17. Jahrgang | Nummer 5 | 3. März 2014

Berliner Wohnungsnot

von Ulrike Steglich

17 Quadratmeter sind für zwei Stallhasen eine geradezu luxuriöse Fläche. Wer Tiere liebt und solvent ist, kann dafür auch schon mal ein bisschen investieren.
Die Frage ist nur, was die Karnickel dann mit der Einbauküche und der Duschkabine anfangen. Und ob die Hoppelhäschen tatsächlich die ersten sind, wenn es darum geht, beim Wettlauf um dieses schöne Domizil die Mieter-Selbstauskunft, den Identitätsnachweis und die „letzten drei Gehaltsnachweise oder Einnahmennachweis vom Steuerberater aus selbstständiger Tätigkeit oder sonstigen Kapitalnachweis oder Bürgschaft beizubringen“.
Denn die „stilvolle Wohnung“ am Berliner Engeldamm 28, die im Internet für 450 Euro monatlicher Warmmiete angeboten wird, ist allen Ernstes für Menschen gedacht. 17 Quadratmeter, auf denen Duschkabine, Toilette, Einbauküche, Schrank, Bett, Tisch und Stuhl untergebracht werden sollen. Wer sich dann noch umdrehen möchte, sollte schon eher sehr dünn sein. Wer käme für ein solches Wohnklo mit Teeküche als Bewohner in Frage? Hartz-IV-Empfänger schon mal nicht, weil das Amt die Warmmiete nicht übernähme – mit 23 Euro pro Quadratmeter zu hoch.
Eventuell sehr spartanisch lebende Mönche? Oder Ex-Langzeithäftlinge, die das Zellenfeeling nicht missen möchten. Oder ministeriale Pendler, die nur einen Schlafplatz in Berlin brauchen. Oder – nun ja – Touristen, denen das als simple Ferienwohnung und Übernachtungsdomizil vermietet werden kann, worauf zumindest die holprige Maklerlyrik schließen ließe: „Dieses schöne Anwesen befindet sich in Berlin-Mitte unweit der Grenze zu Berlin Kreuzberg direkt am wunderschönen Engeldamm der grün und ausgesprochen idyllisch wirkt. Und nur wenige Meter vom schönen Mariannenplatz entfernt. Zahlreiche Cafés, Restaurants und Bars bieten ein großes Angebot für abwechslungsreiche Abende. […]“
Der Altbau, der derzeit umgebaut wird, liegt in einem innerstädtischen Berliner Sanierungsgebiet. „Ein renommiertes Berliner Architekturbüro hat mit viel Leidenschaft die Planung und Umsetzung begleitet“, heißt es in der Maklerlyrik. Man fragt sich, welche Leidenschaft das Architekturbüro SC-Architekten wohl antreibt, Altbauwohnungen zu Karnickelställen umzubauen – denn die werden wohl die nächsten drei bis vier Jahrzehnte so Bestand haben.
Unweigerlich muss man an Heinrich Zille denken, der um die Jahrhundertwende die unzumutbar beengten Wohnverhältnisse der Berliner Mitte zeichnete und aufschrieb: „Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt.“ Dass Investoren und Makler den höchstmöglichen Profit aus der derzeitigen Berliner Wohnungsnot schlagen wollen, erstaunt wohl kaum. Aber welches Berufsethos haben eigentlich Architekten, normale Altbauwohnungen zu solchen Schlaf- und Koch-Klos umzubauen, die dann für circa 23 Euro kalt pro Quadratmeter vermietet werden sollen? Doch man muss die teure Zelle ja nicht mieten. Wer etwas mehr Platz braucht und viel Geld hat, findet gleich um die Ecke überall auch schöne Penthouse- und Eigentumswohnungsprojekte, so zwischen 120 und 300 Quadratmetern, die in der Innenstadt derzeit hochgeziegelt werden.
Berliner Wohnungsnot kannte man zuletzt im Westteil der Stadt in den 80er Jahren. Als die Mauer fiel, strömten deshalb viele Hausbesetzer in den Osten der Stadt, wo es noch Leerstand und Freiräume gab. Doch der ist inzwischen längst ausgeschöpft – und das ist vor allem auf stadtpolitisches Versagen zurückzuführen. Dabei war seit vielen Jahren das Problem unübersehbar: Seit der Jahrtausendwende wächst der Zuzug nach Berlin stetig. Nicht nur zahlreiche Ministerialbeamte aus Bonn und abenteuerhungrige Süddeutsche kamen nach Berlin. Wohlhabende fanden es schick, in Berlin einen Koffer zu haben oder ihren Sprösslingen ein Domizil in der In-Hauptstadt zu kaufen. Und demnächst zieht ja berufshalber auch halb Pullach hierher: An der Chausseestraße entsteht gerade eine gigantische neue BND-Zentrale.
Auch aus den EU-Ländern zog es wegen des zunehmenden Berlin-Hypes viele in die Stadt, die plötzlich so angesagt war wie zuvor New York, London, Paris. Deutlich wächst zudem die Zahl der Menschen, die aus existentiellen und ökonomischen Gründen kommen: ob Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisenregionen, Bulgaren, Rumänen, Spanier oder Griechen, die wegen ihrer Perspektivlosigkeit hier eine neue Heimat suchen.
