von Erhard Weinholz
Versuch bedeutet bekanntlich so viel wie Essay. Bei diesem hier sollte man auch an Versuch und Irrtum denken. Versucht wird nicht etwa eine Analyse sämtlicher Werke; mich hat Hacks eher als Figur interessiert. Ein Anlass, gerade jetzt über ihn zu schreiben, ist rasch zur Hand: 2003, vor zehn Jahren also und ein Jahr nach seinem Tod, erschien im Eulenspiegel-Verlag die Werkausgabe. Aufbau wäre wohl besser gewesen, noch besser Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, doch das ist ja nun vorbei. Immerhin, sie machen etwas her, die fünfzehn Bände: brauner Ledereinband, farbige Rückenschilder – so stellte man sich zu Goethes Zeiten Bücher ins Regal. Es ist aber alles nur bedruckte Pappe.
Den Schreibanstoß gab etwas anderes, ein Antiquariatsfund: Stegreif und Sattel. Anmerkungen zur Literatur und zum Tage von Max Walter Schulz, erschienen 1967. Ich hatte die Broschüre nur aus Liebe zur Buchgestaltung jener Zeit gekauft, hatte sie gar nicht lesen wollen, aber irgendwie ist es dann doch passiert. Im letzten Beitrag, Deutsches Lustspiel heute, ging es um Hacks, um jene Idee, die er in Ein Plan skizziert hatte. Sie bot ihm den Vorwand, Biermann und Grass an den Karren zu fahren, doch das blieb bei Schulz unerwähnt. Ihm war vor allem der Autor wichtig, der Herr P. H., wie er ihn nennt. Dieses Herr sollte man als Schimpfwort verstehen. Denn ein richtiger sozialistischer Schriftsteller war ein Genosse, einer, mit dem man Pferde stehlen und einen ordentlichen Stiefel leeren konnte. Hacks hingegen, aus bürgerlichem Hause stammend, gab den Gentleman. Ein solcher darf sich mancherlei erlauben, nicht jedoch einen Satz wie diesen: Biermann hat in seinem (Bölls – E.W.) Bett übernachtet, und ich hoffe, er hat nicht noch Solschenizyns Läuse darin gefunden (Neues von Biermann, 1976). 1974 hatte Hacks den Nationalpreis II. Klasse bekommen, nun war die I. Klasse fällig. Sonst waren größere Abstände üblich. 1979 legte sein Freund Noll nach und versicherte Generalsekretär Honecker: Einige wenige kaputte Typen wie die Heym, Seyppel oder Schneider, die da so emsig mit dem Klassenfeind kooperieren, … repräsentieren gewiß nicht die Schriftsteller unserer Republik. Ich hoffe, die beiden finden sich eines Tages nebeneinander in der Sammlung Denkmäler deutscher Literatenschande wieder.
Einen Salonstalinisten hatte ich Hacks vor mehr als zehn Jahren einmal genannt, als jemand vorschlug, zu einer Oppositionskonferenz auch ihn einzuladen. Wer es genauer wissen will, schaue nach in seinem kleinen Aufsatz Die Namen der Linken (2000). Ein Satz daraus: Stalin hatte schon einmal die Aufgabe gelöst, einen Rückstand von hundert Jahren in zehn Jahren aufzuholen, und dafür mit den schwersten wirtschaftlichen Opfern … bezahlt. Bezahlt hat das Volk. Es mag sein, dass die Industrialisierung sich nicht anders als diktatorisch hatte bewerkstelligen lassen. Doch dass die Opfer derart schwer waren, lässt sich nicht aus der Größe der Aufgabe erklären, sondern nur aus der Stalinschen Art, sie zu lösen, die brutal und dilettantisch zugleich war. Muss man darauf noch eingehen? Leider ja: Seit längerem schon suchen etliche junge Linke wieder in einem erneuerten Leninismus-Stalinismus ihr Heil. (Mehr dazu zum Beispiel bei Thomas Klein: Die „radikale“ Linke auf dem Weg ihrer Selbstentmündigung?).
Auch ein Ausrutscher war diese Geschichtsfälschung nicht; sie fügt sich bestens ein in Hacks’ sozialistisches – sagen wir ruhig sozialistisches – Kunstprogramm. Drei Themen verbindet er darin: den Zustand von Staat und Gesellschaft, die Stellung des Dichters darin und den – eben diese Stellung bewirkenden – Charakter einer Dichtung, die dieser Gesellschaft gerecht wird. Und immer führt der Weg nach Berlin (Hauptstadt der DDR) bei ihm über Alt-Weimar. Ich habe die Väter der deutschen Literatur (Goethe und Schiller – E.W.) im Verdacht, als ob sie mit ihrem Idealismus nichts anderes meinten, denn die genaueste Widerspiegelung der statthabenden Wirklichkeiten und Möglichkeiten sowie deren fortdauernde Hochrechnung auf die Wirklichkeiten und Möglichkeiten einer billigenswerteren Menschheit hin: Realismus also (Glossen zur Untersuchung, 1976). Das hört sich gut an, findet sich, was kein Kriterium sein soll, ähnlich, erheblich prägnanter, schon bei Brecht: Realismus bedeute, die Verhältnisse als veränderbar zu zeigen – ob es stimmt, sei dahingestellt.
