von Dieter B. Herrmann
Galileo Galilei (1564-1642) gilt als einer der Begründer der modernen Naturwissenschaft. Er hat viele bedeutende Werke geschrieben und sich damit etlichen Ärger eingehandelt. Wegen seines „Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische“ (1632) wurde er von der Inquisition der katholischen Kirche zum Widerruf gezwungen und musste den Rest seines Lebens unter Hausarrest verbringen. In seinen „Discorsi“ (1635) begründete er eine neue Physik.
Eine seiner berühmtesten Schriften ist ein kleines Bändchen aus dem Jahre 1610, das damals in einer Auflage von 550 Exemplaren erschien und sich „Sidereus Nuncius“ („Sternenbote“) nannte. Darin hat Galilei seine Entdeckungen am soeben erst erfundenen Fernrohr geschildert. Sprengstoff! Denn was er sah, durfte nicht sein. Die zum Dogma erstarrte Lehre des Aristoteles, gleichsam die von der Kirche anerkannte Lehrmeinung, sah zum Beispiel für den Mond eine völlig glatte Oberfläche vor. Galilei aber erblickte Erhebungen und Vertiefungen, Gebirgszüge und Täler. Noch dramatischer war die Entdeckung der vier größten Jupitermonde im Januar 1610. Da bewegten sich – nach Galilei – vier Körper um den Jupiter, obschon doch nach Aristoteles nur ein einziger Körper als Zentrum für Bewegungen anderer in Frage kam: die Erde. Viele von Galileis Zeitgenossen weigerten sich förmlich, überhaupt durch das „Teufelsding“ Fernrohr zu schauen und andere vermochten vermeintlich nicht zu sehen, was Galilei erkannt hatte. Doch der behielt schließlich völlig recht mit seinen Entdeckungen, die dem kopernikanischen Weltbild zum Durchbruch verhalfen.
Für die Forschung ist es natürlich von hohem Interesse, wie sich dieses Finden des Neuen am Fernrohr abgespielt hat, zumal der Brite Thomas Harriot, der bereits rund vier Wochen vor Galilei den Mond durch ein Teleskop betrachtet hatte, statt Erhebungen und Vertiefungen nur helle und dunkle Flächen wahrnahm.
Da tauchte vor einigen Jahren unversehens in einem New Yorker Antiquariat ein höchst ungewöhnliches Exemplar des „Sidereus Nuncius“ auf. Es enthält nicht die üblichen Stiche als Abbildungen, sondern stattdessen Tuschezeichnungen. Aus Galileis Korrespondenz wissen wir, dass einige Exemplar des „Sidereus Nuncius“ tatsächlich ohne die Abbildungen gedruckt worden waren. Doch wie kamen nun die Tuschezeichnungen in eines dieser Exemplare? Der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp (Humboldt-Universität zu Berlin) hat in akribischen Vergleichen mit anderen Zeichnungen des Mondes von Galilei und in jahrelanger Arbeit die Überzeugung gewonnen, dass Galilei selbst diese Zeichnungen eingefügt hat und sie sogar als Vorlage für die Stiche der Druckauflage verwendet hat. Um diesen zunächst nur hypothetischen Verdacht Gewissheit werden zu lassen, holte er das New Yorker Exemplar nach Berlin, um es hier im Kupferstichkabinett unter Mitwirkung namhafter Buchsachverständiger, Naturwissenschaftler und Materialkundler auf Herz und Nieren in einer Hightech-Analyse zu prüfen. Das Ergebnis lautete: das Exemplar ist echt. Die Zeichnungen stammen tatsächlich von Galilei und sind in eines der gedruckten Exemplare ohne die Stiche eingefügt worden. Bredekamp hat seine Untersuchungen zunächst in einem fulminanten Buch mit über 500 Seiten Umfang veröffentlicht: „Galilei. Der Künstler“ (Akademie-Verlag Berlin 2007). Nicht nur die Fachpresse jubelte, auch die Feuilletons großer Zeitungen feierten das Ganze als das „kühnste Projekt einer Renovatio der kunsthistorischen Kompetenz“. Bredekamp hätte gelernt, „dass der Künstler nicht denken kann, ohne Auge und Hand zu bewegen. Jetzt lehrt er uns, dass es dem Wissenschaftler nichts anders ergeht. Bredekamp zeigt uns das Zeichnen als eines der zentralen Medien unserer Weltaneignung“.