Gleichzeitig steigt die Zahl der Studenten und derer, die nur zeitweilig hier arbeiten. Und weil auch immer mehr Touristen das „angesagte“ und geschichtsträchtige Berlin besuchen wollten, schossen nicht nur zahllose Hotels aus dem Boden – sondern immer mehr Wohnungen wurden von Eigentümern als lukrative Ferienwohnungen vermietet. Damit war dieser Wohnraum dem normalen Mietwohnungsmarkt entzogen. Doch jahrelang akzeptierten Verwaltungsgerichte diese Praxis, sie werteten Ferienwohnungen als „gleichwertige Wohnnutzung“. Das Berliner Zweckentfremdungsverbot, das bis dahin die Umwandlung von Wohnungen zu Gewerberaum verhinderte, war im Jahr 2002 von einem Immobilieninvestor zu Fall gebracht worden.
Umwandlung zu Eigentum, Gewerberäumen oder Ferienwohnungen einerseits und die wachsenden Zuzugszahlen andererseits, auch die zunehmenden Bedarfszahlen an Singlewohnungen schmälerten den Berliner Wohnungsmarkt – der klassisch immer weitgehend ein Mietwohnungsmarkt war – gewaltig. Gleichzeitig wurden aber alle Landesförderprogramme zum sozialen Wohnungsbau oder sozialverträglicher Sanierung, die altansässigen Bewohnern und Einkommensschwachen Schutz geboten hatten, nach und nach gestrichen.
Das seit Jahren akute Wohnungsproblem ist mithin politisch hausgemacht: Eigentumsbildung war zunächst das vielbeschworene Nachwendecredo der SPD-Baupolitiker. Und geradezu gebetsmühlenartig hatten der frühere Stadtentwicklungssenator Peter Strieder und seine Nachfolgerin Ingeborg Junge-Reyer (beide SPD) seit Ende der 90er Jahre das Märchen von angeblich 100.000 leerstehenden Wohnungen, einem ganz entspannten Wohnungsmarkt und niedrigen Mieten heruntergeleiert. Doch die absurde Leerstandszahl, die sich trotz Zuzugs über die Jahre merkwürdigerweise kaum veränderte, war ein Fake: Sie beruhte lediglich auf einer Angabe von Vattenfall über stillgelegte Stromzähler. Jeder konnte dagegen schon Mitte der 2000er Jahre wissen, dass insbesondere bezahlbare Mietwohnungen in der Innenstadt knapp wurden. Doch erst zahlreiche Proteste aus der Bevölkerung gegen die zunehmende Wohnungsnot schreckte die Landespolitik vor der letzten Wahl auf – da war die Leerstandsquote aber schon längst unter die übliche Fluktuationsrate von 3 Prozent gesunken.
Da der Mietmarkt aufgrund der großen Nachfrage und des mangelnden Angebots inzwischen ein Vermietermarkt ist, steigen die Berliner Mieten unaufhörlich: Allein im letzten Jahr stiegen die Durchschnittsmieten um 2,3 Prozent – das ist führend im Bundesmaßstab. Die Wohnungsmieten steigen vor allem deshalb, weil aufgrund der Wohnungsnot Vermieter bei Neuvermietungen astronomische Preise fordern können und Wohnungssuchende zahlen, was der Geldbeutel hergibt. In WGs zahlt man inzwischen sogar circa 400 Euro – pro Zimmer.
Erst jetzt hat es die Berliner SPD-CDU-Koalition geschafft, nach jahrelangen Querelen wegen der Ferienwohnungen ein neues Zweckentfremdungsverbot als Gesetz zu erlassen – wie das umgesetzt und kontrolliert werden soll, ist allerdings noch unklar. Eine ergänzende Umwandlungsverordnung (das Verbot von Miet- zu Eigentumswohnungen) wird bislang noch von der CDU blockiert. So entsteht in der Hauptstadt eine neue, sozial wie stadträumlich überaus verheerende Spaltung. Hier massenhaft übereinandergestapelte Karnickelställe, die jetzt vielleicht als Ferien- oder Zeitbehausungen genutzt werden, dort üppige Eigentums-Penthouses mit zu viel Fläche für zu wenig Bewohner. Die weitere soziale Spaltung der Stadt ist damit vorprogrammiert.
Für die 17-Quadratmeter-Wohnung am Engeldamm 28 gäbe es allerdings eine ideale Mieterin: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Erst jüngst waren ja einige Bundesminister in die öffentliche Kritik geraten, weil sie sich kostenlose Wohnsitze in ihren Berliner Dienstsitzen einrichten ließen. Für die Verteidigungsministerin, die – eigenen Äußerungen und Medienberichten zufolge – in ihrer Arbeitszeit sehr spartanisch und diszipliniert lebt, wäre die Wohnung ideal: 17 Quadratmeter für Spind, Feldbett und Teeküche, das Ganze für nur 450 Euro monatlich. Die sollten für Bundesminister zu verkraften sein. Und sehr schlank ist von der Leyen auch – da hat dann sogar noch ein Laptop Platz.