von Jörn Schütrumpf
„Liebe Laura, ich brauche Dir nicht zu sagen, daß ich mit der größten Sorgfalt darauf achten werde, daß unser guter General nichts sehen wird, was ihn verletzen könnte. Ich sondere in der Tat alle privaten Briefe aus. Die haben nur für uns ein Interesse und können später einmal geordnet werden.“
Das schrieb aus London am 26. März 1883 Eleanor, die jüngste Tochter von Jenny und Karl Marx, an ihre Schwester Laura in Paris. Marx war drei Wochen zuvor gestorben und neben seiner Frau beerdigt worden. Die achtundzwanzigjährige Eleanor, von allen Tussy genannt, tat alles, um die Geheimnisse des Hauses Marx zu schützen.
Mit unserem guten General meinte sie Friedrich Engels, den Freund und jahrzehntelangen Sponsor der Familie.
Nach Eleanors Tod – 15 Jahre später (sie beging Selbstmord) – gelangten die privaten Briefe der Familie Marx nach Paris, zur zehn Jahre älteren Laura. Und die – die verbrannte sie. Überliefert ist nur, was sich in der Hand Dritter befand, aber auch, was zufällig übersehen wurde. Und das ist immer noch eine ganze Menge. Denn das Briefeschreiben war damals die einzige Möglichkeit der Kommunikation über längere Distanzen. Entsprechend groß ist der Bestand der trotz allem erhalten gebliebenen Korrespondenz. Es sind 329 Dokumente, die anlässlich des 200. Geburtstages von Jenny Marx, 1814 geboren als Jenny von Westphalen, erstmals vollständig veröffentlicht werden.
In einem ihrer letzten Briefe – aus London an ihren Arzt in Karlsbad – schrieb Jenny Marx über den Leberkrebs, an dem sie vierzehn Monate später sterben sollte:
„29. September 1880
Der Schlaf ist in der letzten Zeit besonders gut gewesen, und ich begreife oft nicht, wie ich mich nach oft 6stündigem Schlaf morgens so elend fühlen kann. Wirkliche Gelbsucht ist nicht vorhanden, dagegen habe ich eine gelbliche, sehr blasse und krankhafte Farbe, so dass mir jeder mein Leiden gleich ansehen kann.“
Es war ein grauenvolles Sterben. Nach einem Leben, das Jenny Marx alle seine Seiten gezeigt hatte… Jenny und Marx kämpften ihr Leben lang gemeinsam, auch als die Liebe kühler wurde, darum, das geistige und emotionale Niveau ihrer Kindheit und Jugend fortleben zu können. Sie bezahlten dafür einen kaum fassbar hohen Preis: jahrzehntelanges Exil, Entbehrungen, den Verlust von vier Kindern – sieben hatte Jenny das Leben geschenkt –, Krankheiten, Enttäuschungen, Verrat und Verleumdungen.
Wie kommt man in eine solche Lage? Zumal wenn man dem deutschen Dienstadel und damit den in Deutschland herrschenden Schichten entstammte? Und einem zudem als Frau auch noch die Türen zu preußischen Regierungskreisen weit offen standen, war doch Jennys ältester Halbbruder kein Geringerer als der preußische Innenminister. Der sendete ihr nicht nur ständig Spitzel, um sie zu überwachen, sondern auch Avancen. Denn er war bereit, so ziemlich alles zu tun – und das auch zu bezahlen –, um seine Schwester aus den Händen dieses jüdischen Kerls freizubekommen. Galt der doch als Staatsfeind Nummer eins – und war es auch. Eine Konstellation wie in einem Kitschroman, nur ohne Happy-End.
Jenny und Karl verbrachten ihre Kindheit und Jugend in einer Zeit des Umbruchs: Das feudalismuskritische Bildungsbürgertum wurde in dieser Zeit vom schachernden Besitzbürgertum verdrängt. Goethe beschrieb das 1825 so: „Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Facilitäten der Communication sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. […] Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende, praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihr Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Lass uns soviel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen; wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die so bald nicht wiederkehrt.“
Jenny und Karl Marx zählten zu diesen Letzten, beide waren gierig nach Leben, wollten anders sein als alle anderen: besser, solidarischer, unverklemmter. Sie wollten statt von entfremdeter Zwangsarbeit von geistiger Arbeit leben, nicht honett-bürgerlich und entsprechend verlogen, sondern frei und selbstbestimmt, kulturvoll und den Genüssen des Lebens zugetan.
Bald nach der Eheschließung 1843 gingen Jenny und Marx nach Paris und begannen ein Bohemienleben – allerdings mit einer Einschränkung: Jenny verweigerte, anders als andere Frauen, die Beteiligung an sexuellen Orgien. Auch Marx verzichtete – zumindest wenn Jenny anwesend war – darauf. Daran änderte sich auch nach 1845 nichts, nach ihrer Vertreibung nach Brüssel.
Dorthin schrieb an Marx im Februar 1846 ein Freund: „Die Schilderung Eures Brüsseler Familienlebens […] hat mir recht lebhaft die Zeit meines Aufenthalts in Paris ins Gedächtnis zurückgerufen, wo Du mich zuerst mit dem miserabeln deutsch-bürgerlichen Privattreiben der dortigen Große-Männer-Gesellschaft bekannt machtest.