Doch aus den USA kamen Stimmen von Zweiflern. Der bekannte Harvard-Astronomiehistoriker Owen Gingerich war spätestens seit 2009 davon überzeugt, dass es sich um eine Fälschung handeln musste. Seine diffizilen Argumente wurden aber in Berlin nicht ernst genommen. Vielmehr legte Bredekamp nebst seinen Mitstreitern in einer weiteren zweibändigen Publikation (ebenfalls Akademie-Verlag) alle Beweise offen: Papieruntersuchungen, Farbmaterial, kunsthistorische Argumente – alles sprach für die Echtheit des Exemplars.
Den Umschwung führte Nick Wilding, ein junger Professor der Georgia State University, herbei, der sich zunächst lediglich die Titelseite des Buches im Internet angeschaut hatte. Dort fand er einen Eigentumsstempel, dem zufolge das Buch aus der Bibliothek des Begründers der Accademia dei Lincei, Federico Cesi, stammen sollte. Doch der Stempel unterschied sich in verschiedenen Merkmalen von den üblichen Stempeln der Bücher aus dieser Bibliothek. Nachfragen ergaben, dass sich der „Sidereus Nuncius“ nie in der Bibliothek befunden hatte. Weitaus schockierender aber war ein anderer Befund: Als Wilding ein weiteres Exemplar des „Sidereus Nuncius“ betrachtete, das in dem englischen Auktionshaus Sotheby’s angeboten wurde, fand er nicht nur denselben falschen Stempel, sondern auch Übereinstimmungen aller weiteren Details mit dem New Yorker Exemplar bis hin zu einigen Tintenklecksen. Damit brachen alle Echtheitsargumente in sich zusammen. Weitere Nachforschungen ergaben, dass der Direktor der Biblioteca dei Girolamini Napoli, Marino Massimo de Caro, offenbar diese gefälschten Exemplare in Umlauf gebracht hatte. Der Mann sitzt inzwischen für sieben Jahre unter Hausarrest – nicht wegen des gefälschten Galilei, sondern weil er aus seiner eigenen Bibliothek tausende wertvolle Exemplare entwendet und auf dem internationalen Antiquariatsmarkt verhökert hat. Der auf ominöse Weise in sein Amt Gekommene schmückte sich hochstaplerisch mit mehreren Hochschulabschlüssen, war Honorarkonsul von Uganda und Berater russischer Oligarchen.
Inzwischen haben neue Analysen der Tuschebilder des New Yorker Exemplars des „Sidereus Nuncius“ erkennen lassen, dass darin Farben enthalten sind, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Umlauf kamen. Bredekamp will nun ein neues Buch herausbringen, in dem er die Geschichte seiner Forschungen – offenbar selbstkritisch – beleuchten wird. Doch an seiner Kernthese muss er keine Abstriche machen: dass nämlich die künstlerischen Fähigkeiten Galileis als Zeichner und Maler sowie seine künstlerische Ausbildung an der Florentiner Kunst-Akademie es gewesen sind, die ihn zu seiner entscheidenden Entdeckung über die Natur des Mondes überhaupt erst befähigt haben.
Galilei ficht das alles nicht an. Er bleibt, was er immer war: einer der großen Bahnbrecher moderner Wissenschaft.
Interessante Überraschungen in dieser Sache präsentiert übrigens auch das Internet. So kann man einerseits feststellen, dass Galilei auch 450 Jahre nach seiner Geburt gegenwärtig täglich allein im deutschsprachigen Raum hunderte Abrufe seines Wikipedia-Artikels verzeichnen kann. Aber es gibt auch deutlich höhere Werte, plötzliche Spitzen. Wenn etwa in der Zeit ausführlich über die Fälschung seines „Sidereus Nuncius“ berichtet wird, schnellt gleich anschließend die Zahl der Abrufe plötzlich auf das rund Siebenfache des Durchschnittswertes empor. Das ist durchaus kein schlechtes Zeichen. Wenn in der Presse ein Problem oder eine Person thematisiert werden, streben offenbar manche nach genauerer Information. Ob sie die im Internet allein finden können, ist natürlich fraglich.
So zeigt die Geschichte um die Fälschung des „Sidereus Nuncius“, was auch schon Galilei zu Lebzeiten hinreichend erleben durfte: Wissenschaft lebt vom Meinungsstreit – selbst dann, wenn es nicht mehr um ideologische Prämissen geht. Als Zeugen können wir durchaus Alexander von Humboldt anrufen, der schon 1828 geschrieben hatte: „Entschleierung der Wahrheit ist ohne Divergenz der Meinungen nicht denkbar.“
Galileo Galilei wurde am 15. Februar vor 450 Jahren geboren. Die höchst raffiniert nachgeahmten Exemplare seines „Sternenboten“ kann man durchaus auch als eine Art von Ehrung betrachten, denn nur die Größten werden gefälscht.
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