von Mely Kiyak
Man hat ja so seine Tagträume. Meiner geht so – Ich bin solide verheiratet mit einem Grafen. Da wir auf dem Familienlandsitz wohnen, trägt er bevorzugt rot karierte Hemden und schwere grüne Lodenjacken. Vor dem Dinner wäscht er sich unter den Armen und wechselt sein Hemd. Nach dem Essen schlafen wir miteinander. Im Hintergrund läuft eine CD mit Vogelstimmen aus dem Thüringer Wald. Statt Kerzenständer sagen wir Kandelaber oder (mit einem leichten Augenzwinkern) Armleuchter. Zu unseren Geburtstagen schenken wir uns Karten für Ben Beckers Lesungen. Wir lieben Ben Becker! Unsere drei Kinder heißen Linessa, Goldessa und Milbona. Benannt nach den Lebensmittel Hausmarken von Lidl.
Aus Mangel an Lebensumständen, die es dringend erfordern würden, aus dem Land zu fliehen, den Beruf zu wechseln oder einen Aufstieg zu ersehnen, benötige ich für mein Leben keine dringenden Veränderungen. Ich bin bereits „aufgestiegen“. Wenn man wie ich ein Arbeiterkind mit Abitur und Universitätsabschluss ist, ein Dach über dem Kopf hat und von seiner Hände Arbeit lebt, ist die nächste Stufe wirklich nur noch Ehefrau eines Adeligen zu werden. Doch will man das? Will man wirklich zu Ben Beckers Bibelstunde?
Meine Schreibstätte ist am Oranienplatz in Berlin Kreuzberg. Dort campieren seit über 16 Monaten Asylsuchende, die unermüdlich für ihre Menschenwürde einstehen und uns vor Augen führen wollen, dass es Lebensumstände gibt, die es erforderten zu fliehen. Alle paar Tage gibt es ein gigantisches Polizeiaufgebot an diesem Platz. Oft weiß man nicht, warum die Polizeiautos dort stehen. Alles ist friedlich und auf einmal rückt die Polizei an. Ich habe es schon mehrmals erlebt. Himmelherrgott. Das sind Menschen, die von einem Aufstieg träumen. Von einem Leben, in dem sie die Grenze eines deutschen Bundeslandes überschreiten dürfen. Von Dolmetschern, die ihnen übersetzen, was in den Briefen der Ausländerbehörden steht. Sie wünschen sich, dass ihre Verfahren nicht in die Länge gezogen werden und der Zimmerbelegungsplan im Flüchtlingslager so gestaltet wird, dass Menschen mit gleichen Sprachen zusammengelegt werden. Außerdem möchten sie selber entscheiden, was sie essen. Asylbewerber sein und selber bei Lidl einkaufen dürfen – das wär’s! Im reichsten deutschen Bundesland Bayern bekommen Flüchtlinge über Jahre hinweg Essenspakete mit immer gleichen Lebensmitteln. Die Flüchtlinge vom Oranienplatz Berlin träumen nach erlittenen Schikanen, Vergewaltigung, Vertreibung, Verlust und Schmerz davon, ein einziges beschissenes Mal als Mensch gesehen zu werden.
Man lernt es nie. Das ist ja das Verrückte. Dass wir uns als so gebildet und aufgeklärt sehen, dass wir in die Theater und Kinos gehen und die sozialkritischen Stücke und Filme enthusiastisch beklatschen und aber dulden, dass eine Handvoll Flüchtlinge in unserem Land so behandelt wird. Was tun? Ich weiß es auch nicht. Ich schreibe hier nicht als Mahnerin. Ich stehe hier als Beschämte, als Ratlose, als jemand, die sich ehrlich wünscht, dass unsere Kanzlerin ein einziges Mal den Oranienplatz besucht und als Gastgeschenk ein paar Wolldecken und saubere Schlafsäcke mitbringt und ein paar freundliche Worte an diese Menschen richtet. Sie könnte sagen: „Gebt nicht auf. Auch ich glaubte einst an eine Revolution. In unserer Grundsatzerklärung des Demokratischen Aufbruch hielten wir ausdrücklich den Schutz der Minderheiten fest. Ich bin Pfarrerstochter, aber wir warteten nicht auf Gott. Wir kämpften. Ich bin an Eurer Seite!“
Oh Mann! Jetzt träume ich schon wieder.
Nächste Woche wird in unserem Dramenhaus am Festungsgraben das Stück „Kinder der Sonne“ des Träumers und Revolutionärs Maxim Gorki aufgeführt. Im Text heißt es: „Das Leben ist schwer und der Mensch wird häufig müde. Wo soll die Seele Erholung suchen?“.
Wo, rufe auch ich verzweifelt in den Zuschauersaal, soll die Seele Erholung suchen, wenn nicht in der Träumerei?
Übernahme aus „Kiyaks Theater Kolumne“ mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Schlagwörter: Asylbewerber, Berlin, Mely Kiyak, Oranienplatz