17. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2014

Politische Sackgasse: Alternative Wachstumskritik

von Ulrich Busch

Ein streitbarer Politologe meinte kürzlich, die heutige Linke sei mehrheitlich eine bloße „Umverteilungslinke“ – sie wolle den „Kuchen“ (das Bruttoinlandsprodukt) nur anders aufteilen als die Bürgerlichen, ihn ansonsten aber so lassen wie er ist. Die „Transformationslinke“ dagegen wolle ihn auch auf andere Art backen, mit veränderten Zutaten (Rohstoffen) und bei weniger Hitze (Energie). Dadurch würde er nicht nur schmackhafter werden, sondern auch umweltverträglicher. Dies mag stimmen, aber würde der alternativ produzierte Kuchen auch größer sein, um den wachsenden Hunger zu stillen? Die Antwort, die hierauf gegeben wird, lautet: Nein, die Transformationslinke ist gegen Wachstum!
Während erstere Überlegung auf breite Zustimmung trifft, stößt letztere auf Widerspruch. Sie ist, unabhängig von der politischen Orientierung, Anlass zum Streit zwischen Wachstumsbefürwortern und Wachstumsgegnern. Dieser seit Jahren andauernde Disput weist eine Reihe von Merkwürdigkeiten auf. So lassen sich seine Kontrahenten, grob betrachtet, in zwei Gruppen teilen, in Ökonomen und Nichtökonomen. Erstere befürworten zwar innovative Rezepturen und effizienzsteigernde Methoden, wollen zugleich aber auch einen größeren Kuchen backen. Die anderen wollen dies gerade nicht. Ihnen genügt der bisherige Umfang des Kuchens. Hauptsache, er weist andere Ingredienzien auf als früher und wird anders, sprich gerechter, verteilt.
Worauf gründet sich diese, wie es scheint, unüberbrückbare Meinungsverschiedenheit? Meines Erachtens liegt ihr eine differente Auffassung dessen zugrunde, was unter Größe, und folglich auch unter Vergrößerung und unter Wachstum, zu verstehen ist. Oder anders ausgedrückt: Der wirtschaftswissenschaftliche Wachstumsbegriff unterscheidet sich signifikant vom Wachstumsbegriff der Umgangssprache. Dies führt im interdisziplinären Dialog zwangsläufig zu Missverständnissen und Kontroversen. Die terminologische Differenz lässt sich vereinfacht wie folgt beschreiben: Der ökonomische Wachstumsbegriff setzt, marxistisch gesprochen, beim Doppelcharakter der Ware als Einheit von Gebrauchswert und Wert an und unterscheidet mithin zwischen stofflichem und wertmäßigem Zuwachs. Während ersterer auf die quantitative Zunahme der Güter und Leistungen, gemessen in deren Anzahl, Volumen, Gewicht etcetera, abstellt, kommt letzterer in einer Zunahme der Wertgröße respektive Preissumme zum Ausdruck.
Nun ist die kapitalistische Produktion auf Kapitalverwertung gerichtet und mithin „gleichgültig gegen die Besonderheit der Ware“ (Marx), gegen den Gebrauchswert. Die Zunahme des Wertes aber dokumentiert sich in einer Vergrößerung der Preissumme des Gesamtprodukts. Die gegenwärtige volkswirtschaftliche Gesamtrechnung folgt dem, indem sie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ausschließlich als Wertprodukt und Preissumme erfasst und wirtschaftliches Wachstum folglich als Wertzuwachs ausweist. Als solches kann es selbstverständlich mit stofflichem Wachstum einhergehen, muss es aber nicht. Die Regel heute ist eher die, dass beide Prozesse entkoppelt sind, das Wertprodukt, das BIP, also wächst, während der produzierte stoffliche Output stagniert oder sogar sinkt. Dies erklärt sich aus der Verringerung des Materialeinsatzes durch Rationalisierung und Miniaturisierung, durch den Anstieg der Produktivität und qualitative Veränderungen im