Ort des Dichters ist der Gipfel: Den hohen Standpunkt, den klassische Dichtung zu den Parteien einnimmt, und der ihr ermöglicht, von kleineren Kampfzielen unerhitzt ihrer beispielerischen Natur zu folgen, nimmt sie am kraftvollsten und unbefangensten ein, wenn ihm ein gemeinsamer Gesamtzweck als gesellschaftlich wirkliche Macht entspricht […]; andernfalls sei sie gezwungen, sich diesen Standpunkt selbst auszudenken (Vorwort zu Lyrik bis Mitterwurzer, 1977). Herzog Carl August konnte die Höhe dieses Standpunktes egal sein, als Herrscher war er – auch in diesen Zeiten noch – anderweitig legitimiert. Zweihundert Jahren später durfte man dem Volk mit Von Gottes Gnaden nicht mehr kommen, die Herrscher mussten nun die Wissenschaft bemühen, die ihrer Partei angeblich den höchsten Standpunkt sicherte und damit die führende Rolle. Diesen Standpunkt also sollte notfalls auch der klassische Dichter einnehmen können? Auf Augenhöhe mit der Parteiführung sozusagen? Und auf so einen wie Hacks hatten sie gerade noch gewartet. Es ging ja, wenn bei Hacks von klassischer Dichtung, von der Stellung des Dichters et cetera die Rede ist, vor allem, vielleicht sogar ausschließlich um ihn selbst.
Welche Staatsform Hacks gemäß war, es also auch der Klassik sein sollte, lässt sich schon ahnen: Das geheime Bindeglied zwischen der Klassik und den Jakobinern ist eine starke […] Lust an der Despotie (Die wissenschaftliche Gesellschaft und ihr Nachbar, September 1989). Ob Carl August oder das Politbüro despotisch oder bloß autokratisch regiert haben, ist hier nicht so wichtig. Auf alle Fälle durfte man zu Goethes Zeiten sagen, wer die Macht hatte, in der DDR hingegen nicht, obwohl es doch jeder wusste. Steif und fest wurde behauptet, hier, im besseren Deutschland, herrsche das Volk. Denn die Macht der wirklichen Herrscher war nicht einmal durch die Lehre von der führenden Rolle der Partei gedeckt.
Es gibt noch einen Unterschied: Der Fürst zu Zeiten des Absolutismus konnte sich nützlich machen, indem er bürgerliche Verhältnisse entwickeln half, und zwar auf eine Weise, die nur ihm möglich war – Joseph II. zum Beispiel mit seiner Agrarreform. Von der Herrschaft der Partei hierzulande war ähnlicher Nutzen nicht zu erwarten. Zwar floss Wasser aus der Leitung, man bekam im Laden Brot und Bier in der Kneipe, doch die Produktivität steigern konnten andere besser als die Parteioberen, und Emanzipation förderten die nur insoweit, als es eben ihrer Herrschaft zu nutzen versprach. Dass sie so ein Bewusstsein förderten, das sich auf Dauer nicht bevormunden ließ, kann nicht als ihr Verdienst gelten. Im Übrigen sollte man auch eine diktatorische Herrschaft, die Fortschritt bringt, nicht preisen, sondern in ihren Widersprüchen zeigen.
Wenn Hacks von der Klassik sprach, wollte er von der Romantik nicht schweigen. Ob seine nimmermüde Polemik gegen sie in manchem für die Wissenschaft ertragreich war, kann ich nicht einschätzen. Das literarische Leben in der DDR, und darum ging es ihm ja wohl, ließ sich mit diesem Gegensatzpaar nicht auf den Begriff bringen. Es sei denn, man hält das Streben nach Selbstbestimmung für eine reaktionäre Schwärmerei. Kurz und gut: Hacks hatte mit seinen Alt-Weimarschen Gepflogenheiten mehr als einmal gegen die – ihm sicherlich nicht unbekannt gebliebenen – Sitten am Berliner Hof verstoßen, und sich so, in bester Absicht natürlich, bei den Herrschenden unbeliebt gemacht, ohne deshalb bei den allermeisten der mehr oder minder Beherrschten, sofern sie sich um dergleichen kümmerten, an Beliebtheit zu gewinnen.
Über den Wert seines Werkes, bekanntlich keine konstante Größe, ist damit manches, aber beileibe nicht alles gesagt. Mag sein, dass es in hundert Jahren keinen mehr stört, wenn Hacks in Liebkind im Vogelnest zum Beispiel den Mauerbau zu rechtfertigen versucht. Vorausgesetzt, man liest ihn dann überhaupt noch. Vielleicht wird es ihm wie Geibel gehen, der ein staatstreues Formtalent war wie Hacks auch, nur nicht so provokant und so manieriert. Geblieben ist von seinem Werk ein Lied: Der Mai ist gekommen. Die meisten wissen gar nicht, dass der Text von Geibel stammt.
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