von Uri Avnery, Tel Aviv
Während der letzten hundert Jahre hat Russland große Veränderungen durchgemacht. Anfangs wurde es vom Zar regiert, eine absolute Monarchie mit einigen demokratischen Dekorationen, eine „Tyrannei durch Unfähigkeit gemildert“. Nach dem Sturz des Zaren herrschte ein paar Monate lang ein liberales und gleichfalls unfähiges Regime, bis es von der bolschewistischen Revolution zu Fall gebracht wurde.
Die „Diktatur des Proletariats“ dauerte etwa 74 Jahre, das bedeutet, dass drei Generationen das sowjetische Bildungssystem durchliefen. Das sollte lange genug gewesen sein, um Werte wie Internationalismus, Sozialismus und Menschenwürde im Sinne von Karl Marx zu absorbieren. Das Sowjetsystem brach in sich zusammen und ließ nur wenige Spuren zurück. Nach ein paar Jahren liberaler Anarchie unter Boris Yeltsin, übernahm Vladimir Putin die Herrschaft. Er hat bewiesen, ein fähiger Staatsmann zu sein, und hat Russland wieder in eine Weltmacht verwandelt. Er hat aber ein neues autokratisches System eingerichtet, die Demokratie und die Menschenrechte reduziert.
Wenn wir diese Ereignisse betrachten, die ein Jahrhundert umspannen, müssen wir daraus schließen, dass nach all diesen dramatischen Umwälzungen Russland mehr oder weniger dort ist, wo es anfing. Der Unterschied zwischen dem Reich des Zaren Nikolaus und Präsident Putin ist minimal. Die nationalen Bestrebungen, die allgemeine Weltanschauung, das Regime und der Status der Menschenrechte sind mehr oder weniger dieselben.
Was lehrt uns das? Es bedeutet für mich, dass es so etwas wie einen nationalen Charakter gibt, der sich nicht so leicht verändert, wenn überhaupt. Revolutionen, Kriege, Katastrophen kommen und gehen und der eigentliche Charakter eines Volkes bleibt, wie er war.
Nehmen wir ein anderes Beispiel, das uns geographisch näher liegt: die Türkei. Mustafa Kemal war eine faszinierende Person. Leute, die ihn trafen, als er ein Offizier in der osmanischen Armee war – er diente in Palästina – beschrieben ihn als einen interessanten Charakter und einen schweren Trinker. Er wurde in Saloniki in Griechenland geboren, einer Stadt, die zu jener Zeit vor allem jüdisch war, und nahm an der Revolution der Jungtürkischen Bewegung teil, die zum Ziele hatte, das Osmanische Reich zu erneuern, das zum „kranken Mann am Bosporus“ geworden war.
Nach der türkischen Niederlage im Ersten Weltkrieg machte sich Mustafa Kemal daran, eine neue Türkei zu schaffen. Seine Reformen waren umfassend. Unter anderem schafften sie das Osmanische Reich und das alte muslimische Kalifat ab, änderten die Schrift der türkischen Sprache vom Arabischen ins Lateinische, nahm die Religion aus der Politik, verwandelte die Armee in einen „Wächter der (säkularen) Republik“, verbat Männern und Frauen, die traditionelle Kleidung zu tragen, wie den Fez und den Hijab. Sein Plan war, die Türkei in ein modernes europäisches Land zu verwandeln.
Sein Volk ehrte ihn und gab ihm den Namen Atatürk (Vater der Türken) und verehrt ihn bis zum heutigen Tage. Sein Bild hängt in allen Büros der Regierung. Doch jetzt sind wir Zeugen, wie die meisten seiner Reformen abgeschafft werden. Die Türkei wird heute von einer religiösen islamischen Partei beherrscht, die vom Volk gewählt wurde. Der Islam kehrt zurück. Nachdem die Armee mehrere Staatsstreiche verübt hatte, wurde sie aus der Politik verbannt. Dem jetzigen Führer wird neo-osmanische Politik vorgeworfen. Dies bedeutet, dass die Türkei dahin zurückkehrt, wo sie vor hundert Jahren war.
So kann man Beispiele aus aller Welt zitieren.
