17. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2014

Querbeet (XXXVII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal „Elektra“-Schocker, böse Füchse, Mutter Garanca, Rauch in der Burg …

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Mit allerletzter Kraft schleppt sie sich wie ein todkrankes Tier auf allen Vieren nach vorn über die Bühne, sackt zusammen und fällt leblos mit dem Oberkörper über die Rampe. Tief unter ihr tobt in höllischer C-Dur-Ekstase die Sächsische Staatskapelle in denkbar größter Besetzung. Damit es wirklich nervenzerfetzend kracht. Dann explodiert mit beispielloser Wucht – wie ein Befreiungsschlag oder Todesstoß – der Schlussakkord. Dann totale Finsternis, ein Moment atemloser Stille. Dann orkanartig rasender Beifall. Und Evelyn Herlitzius, noch etwas taumelnd, noch nicht ganz zurück im Diesseits, allein, ganz allein im Licht der Scheinwerfer. Doch da ahnt sie schon, was ihr später alle Fachwelt bestätigen wird: Gegenwärtig kann keine wie sie derart stark und schön und ausdrucksmächtig die alle Grenzen hochdramatischen Gesangs schwer streifende Partie der Elektra. Und kein Orchester kann die monumentale Partitur der „Elektra“ von Richard Strauss derart durchsichtig und wuchtig zugleich wie das aus Dresden mit seinem für solcherart Großkunststück singulär zuständigen Dirigenten Christian Thielemann.
Ja, ja, der seinerzeit an Berlins Hofoper dirigierende Komponist wusste schon, warum er „seine lieben Dräsdner“ so sehr mochte. Immerhin gab er neun seiner 15 Opern zur Uraufführung ans glanzvolle Institut am Ufer der Elbe. Darunter anno 1909 – zwischen „Salome“ und „Rosenkavalier“ – auch seine „Elektra“, für die der große Dichter Hugo von Hofmannsthal das kongeniale Libretto schrieb.
Zunächst wirkten die 105 unerhörten „Elektra“-Minuten wie ein Schock aufs Publikum, die Rede war von „kakophonem Krach“. Doch alsbald wurde der Antiken-Einakter zum Welterfolg – und blieb es. Und war jetzt, noch dazu am Uraufführungsort, der wohl denkbar herrlichste Auftakt zu dem in aller Opernwelt im Herbst gefeierten 150. Geburtstag von Richard Strauss.
Freilich ist festzuhalten, dass neben der Sensation Herlitzius, die nunmehr die höchster Ehren werte Nachfolge der sagenhaften Elektra-Primadonnen Birgit Nilsson und Astrid Varnay antrat, noch ein paar Kollegen aus dem Spitzensegment mitsangen: nämlich Waltraud Meier (Klytämnestra), Anne Schwanewilms (Chrysothemis) und René Pape (Orest). Ihnen allen steckt noch die grandiose „Elektra“-Inszenierung von Patrice Chéreau (die letzte Arbeit vor seinem Tod) in den Knochen, die im Sommer 2013 bei den Festspielen von Aix-en-Provence Premiere hatte. Da fiel es nicht allzu schwer ins Gewicht, dass die Dresdner Regie durch die Zürcher Schauspielchefin Barbara Frey so gut wie nicht stattfand. Allerdings drängte sich durch diesen Ausfall umso mehr die legendär-minimalistische, extrem suggestive Ruth-Berghaus-Inszenierung in die Erinnerung; da spielte sich das Drama auf einer Art Sprungturm ab (Absprung nach unten in den Tod oder zurück ins Leben). Dieser Turm, eigentlich eine Notlösung, stand inmitten des halben Orchesters, weil das zur Gänze (120 Musiker!) nämlich nicht Platz fand im Graben. Den hatte man beim Semperoper-Wiederaufbau – kein Witz! – viel zu schmal geschneidert; seine kostspielige Verbreiterung im Nachhinein verschlang die ersten beiden Parkettreihen. Das am Rande eines musikalisch beispiellosen Triumphes – zwanzig Minuten stehende Ovationen.

