von Thomas Ruttig
Hamed Karzais Zeit als Präsident Afghanistans geht zu Ende. Nachdem er mit Hilfe der USA 2001 das Taliban-Regime beerbte, drei Jahre als Übergangsstaatschef und zwei Legislaturperioden als gewählter Präsident (2004-2014) das Land anführte, darf der 56-jährige paschtunische Politiker aus Südafghanistan bei der Präsidentschaftswahl am 5. April 2014 nicht mehr antreten. Die definitive Liste der elf Bewerber für seine Nachfolge wurde Ende November veröffentlicht. Sie besteht nur aus Männern und alles Paschtunen. Der frühere Außenminister Abdullah allerdings ist seit Jahrzehnten als politischer Repräsentant der überwiegend nicht-paschtunischen Nordallianz bekannt; er steht seit einigen Jahren in politischer Opposition zu Präsident Karzai und seinem Lager. Lediglich einer der übrigen 17 zuvor von der Wahlkommission disqualifizierten Kandidaten, Daud Sultanzoy, ein ehemaliger präsidentenkritischer Abgeordneter und profilierter Oppositionspolitiker, hat es nach einem Einspruch wieder auf die Liste geschafft. Der einzige Demokrat hingegen und die einzige Frau unter den ursprünglichen 27 Bewerbern bleiben ausgeschlossen – disqualifiziert wegen angeblicher Formfehler in den Bewerbungsunterlagen. Was genau sie falsch gemacht haben ist nicht bekannt – die Wahlkommission glänzt nicht gerade durch Transparenz, auch nicht gegenüber den Kandidaten.
Mit zwei Ausnahmen gehören sämtliche Kandidaten zum politischen Oligopol, das sich seit dem Sturz der Taliban 2001 herausgebildet hat.
Dieses Oligopol lebt von den über fünfzig Milliarden US-Dollar, die als Wiederaufbauhilfe nach Afghanistan flossen und dort zu großen Teilen entweder legal oder durch die endemische Korruption privatisiert worden sind. Dazu gehören auch die Milliardenaufträge der NATO-geführten ISAF-Truppen (deren Mandat Ende 2014 ausläuft und die bereits reduziert werden). Diese wirtschaftlichen Interessen übergreifen auch die ethnischen und politischen Grenzen im Land. Am meisten haben jene profitiert, die verwandtschaftlich oder politisch den Machthabern nahestehen und so auch Zugang zu den Vertretern der Geberländer hatten.
Acht der elf Präsidentschaftskandidaten waren entweder Minister, Provinzgouverneure oder präsidententreue Parlamentsabgeordnete unter Karzai. Es finden sich auch ein paar unheilige Paarungen, etwa wenn der frühere Finanzminister und Weltbankmitarbeiter Aschraf Ghani sich mit dem Warlord Abdul Raschid Dostum als Vizepräsidentenkandidat verbündet, dem zahlreiche Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. Dostum hat sich öffentlich entschuldigt, blieb aber der einzige unter den Kandidaten, der das tat. Vor allem die früheren Mudschahedin, die gegen die sowjetische Besetzung (1979-89) gekämpft hatten, sehen keinen Anlass dazu.
Zu den zwei Außenseitern gehört Helaluddin Helal von der Islamischen Partei Afghanistans, der erst vor wenigen Wochen den gegen Karzai kämpfenden bewaffneten Parteiflügel verlassen hat. Der andere ist Sardar (Prinz) Nadir Naim, ein im Westen ausgebildeter und lange Zeit dort lebender junger Spross der 1973 gestürzten Königsfamilie. Niemand kann sagen, ob es für Helal oder Naim zu mehr als einer Zählkandidatur reichen wird. In einer Interviewserie des führenden afghanischen TV-Kanals Tolo mit allen Kandidaten fiel Naim durch die Abwesenheit eines konkreten Programms auf. Helal äußerte dezidiert antiwestliche Positionen, die aber im Land durchaus populär geworden sind.