Über 220 Jahre nach der Mutter aller moderner Revolutionen, der großen Französischen Revolution, werden die leichtfertigen Abenteuer des gegenwärtigen französischen Präsidenten mit denen der bourbonischen Könige verglichen. Nicht viel ist aus der Zeit des strengen Charles de Gaulle geblieben, weder moralisch noch politisch.
Italien hat noch immer keine politische Stabilität nach dem Intermezzo des clownesken Silvio Berlusconi .
Ein sehr reduziertes Großbritannien denkt und benimmt sich so wie das Empire in seiner Blütezeit. Und kämpft darum, von Europa wegzukommen.
Und so weiter.
Ich mag gern (noch einmal) Elias Canetti, den Nobelpreis-Schriftsteller zitieren. Bulgarien, England und die Schweiz beanspruchen ihn, und natürlich die Juden. In einem seiner Werke behauptet er, dass jede Nation ihren eigenen Charakter habe, wie ein menschliches Wesen. Er unternahm sogar , den Charakter größerer Nationen mit Symbolen zu beschreiben: Die Briten seien wie ein Seekapitän, die Deutschen wie ein Wald hoher gerader Eichen, die Juden seien durch den Exodus aus Ägypten und das Wandern durch die Wüste geformt worden . Er sah, dass diese Charaktere konstant blieben.
Professionelle Historiker mögen über solch einen Dilettantismus lachen. Doch ich glaube, dass die Injektion von etwas literarischem Innenblick in die Geschichte gut ist. Das vertieft das Verständnis.
All dies führt mich zur jüdisch-israelischen Metamorphose. Israel wurde buchstäblich von der zionistischen Bewegung geschaffen. Dies war eine der revolutionärsten Revolutionen, wenn nicht die weitreichendste von allen. Sie strebte nicht nur nach einem Wechsel des Regimes wie Mandela in Südafrika. Noch nach einem tiefen Wandel der Gesellschaft wie die kommunistische Bewegung; noch nach einem kulturellen Wandel wie der des Atatürk. Zionismus wollte all dies erreichen und noch viel mehr. Er wollte eine zerstreute religiös-ethnische Gemeinschaft, die in alten Zeiten geboren wurde, in eine moderne Nation verwandeln. Er wollte Massen von Individuen aus ihren Heimatländern und natürlichen Lebensräumen physisch in ein anderes Land und ein anderes Klima holen. Er wollte den sozialen Status von jedem von ihnen verändern. Ja, sie sogar eine neue Sprache annehmen lassen – eine tote Sprache, die wieder zum Leben erweckt wurde. Das ist eine Aufgabe, die keinem anderen Volk gelang. All dies in einem fremden Land, das von einem anderen Volk bewohnt war. Von allen revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts war der Zionismus die erfolgreichste und beständigste. Kommunismus, Faschismus und Dutzende anderer Bewegungen kamen und gingen. Der Zionismus hält durch.
Aber ist die israelische Gesellschaft wirklich zionistisch, wie sie laut und wiederholt behauptet?
Zionismus war ursprünglich eine Rebellion gegen die jüdische Existenz in der Diaspora. In der religiösen Sphäre war es eine Reformation, eine, die tiefer reichte als die von Martin Luther. Alle prominenten jüdischen Rabbiner, die chassidischen wie die anti-chassidischen, verurteilten den Zionismus als Häresie. Das Volk von Israel wurde durch seinen absoluten Gehorsam gegenüber Gottes 613 Geboten und Verboten vereint, nicht durch irgendwelche „nationale“ Bande. Gott hat eine Massenrückkehr ins Land Israel streng verboten, seit Er die Juden für ihr sündhaftes Verhalten ins Exil geschickt hat. Die jüdische Diaspora war so durch Gott verursacht worden und sollte so bleiben, bis Er ihre Gesinnung ändern würde.
Und dann kamen die Zionisten, meistens Atheisten, und wollten die Juden ohne Gottes Erlaubnis ins Land Israel bringen, ja Gott ganz abschaffen. Sie bauten eine säkulare Gesellschaft auf. Sie hatten eine tiefe Verachtung für die Diaspora, besonders für die orthodoxen „Ghetto-Juden“. Ihr Gründungsvater Theodor Herzl glaubte, dass nach der Gründung des jüdischen Staates keiner außerhalb des Staates noch als Jude angesehen würde. Andere Zionisten waren nicht ganz so radikal, aber dachten gewiss in diese Richtung.