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Das gallebittere Drama der US-amerikanischen Autorin Lillian Hellmann (1905-1984) mit dem possierlichen Titel „Die kleinen Füchse“ handelt vom Zerfall einer Mittelstandsfamilie durch Gier und Verlogenheit. Das perfekt gebaute Konversationsstück von 1939 war trotz deutlich aufgesetzter Kapitalismuskritik der größte Erfolg der links engagierten Politaktivistin Hellmann; 1942 wurde es verfilmt – mit Bette Davis in der Hauptrolle als kaltblütig siegreicher Lady Geldgier. Jetzt unter Regie von Thomas Ostermeier an der Schaubühne Berlin ist das Nina Hoss. Und ihre Mitspieler (die aashaften Familienmitglieder) sind durchweg gleichermaßen stark und präsent: unter anderem Ursina Lardi (mit einem Nervenzusammenbruch der Extraklasse), David Ruland, Mark Waschke oder Thomas Bading.
Überhaupt: Die quasi Wiederentdeckung eines gerade in Zeiten von Bankenkrächen und Euro-Krise frappierend aktuellen alten Stücks ist ein theatralisches Ereignis, das durch präzis einfühlende, dennoch nüchtern minimalistische Spielweise besticht. Dabei ist es geheimnisvollerweise so, als ob die Regie die feine klassische Einfühlerei mit spitzen Fingern angefasst hätte; natürlich ohne sie je zu denunzieren mittels Verfremdung. Ostermeiers bewundernswertes Kunststück!
Das nicht denkbar ist ohne Jan Pappelbaums kostbar schwarze, delikat gegliederte Riesenbühne; nicht ohne die suggestive Lichtregie von Urs Schönebaum, die signifikanten Kostüme von Dagmar Fabisch und den aberwitzig stimmungsvollen Soundtrack von Malte Beckenbach. Ein jedes Detail macht Sinn. Ein faszinierendes, so lange nicht erlebtes Gesamtkunstwerk! – Geradezu entsetzlich, wie da lässig, doch genau kalkuliert ein Panorama eisigen Egoismus‘ ausgebreitet wird, in dem blitzartig Hass, Wut, Angst, Gewalt oder auch leidenschaftliche Resignation aufbrechen. Unheimlich, wie sich mit der gnadenlosen Genauigkeit eines Uhrwerks um des lieben Geldes willen Unmenschliches breit macht. Höllische Abgründe gähnen in diesem kalten Kammerspiel, das doch lautlos dröhnt wie hitzige große Oper.

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Was für ein Aufstieg: Nach der Schule die Koffer gepackt (voll mit Lebensmitteln), und mit 22 Lenzen aufgemacht ins Euro-Land nach Meinigen. Denn nur in Deutschland gibt es ein Groß-Repertoire für Sänger; zu Hause in Lettland kein Mozart, kein Händel, kein Rossini. Immer nur bloß Puccini und Verdi. Elina Garanca wusste, daheim hat das Kind einer Musikerfamilie keine Chance. Und über ihre Gesangslehrerin Irina fand Elena einen Aufruf der damals im thüringischen Meiningen amtierenden Intendantin Christine Mielitz, sich für die Hosenrolle des Octavian im „Rosenkavalier“ zu bewerben. Also – ohne Deutschkenntnisse – auf nach Thüringen, Vorsingen, Abwarten. Dann der Schicksalsbrief ins Baltikum: Drin ein Vertrag! Also die Lebensmittelbüchsen und Salamiwürste ins Gepäck gestopft, Einstudieren, Auftreten – und eine beispiellose Karriere anfangen.
„Am 13. Februar 1999 stieg ich in Riga in den Bus nach Berlin. Und nach 20 Stunden wieder aus. Und suchte sofort die Zugverbindung nach Meiningen […]“ So steht es in der Biografie des Opern-Superstars Elina Garanca „Wirklich wichtig sind die Schuhe“ (Ecowin Verlag Salzburg).
Tatsächlich, richtiges Schuhwerk ist überlebenswichtig auf der Opernbühne, wo man oft lange, lange stehen muss und eine stabile Grundlage braucht. – Elinas zweitwichtige Grundlage für den Ruhm: ihre Stimme. Darüber und über den so mutigen wie schweren Anfang und dessen oft noch viel schwerere Fortsetzung plaudert der Superstar mit dem Hollywood-Appeal (Vorbild: Joan Shuterland) so anschaulich wie freimütig in ihrem Buch. Amüsante Lektüre für jeden Theaterfreund; für Opernfans sowieso.

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Das Wiener Burgtheater verweist in seinen Informationen im Zusammenhang mit der jüngst allgemein recht schmallippig aufgenommenen Inszenierung „Das Geisterhaus“ von Isabel Allende (Regie Antu Romero Nunes) ausdrücklich auf Folgendes: „In dieser Produktion wird aus künstlerischen Gründen auf der Bühne geraucht!“
Erstaunlich, auf was die Burgtheater-Intendanz neuerdings glaubt, extra hinweisen zu müssen. Zwar gehört die Raucherei zu den gewiss gefährlichen Dingen des Lebens wie Alkohol, Koks, gellende Rockmusik (die auch schon vorsichtig gewordene Berliner Volksbühne übrigens verteilte neulich Ohrstöpsel), wie nackt Herumlaufen, zu fettig Essen, Feuersbrünste, Bluträusche, mit der Knarre herumfuchteln oder Sterben mit dem Dolch in der Brust. Solcherart der Wirklichkeit abgeschautes und wie auch immer nützliches oder unnützes Tun auf der Bühne zu zeigen (in unecht! – gepafft wird ohnehin nikotinfrei), das ist aber nun mal des Theaters spielerisches Ding. Was gewissen Theaterdirektionen neuerdings Angst macht. Also erarbeiten sie demnächst wohl spezielle Hinweis-Listen. Um das Publikum vom Theaterbesuch abzuhalten? Um nach entsprechender Vorwarnung umso ungenierter auf die realistische Kacke hauen zu können? Um juristische Interventionen abzuwehren, die das Theater als bösen Publikumsverführer verklagen – oder als heimtückischen Zerstörer des seelisch-körperlichen Gleichgewichts der Zuschauer? Wie auch immer: So macht sich Theater zum Affen.