von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.
Demokratie kann ohne eine solide informierte, autarke, pluralistische und zum kritischen Denken fähige Öffentlichkeit nicht funktionieren. Diese Öffentlichkeit wird in entwickelten Gesellschaften von Generation zu Generation traditionell vor allem durch ein unabhängig vom Geldbeutel der Eltern zugängliches und damit öffentliches Schul- und Universitätssystem regeneriert. Zumindest theoretisch. Denn in Wahrheit spielen natürlich familiäres Einkommen und sozial-kulturelle Prägung eine entscheidende Rolle – mit dem augenscheinlichen Resultat, dass die herrschenden Eliten beiderseits des Atlantiks größtenteils unter sich bleiben. Dies jedoch ist langfristig Gift für jedes sich demokratisch nennende Gemeinwesen. Daher die Anstrengungen besonders in den vergangenen hundert Jahren, mittels eines hinreichend finanzierten öffentlichen Bildungssystems die Bildungsprivilegien dieser Eliten aufzuweichen und dadurch größere Chancengleichheit sowie soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Als realistisches Ziel wurde zwar außerhalb sozialistisch und kommunistisch eingestellter Milieus nicht unbedingt eine klassenlose Gesellschaft postuliert, wohl aber durchlässigere Klassenschranken. Für die Bevölkerungsmehrheit waren diese Schranken selbst zur Glanzzeit des Sozialstaates in den 1970er Jahren keineswegs durchlässig genug. Doch einigen zunehmend einflussreichen Kreisen der Wirtschaftselite gehen die wie auch immer begrenzten Teilerfolge auf dem Weg der Demokratisierung seit langem entschieden zu weit. Daher ihr Versuch, demokratische Werte und Ziele durch autoritäre Marktwerte zu ersetzen und mittels eines radikalen Umbaus des Bildungssystems an Stelle von zum kritischen Denken fähige mündige Bürger in erster Linie lebenslange Produzenten und Konsumenten zu entwickeln.
Verbunden mit der globalen Umstrukturierung des gegenwärtigen Kapitalismus weg vom Modell des keynesianischen Sozialstaates und hin zum neo-liberalen Raubtierkapitalismus in den vergangenen dreißig Jahren mehren sich besonders in den USA die Versuche der Herrschenden, durch einen immer extremeren Kahlschlag des öffentlichen Bildungssystems die zwischen den 1950er und 1970er Jahren in bestimmtem Maße poröser gewordenen Klassenschranken wieder auszubauen. Der Weg dazu führt zu einem bewusst und systematisch herbeigeführten zivilgesellschaftlichen Analphabetentum, das demokratische Prozesse verzerrt und am Ende ad absurdum führt.
Henry A. Giroux, Professor für Kommunikationswissenschaft und Pädagogik an der kanadischen McMaster University in Hamilton/Ontario, gehört seit geraumer Zeit zu denjenigen Experten, die die sich immer deutlich abzeichnende anti-demokratische Stoßrichtung der markt-fundamentalistischen „Reformer“ in Büchern und Artikeln mit großer Sorge zur Kenntis nehmen. Mit Werken wie Stealing Innocence: Corporate Culture’s War on Children (2001), Against the New Authoritarianism (2005), Education and the Crisis of Public Values (2011), Zombie Politics in the Age of Casino Capitalism (2011) und Neo-Liberal’s War Against Higher Education (2014) belegt Giroux materialreich, wie privatwirtschaftliche Interessen die so oft beschworene freiheitlich-demokratische Grundordnung zerschlagen.
Natürlich versuchen die Bildungsprivatisierer, kritische Stimmen wie die von Giroux zu marginalisieren. Doch trotz der allgegenwärtigen Medienhegemonie neo-liberaler Bildungsabwickler gelang es ihnen bisher nicht, den Vielschreiber Giroux zu übertönen. Denn Giroux setzt nicht nur auf mit über 55 Büchern beachtliche Quantität, sondern eben auch auf inhaltlich-analytische Qualität. Seine zahlreichen Preise, Gastprofessuren und andere akademische Ehren sprechen für sich, wie übrigens auch, dass der angesehene Routledge Verlag ihn zu den 50 weltweit einflussreichsten pädagogischen Denkern seit Jean Piaget rechnet. Im Jahre 2012 konstatierte der kanadische Toronto Star, dass Giroux, obgleich gebürtiger Amerikaner, zu den zwölf wichtigsten Kanadiern zählt, die die intellektuelle kanadische Gegenwartskultur prägten.
Giroux ist im Übrigen bei weitem nicht allein mit seiner Forderung, dass dem zentralen Wesensmerkmal des neo-liberalen Kapitalismus – der kurzfristigen privatwirtschaftlichen Profitmaximierung auf Kosten der Interessen der großen Mehrheit der Gesellschaft entschlossen und mit allen demokratischen Mitteln, bis hin zum zivilen Ungehorsam, entgegenzutreten sei. Die über Jahrzehnte hinweg an der New Yorker Yeshiva University lehrende Historikerin Ellen Schrecker, vor allem bekannt durch ihre einschlägigen Veröffentlichungen zum McCarthyismus, argumentiert in ihrem 2010 erschienenen und sehr lesenswertem Buch The Lost Soul of Higher Education: Corporatization, the Assault on Academic Freedom, and the End of the American University ähnlich und auf sehr solider empirischer Grundlage.