Als ich noch jung war, gingen viele von uns noch weiter. Wir stritten die Idee eines jüdischen Staates ab und sprachen von einem „hebräischen“ Staat, der locker mit der jüdischen Diaspora verbunden sei; wir wollten eine neue hebräische Zivilisation schaffen, die eng mit der arabischen Welt um uns verbunden wäre. Eine asiatische Nation, die nicht mit Europa und dem Westen identifiziert werden wollte.
Und wo sind wir heute?
Israel ist dabei, sich mit großem Tempo zu re-judaisieren. Die jüdische Religion kommt zurück. Sehr bald, werden religiöse Kinder verschiedener Gemeinden die Mehrheit in Israels jüdischen Schulen sein. Der organisierten orthodoxen Religion sind immense Eingriffe gelungen. Die offizielle israelische Definition eines Juden ist ausschließlich religiös. Alle Angelegenheiten persönlicher Natur wie Heirat und Scheidung unterstehen dem Rabbinat. Das Menü in den meisten Restaurants ist koscher. Der öffentliche Verkehr zu Land und in der Luft findet am Schabbat nicht statt. Nicht orthodoxe jüdische Trends – wie die „Reformisten“ und die „Konservativen“ – werden praktisch ausgesperrt. Bei einem Skandal, der gerade Israel durchschüttelt, handelt es sich um einen kabbalistischen Rabbiner; es scheint, dass diese wundersame Person ein Vermögen von hunderten Millionen Dollar allein durch den Verkauf von Segen und Amuletts gesammelt hat. Er ist aber nur einer von vielen solchen Rabbinern, die – wie – er von Magnaten, Kabinettministern und hochrangigen Gangstern und Polizeioffizieren umgeben sind.
Herzl, der versprach, „die Rabbiner in ihren Synagogen zu halten und die Berufsarmee in den Kasernen“, dreht sich sicherlich in seinem Grab auf dem Jerusalemer Herzlberg um.
Aber dies sind noch relativ oberflächliche Symptome. Ich denke an viel tiefer gehendere Dinge.
Eine der wesentlichen Überzeugungen der Diaspora-Juden war, dass „die ganze Welt gegen uns ist“. Juden sind während Jahrhunderten in vielen Ländern verfolgt worden – bis zum Holocaust. In der Sederfeier am Pesachabend, der alle Juden rund um die Welt vereinigt, sagt der heilige Text, „in jeder Generation erheben sie sich, um uns zu vernichten“. Das offizielle Ziel des Zionismus‘ war, uns in ein Volk wie alle andern Völker zu verwandeln. Glaubt ein normales Volk denn, dass zu allen Zeiten alle darauf aus sind, es zu vernichten?
Es ist eine grundsätzliche Überzeugung von fast jedem jüdischen Israeli, dass „die ganze Welt gegen uns ist“ […]. Die US-Regierung schließt ein Abkommen mit dem Iran ab? Europa wendet sich gegen die Siedlungen? Russland hilft Bashar al-Assad? Alles Antisemiten. Internationale Proteste gegen unsere Besatzung der palästinensischen Gebiete sind natürlich auch nur eine andere Form von Antisemitismus […].
Bedeutet dies, dass in Israel, dem selbsternannten jüdischen Staat, all die alten jüdischen Einstellungen, Verdächtigungen, Befürchtungen und Mythen wieder aktuell werden? Dass das revolutionäre zionistische Konzept dabei ist zu verschwinden? […]
Franzosen sagen: „Je mehr sich die Dinge ändern, umso mehr bleiben sie die gleichen“. Oder wie es beim Prediger Salomo in der Bibel (1, 9) heißt: „Was ist’s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was Ist’s, was man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne.“
Redaktionell unwesentlich gekürzt.
Schlagwörter: Diaspora, Israel, Orthodoxie, Russland, Türkei, Uri Avnery, Zionismus