17. Jahrgang | Nummer 5 | 3. März 2014

Militarisierung der Außenpolitik?

von Karsten D. Voigt

Die Reden von Bundespräsident Joachim Gauck, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Außenminister Frank-Walter Steinmeier auf der Münchener Sicherheitskonferenz haben eine Debatte über eine aktivere Rolle Deutschlands in der Außenpolitik angestoßen. Gemeint war vor allem eine aktivere Diplomatie bei der friedlichen Lösung von Konflikten. Das Engagement von Bundesaußenminister Steinmeier in der Ukraine ist hierfür ein Beispiel.
Öffentlich diskutiert wird vor allem über die künftige Rolle des militärischen Faktors in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Europapolitik. Dies ist zwar nicht der wichtigste neue Akzent in der Außenpolitik, aber der strittigste. Selbst diejenigen, die vom Grundsatz her die Möglichkeit des Einsatzes der Bundeswehr außerhalb der Landesgrenzen und auch außerhalb Europas bejahen, werden im Einzelfall häufig abraten. Insofern geht es nicht darum, den Grundsatz der militärischen Zurückhaltung aufzugeben, wohl aber darum, die Rolle des Militärs als Instrument der deutschen Politik neu zu bestimmen.
Während des Kalten Krieges war es die Aufgabe der Bundeswehr, vor dem – sehr unwahrscheinlichen – Angriff des Warschauer Paktes abzuschrecken. Die Bundeswehr war – anders als die Streitkräfte anderer NATO-Staaten – bereits zu Friedenszeiten in die Strukturen der NATO integriert. Sie konnte nicht autonom mit Kampfhandlungen beginnen. Sie hätte sich ihnen aber im Konfliktfall auch nicht autonom entziehen können. Die Entscheidungsfreiheit der Bundesregierung war vor 1990 rechtlich und faktisch begrenzt. Jeder Krieg zwischen Ost und West bedrohte die beiden deutschen Staaten in ihrer Existenz. Die Territorien der beiden deutschen Staaten gehörten zu den am meisten militarisierten Gebieten der Welt.
Die Bundesrepublik wird gegenwärtig von keinem ihrer Nachbarstaaten bedroht. Sie ist heute von Verbündeten und Freunden umgeben. Geostrategisch gesehen ist die Lage des vereinigten Deutschlands heute günstiger als je zuvor. Hierzu trägt die Integration in EU und NATO entscheidend bei. Im Vergleich zu den Zeiten des Kalten Krieges sind heute über eine Million Soldaten weniger auf deutschem Boden stationiert. Die Zahl der Soldaten in der Bundeswehr liegt unterhalb von 50 Prozent der früheren Stärke. Die meisten der früher in Deutschland gelagerten Atomwaffen sind abgezogen worden. Und der Anteil des Verteidigungshaushaltes an den Ausgaben des Bundes ist erheblich gesunken. Insofern könnte man von einer teilweisen Entmilitarisierung Deutschlands sprechen.
Aber: Die Bundeswehr und die Nationale Volksarmee waren vor 1990 Armeen in Bereitschaft. Heute ist die Bundeswehr eine Armee im Einsatz. Die Vereinten Nationen drängen Deutschland, sich künftig mehr an den vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen Einsätzen zu beteiligen. Die Union für Afrikanische Einheit und deren Mitgliedsstaaten wünschen eine deutsche Unterstützung, um unruhige Regionen und zerfallende Staaten zu stabilisieren. Gerade weil Deutschlands koloniale Vergangenheit lange zurück liegt, ist Deutschland bei den afrikanischen Staaten ein beliebter und geforderter Partner. Die Vereinigten Staaten verringern ihre militärische Präsenz in Europa und richten ihre Blicke verstärkt nach Asien. Sie fordern die Europäer in der EU und NATO auf, Krisen am Rande und außerhalb Europas selber zu lösen. In der Vergangenheit dachten sie hierbei vor allen Dingen an Frankreich und Großbritannien. Aber die Ressourcen beider Staaten sind begrenzt. Sie  haben sich in den letzten Jahren verringert. Daraus ergeben sich neue Forderungen an Deutschland. Sie kommen nicht nur aus den USA, sondern auch von seinen europäischen Partnern kommen.
Alle bundesdeutschen Regierungen waren in den vergangenen Jahren Vorreiter der europäischen Integration, auch im verteidigungspolitischen Bereich. Während des Kalten Krieges gab es gute Gründe, sich nicht an militärischen Aktionen der Briten und Franzosen, zum Beispiel in Afrika, zu beteiligen. Zu Recht wurde kritisiert, dass deren Interventionen häufig von neo-kolonialen Interessen beeinflusst wurden. Dies unterstellen die Afrikaner Deutschland nicht. Hinzu kommt: Das Zögern der vergangenen Jahre hat dazu geführt, dass Briten und Franzosen ihre bilaterale militärische Zusammenarbeit verstärkt haben. Sie findet außerhalb von EU und NATO und unter Umgehung von Deutschlands statt. Dies widerspricht den Zielen und Interessen Deutschlands, das für eine Stärkung der gemeinsamen Sicherheit und Verteidigung innerhalb der EU plädiert. Aufgrund der Größe und der zentralen Lage der Bundesrepublik ist eine gemeinsame europäische Politik ohne eine aktive deutsche Mitwirkung nicht vorstellbar. Eine Verweigerung Deutschlands kommt  in der Praxis einer Absage an die von ihm selbst proklamierten pro-europäischen Ziele gleich.