Zwei Faktoren sorgen dafür, dass Afghanistan ein interessanter Wahlkampf bevorsteht. Erstens ist die Wahl für die in Afghanistan intervenierenden westlichen Staaten von höchster Bedeutung. Nach den systematischen Fälschungen von 2009 sollen möglichst saubere Wahlen und eine reibungslose Amtsübergabe den Eindruck von Erfolg wecken, so dass die Nato bis Ende 2014 ihre Kampftruppen aus Afghanistan abziehen und ihr Engagement herunterfahren kann.
Allerdings will die US-Regierung auch danach Spezialkräfte und private militärische Dienstleister – deren Zahl schon jetzt mit 85.529 die der etwa 60.000 Soldaten übersteigt – zur Terrorismusbekämpfung in Afghanistan belassen. Nicht ohne Grund setzt Washington Karzai seit Monaten unter Druck, ein bilaterales Sicherheitsabkommen (BSA) zu unterzeichnen, das US-Soldaten Immunität gegenüber der afghanischen Gerichtsbarkeit garantieren soll. Auch Karzai weiß, dass die afghanischen Streitkräfte bis mindestens 2017 jährlich vier Milliarden US-Dollar an externer Finanzierung benötigen. Davon will Washington bisher mehr als die Hälfte übernehmen, aber ohne BSA wird der US-Kongress diese Mittel wohl kaum freigeben.
Der zweite Faktor für einen spannenden Wahlkampf liegt in der Tatsache, dass dabei Karzais politisches Erbe auf dem Spiel steht. Er möchte als Friedensmacher in die Geschichtsbücher seines Landes eingehen und versucht deshalb, auf Biegen und Brechen noch vor der Wahl Gespräche mit den aufständischen Taliban in Gang zu bringen. In der Innenpolitik möchte er weiterhin ein gewichtiges Wort mitreden. Schon letztes Jahr meinte Karzai in einer Rede, er werde auch künftig mit am Kabinettstisch sitzen, zwar „nicht an dessen Kopfende, aber an der Seite“. Seit Monaten wird in Kabul, gleich neben dem Präsidentenpalast, ein neues, großzügiges Domizil für ihn gebaut.
Offiziell will sich Karzai in der Frage seiner Nachfolge neutral verhalten. Aber zahlreiche seiner Treffen, insbesondere während der Registrierungsphase, sprechen eine andere Sprache. Im September stellte Karzai bei einem Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin den ihn begleitenden Außenminister Zalmai Rassul, einen Mediziner, als „möglichen zukünftigen Präsidenten“ vor. Hingegen distanzierte er sich von der Kandidatur seines Bruders Qayyum. Dieser war besonders von Mahmud Karzai, dem Geschäftsmann unter den fünf überlebenden Brüdern und Halbbrüdern des Präsidenten, gepuscht worden. Nach seiner Beteiligung an anrüchigen Projekten genießt er allerdings weithin nicht den besten Ruf.
Derzeit zählen der frühere Finanzminister Ashraf Ghani, der berüchtigte wahhabitische Warlord Abdul Rabb Rassul Sayyaf sowie der jetzige Außenminister Zalmay Rassul zu den Favoriten.
Grundsätzliche Politikänderungen sind von keinem der Kandidaten zu erwarten. Mit dem Sinken des westlichen Interesses an Afghanistan wird auch der Druck auf Menschen- und insbesondere Frauenrechte zunehmen. Dafür sprechen jüngste Vorstöße islamistischer Politiker, international anerkannte und von Afghanistan verfassungsrechtlich verankerte Normen zu untergraben. So sieht eine Gesetzesänderung im Strafrecht vor, dass Familienangehörige nicht gegeneinander aussagen dürfen, was die Strafverfolgung häuslicher Gewalt beinahe unmöglich macht. Schließlich rief ein islamistischer Abgeordneter zum „Dschihad“ gegen „unislamische“ Medien auf. Journalistenverbände beklagen bereits eine Zunahme gewaltsamer Übergriffe, davon viele ausgehend von staatlichen Stellen.
Schlagwörter: Afghanistan, Hamed Karzai, Paschtunen, Präsidentschaftswahlen, Thomas Ruttig