Die Ressourcen der Bildungsabwickler bestehen nicht nur in riesiger und natürlich keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegender Wirtschaftsmacht, sondern auch in ihrer Fähigkeit, durch die von ihnen gesteuerten Massenmedien den öffentlichen Diskurs zu manipulieren. Systematische Sprachregelungen und bewusster Etikettenschwindel gehören da zum Standardwerkzeug. Wieder und wieder und auf allen Kanälen propagieren sie die angebliche Allmacht – oder zumindest die Alternativlosigkeit — von Marktprinzipien bei den Bildungsreformen. Damit verbunden wird mit verbissener Dreistigkeit behauptet, dass nur der Markt zu Effizienz und Erfolg führe und daher von allen Regulierungen befreit werden müsse. In solch simpel gestrickten Argumentationsschablonen erscheint ein auch nur theoretisch auf Ausgleich orientierter Staat als der große Feind des ach so freien Marktes. In Wirklichkeit ist die Staats-Antipathie der Bildungs-„Reformer“ eine von dem einfachen Tatbestand ablenkende Propaganda-Strategie, dass zwar jedwede staatliche Maßnahmen im öffentlichen Interesse zu verunglimpfen sind, solche bei der Wahrnehmung von privatwirtschaftlichen Interessen hingegen durchaus gefordert werden.
Neoliberale Wirtschafts- und Bildungspolitik bedeutet in der Praxis, Gewinne zu privatisieren und gleichzeitig mehr oder weniger verdeckt die Verluste zu sozialisieren. Immer verantwortungslosere Steuergeschenke, corporate welfare und mit öffentlichen Steuergeldern finanzierte Hilfspakete für die Konzerne sowie ins Wahnsinninge gestiegene Ausgaben für die Rüstung und den immer hypertrophierteren Ausbau des Polizei- und Überwachungsstaates stehen selbstverständlich im Gegensatz zum Hohelied der freien Marktwirtschaft, allerdings ebenfalls nur in der Theorie. Die bestehende und zunehmend demokratiefeindliche Wirtschafts- und Sozialordnung soll durch den Ausbau der geistig-kulturellen Meinungshegemonie der herrschenden Kreise ausgebaut werden, so dass man sich am Ende sozialere und demokratischere Alternativen nicht einmal mehr vorstellen kann. Da ist ein unabhängiges und zum kritischen Denken animierendes öffentliche Bildungssystem selbstverständlich ein Dorn im Auge der Machtelite. In der Konsequenz für die Betroffenen paart sich materielle Verarmung mit intellektueller und moralischer Deprivation.
So verwundert es also nicht, dass die Wirtschaftsmächtigen der westlichen Welt samt ihrer politischen und medialen Entourage mit der geballten Macht ihres aus WTO, IMF, der Weltbank und anderen Institutionen bestehenden Netzwerkes viel daran setzen, diese öffentlichen Bildungssysteme in ihrem Eiflussbereich zu zerschlagen und in private profitorientierte Trägerschaft zu überführen. Für sie ist Demokratie am besten als eine Art 24/7-Einkaufszentrum vorstellbar; dafür braucht’s keine souveränen Bürger, sondern ausschließlich Kunden. Selbst das äußere Erscheinungsbild öffentlicher amerikanischer Schulen reflektiert dies seit schon langem. In den Wohngegenden immer breiterer Bevölkerungsschichten ähneln die Schulen Gefängnissen, während sie in den gated communities der Reichen an malls erinnern. Mit bewusst irreführenden und inhaltsverschleiernd titulierten Bildungsprivatisierungsprogrammen wie No Child Left Behind (Republikaner) oder Race to the Top (Demokraten) erfüllen beide Parteien die Wünsche ihrer Geld- und Auftragsgeber. Der American Legislative Exchange Council (ALEC), das nicht zu Unrecht corporate bill mill genannte Spinnennetz privatwirtschaftlicher Kontrolle im amerikanischen Polit-Betrieb, das quasi am laufenden Band Gesetzesvorlagen im Interesse von Großkonzernen produziert und in Washington sowie in den Bundesstaaten in die Parlamente lanciert, koordiniert diesen Kreuzzug in gewaltigem Stil.
Und neben der gesellschaftspolitischen Zielstellung kommt auch das Kommerzielle nicht zu kurz. Bei der Teil-Privatisierung der Grund-, Mittel, und Oberschulen allein sind mindestens 500 Milliarden Dollar zu verdienen, meinte kürzlich ALEC-Mitglied Rupert Murdoch.
Schlagwörter: Axel Fair-Schulz, Bildung, Demokratie, öffentliches Bildungssystem, USA