Seit mehreren Jahren plädierte die Mehrheit der Außen-, Sicherheits- und Europapolitiker in internen Debatten für eine teilweise Neuorientierung der deutschen Politik. Zahlreiche Schritte in diese Richtung wurden in den vergangenen Jahren bereits gegangen. Hierzu gehören militärische Einsätze sehr unterschiedlicher Art und Größe am Rande und außerhalb Europas, eine veränderte Ausbildung und Ausrüstung der Bundeswehr und deren Umwandlung von einer Wehrpflicht- zu einer Freiwilligen-Armee.
Die meisten der von einer breiten Mehrheit im Bundestag beschlossenen Einsätze wurden von einer Mehrheit in der Bevölkerung abgelehnt. Dies ist in einer parlamentarischen Demokratie zwar verfassungsrechtlich möglich, aber politisch auf Dauer nicht akzeptabel. Deshalb drängten viele Außen-, Sicherheits- und Europapolitiker darauf, dass die führenden Repräsentanten des Staates und der Regierung sich verstärkt an der öffentlichen Debatte und Begründung dieser teilweisen Neuorientierung der deutschen Politik beteiligen.
Aber selbst wenn die Mehrheit der Bevölkerung vom Prinzip her die neuen Akzente in der deutschen Politik unterstützen sollte, werden im Einzelfall militärische Einsätze der Bundeswehr weiterhin umstritten sein. Und dies zu Recht: Anders als während des Kalten Krieges, ist die Bundeswehr nicht mehr automatisch Teil eines Konfliktes. Die deutsche Politik muss deshalb im Einzelfall entscheiden, ob und auf welcher völkerrechtlichen Grundlage, unter welchen Bedingungen, bei Berücksichtigung welcher Risiken, in welchem Umfang und wie lange sie sich zur Beteiligung an einem Einsatz entschließt. Das schließt komplexe Abwägungen ein: Eine Zustimmung zur Libyen-Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen hätte zum Beispiel noch keineswegs – anders als der seinerzeitige Außenminister Guido Westerwelle es behauptete – eine Beteiligung der Bundeswehr am nachfolgenden militärischen Einsatz zur Folge haben müssen.
Bei den Abwägungen im Einzelfall werden auch viele der kritischen Überlegungen von Erhard Crome, Fritz E. Gericke, Stephan Wohanka und Wolfgang Geier einbezogen werden müssen: Es zeigt sich nämlich, dass viele militärische Interventionen länger dauerten, mehr Opfer kosteten, und weniger Positives bewirkt haben, als ihre Befürworter anfangs vermuteten. Auch dies spricht für eine Kultur der militärischen Zurückhaltung.
Einige Argumente sind allerdings mit meiner Position nicht zu vereinbaren.
Die Kritik daran, dass die Ergebnisse des Einsatzes der Bundeswehr häufig unterhalb der selbstgesetzten Erwartungen  liegen, teile ich. Aber die Bundeswehr hat auch Positives bewirkt: Der Einsatz der Bundesmarine am Horn von Afrika hat dort zu einer erheblichen Verringerung der Piraterie beigetragen. Der zeitlich befristete Einsatz der Bundeswehr im Kongo hat zum kritischen Zeitpunkt der Wahlen erheblich zur Gewaltfreiheit im Lande beigetragen. Die verschiedenen Ausbildungsmissionen in Afrika sind ein sehr begrenzter und doch sinnvoller Beitrag zur Gewährleistung der Stabilität durch eigene afrikanische Truppen. Und: Der geplante Einsatz der Marine zum Schutz der Schiffe, die chemische Waffen aus Syrien auf deren Weg zu deren Vernichtung unter anderem in Deutschland begleiten, ist ein kleiner Schritt zu einem Frieden mit weniger Waffen. Was schließlich den Einsatz der Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien betrifft: Er hätte nach den Massakern dort eher früher als später beginnen sollen.
Entscheidungen über den Einsatz der Bundeswehr sind mit sehr unterschiedlichen politischen und militärischen Risiken verbunden. Das Militär kann bestenfalls politische Lösungen erleichtern, jedoch nie ersetzen. Die Argumente in der Debatte über Einsätze der Bundeswehr haben sich mit den Jahren geändert. Bei der Entscheidung über den Einsatz im ehemaligen Jugoslawien wurde sie noch von der Frage nach den richtigen Lehren aus der deutschen Geschichte dominiert. Eine kritische Reflektion über die deutsche Geschichte sollte uns weiter begleiten. Im Sinne einer Europäisierung der Debatte sollte sie durch eine Reflektion der Lehren ergänzt werden, die unsere europäischen Nachbarn aus ihrer Geschichte gezogen haben. Bei Entscheidungen über Einsätze in Afrika helfen Rückblicke auf unsere Geschichte nicht, wohl aber die Kenntnis der Geschichte und der aktuellen Probleme der Regionen, in die eventuelle deutsche Einsätze führen sollen. Eine Europäisierung und Internationalisierung unserer Perspektiven ist nötig. Sie kann der deutschen Debatte über Einsätze der Bundeswehr nur gut tun.

Weitere Beiträge zum Thema Militarinterventionen erschienen in den Ausgaben 3/2014 und 4/2014.
Siehe auch die Rubrik 
Bemerkungen/Aus anderen Quellen in dieser Ausgabe.