Dass [Moses – alle Einschübe in diesem Zitat von J. S.] Heß und [Friedrich] Engels, deren Gegenwart wir sehnsuchtsvoll herbeiwünschten, eine zweite Auflage des schmutzigen Romans – vermehrt und verbessert – veranstalten würden, wer hätte es denken sollen? […]
[Ich] fürchte […] denn auch, dass E[ngels] über Dein eheliches Verhältnis gerade so denken wird, wie Du über ihn schreibst; wäre Deine Frau nicht, wird er sich einbilden, so würdest Du nicht anstehen, die Weide der ‚freien’ Geschlechtsverbindung, eventuell den Gegenstand seiner Liebe [gemeint ist Engels Freundin Mary Burns] vollständig anzuerkennen.“
Einig war sich der gesamte Kreis um Marx und Engels, dass es sich bei der bürgerlichen Ehe um eine besonders widerwärtige Form weiblicher Prostitution handele. Marx fasste das so: „Das Gattungsverhältnis selbst, das Verhältnis von Mann und Weib etc. wird zu einem Handelsgegenstand! Das Weib wird verschachert.“
Zumindest nach außen ging Marx einen dritten Weg zwischen bürgerlicher Moral und ihrer vermeintlichen Überwindung durch die Boheme: Er geißelte nicht nur in scharfen Worten die moralischen Zustände seiner Zeit, sondern repräsentierte einen neuen Typ des männlichen Partners, der es zu genießen schien, Liebe in Monogamie zu leben. Damit erlangte er neben seiner intellektuellen und kulturellen Ausnahmestellung eine moralische Autorität, die ihm den Ruf der Einheit von Wort und Tat einbrachte und seinem Weltbefreiungsanspruch hohe Glaubwürdigkeit verlieh.
Jenny war peinlich darum bemüht, diese Fassade zu erhalten, wusste sie doch, dass Marxens Ruf der Einheit von Wort und Tat sein wichtigstes Kapital war. Wäre diese Fassade zusammengebrochen, wäre das Zentrum seines moralischen Nimbus‘, seine ständig postulierte Verachtung der von ihm zu Recht kritisierten Gesellschaft, mit ziemlicher Sicherheit unreparierbar in Trümmer gelegt worden.
Diesen Preis war Jenny unter keinen Umständen bereit zu zahlen. Deshalb ertrug sie nicht nur Marx’ diskret gelebte Affären, sondern ging nach acht Jahren Ehe dazu über, Marx auch in dieser Frage zu managen. Ein zweites uneheliches Kind – das die wirklichen Zustände mit hoher Wahrscheinlichkeit an den Tag gebracht hätte – wollte sie auf jeden Fall verhindern. Das erste Kind hatte Marx zusammen mit ihrer Haushälterin Helene Demuth gezeugt. Gleich nach der Geburt dieses Sohnes im Sommer 1851 war das Kind außer Haus gegeben worden; Engels, der aus seinem Lebensstil nie ein Hehl gemacht hatte, übernahm die Vaterschaft. Erst auf dem Totenbett gab Engels dieses Geheimnis preis, sehr zum Entsetzen der beiden überlebenden Marx-Töchter Eleanor und Laura.
Während Karl am selbst postulierten Anspruch immer wieder scheiterte, sah sich Jenny in die Rolle gedrängt, ihre Beziehung zu dem Mann, auf den sie sieben Jahre lang gewartet hatte und darüber fast dreißig Jahre alt geworden war, stets aufs Neue umzuplanen – mit dem Ziel, ihre Liebe, zuletzt aber nur noch ihr Leben zu retten. Andernfalls hätte sie zurück zu ihrer Familie nach Deutschland gehen müssen. Doch Kapitulieren war ihre Sache nicht. Zumal es auch den anderen Marx gab. Nach dreizehn Jahren Ehe schrieb er 1856 an Jenny: „Ich schreibe Dir wieder, weil ich allein bin und weil es mich genirt, immer im Kopf Dialoge mir Dir zu halten, ohne daß Du etwas davon weißt oder hörst oder mir antworten kannst. Schlecht, wie Dein Portrait ist, leistet es mir die besten Dienste und ich begreife jezt wie selbst ‚die schwarzen Madonnen’, die schimpfirtesten Porträts der Mutter Gottes, unverwüstliche Verehrer finden konnten, und selbst mehr Verehrer als die guten Portraits.
Jedenfalls ist keins dieser schwarzen Madonnenbilder je mehr geküßt und angeäugelt und adorirt worden als Dein Photograph, das zwar nicht schwarz ist, aber sauer, und durchaus Dein liebes, süßes, küßliches, ‚dolce‘ Gesicht nicht widerspiegelt […]
Ich habe Dich leibhaftig vor mir und ich trage Dich auf den Händen und ich küsse Dich von Kopf bis Fuß und ich falle vor Dir auf die Knie und ich stöhne: ‚Madame, ich liebe Sie.‘“
Der Geburtstag von Jenny Marx jährte sich am 12. Februar zum 200. Male.
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