18/2013), der ebenfalls von ehelichen Streitigkeiten angetrieben wurde – mit einem sehr fraglichen psychiatrischen Gutachten und einer überhaupt nicht mehr unabhängigen Justiz.
Das ist aber nur eine Seite der Medaille, das vermeintlich Böse. Fatale Fehleinschätzungen gibt es auch beim wirklichen Bösen. Früher galten Sexualstraftäter immer und in jedem Fall als therapierbar. Das hat sich als Irrtum herausgestellt, denn wenn das Böse bleibt, muss die Gesellschaft geschützt werden. Eine Lektion, die man auch in der Forensischen Psychiatrie Eickelborn gelernt hat. Der unbegleitete Ausgang eines Sexualstraftäters führte 1994 direkt in die Katastrophe. Er ermordete ein siebenjähriges Mädchen aus Eickelborn, nur wenige Meter von der Anstalt entfernt …
Das Böse ist immer und überall, und alle müssen besser lernen, mit ihm umgehen zu können. Uta Eisenhardt hat uns mit ihrem Buch dabei geholfen.
Uta Eisenhardt: Jenseits von Böse. Kranke Verbrechen – die krassesten Fälle einer Gerichtsreporterin, Wilhelm Heyne Verlag, München 2014, 303 Seiten, 8,99 Euro.
Schlagwörter: Frank-Rainer Schurich, Maßregelvollzug, Psychiatrie, Uta Eisenhardt, Verbrechen