Produktionsablauf, ganz besonders aber aus der Substitution materieller Güter durch immaterielle Dienstleistungen (Tertiärisierung). Um die qualitative Seite der Veränderungen hervorzuheben, erscheint es zweckmäßig, weniger von „Wachstum“, als vielmehr von „Entwicklung“ zu sprechen. Aber auch die Termini „qualitatives Wachstum“ und „intensives Wachstum“ verweisen darauf. So bedeuten zum Beispiel zwei Prozent Wachstum des BIP keineswegs, dass zwei Prozent mehr Zement, Stahl, Autos, Computer oder was auch immer produziert worden sind, sondern, dass das Wertprodukt um zwei Prozent gestiegen ist, der Wertumfang des BIP, gemessen in dessen Preissumme. Stofflich kann sich dahinter ebenfalls ein Zuwachs verbergen; das ist aber eher die Ausnahme. In der Regel gilt dies heutzutage gerade nicht.
Schaut man sich daraufhin die Schriften der Wachstumskritiker an, so fällt auf, dass sie häufig einseitig argumentieren und ökonomisch nicht korrekt. Typischerweise wird nicht zwischen stofflichem und wertmäßigem Wachstum unterschieden. So meint zum Beispiel Ulrich Brand, „wirtschaftliches Wachstum bedeute die jährliche Zunahme von für den Markt produzierten Gütern und Leistungen“. Das aber ist ungenau und führt, da es den Charakter der kapitalistischen Produktion als eines auf Wertbildung und Verwertung abzielenden Prozesses verkennt, zu dem falschen Schluss, es ginge hier um die Vergrößerung der Gütermenge. Hieraus folgt dann ein weiteres Missverständnis: die Interpretation des BIP als stoffliche Größe. Als geradezu klassisches Beispiel hierfür sei eine Passage aus dem Parteiprogramm der „Grünen“ von 1983 zitiert, worin Wirtschaftswachstum als wirtschaftspolitisches Ziel abgelehnt wird, weil es dazu führen würde, dass wir bald „die doppelte Menge von Produkten pro Jahr produzieren und konsumieren“ müssten: „Doppelt so viel Autos, Kühlschränke, Fernseher, Maschinen, Beton, AKWs, Panzer, Cheeseburger […]“. Ebenso wenig überzeugt aber, wenn die „Linke“ in ihrem Parteiprogramm von 2012 „anstelle“ von Wirtschaftswachstum den „sozial-ökologische Umbau“ postuliert. Warum muss sich beides gegenseitig ausschließen? Sollte nicht gerade der sozial-ökologische Umbau der Wirtschaftsordnung einen nachhaltigen Wachstumsschub auslösen? Hans Thie behauptet in seinem programmatischen Buch „Rotes Grün“, dass „ein dauerhaftes Wachstum in einer begrenzten Welt nicht möglich“ sei: „Aus den Grenzen der Natur ergeben sich die Grenzen für die Größe der Volkswirtschaft.“ – Ja, vielleicht stofflich, aber doch nicht wertmäßig! Gab es derartige Grenzziehungen nicht früher schon, zum Beispiel bei den Physiokraten oder bei J. St. Mill und bei R. Malthus? Und jedes Mal hatten sie sich als falsch erwiesen. Das sollte nachdenklich stimmen. Wenn Ulrich Brand mit Bezug auf die Arbeit der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ resümiert, dass es nicht gelungen sei, „grundlegende Alternativen zum dominanten Wachstumsparadigma zu formulieren“, so stellt sich die Frage, ob sein Anliegen wirklich richtig ist. Vielleicht sollte es hier weniger um Wachstumsverzicht und um Alternativen zum Wirtschaftswachstum gehen, als vielmehr um Alternativen zum Verbrauch begrenzter Ressourcen und zum exzessiven Konsum. Aber das wäre eine gänzlich andere Fragestellung!

Als weiterführende Lektüre werden empfohlen: die Hefte 1 und 3/2013 des Journals Berliner Debatte Initial sowie die Broschüre „Wachstumsverzicht oder moderates Wachstum? (Herausgeber: Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2013).