von Bernhard Romeike
Im redaktionellen Teil des Blättchens und im Forum wabert seit einigen Wochen eine eigentümliche Debatte, die der Autor Werner Richter angezettelt hat. Im Kern geht es darum, was Wissenschaft ist und wer zu ihr beizutragen berufen ist. Schaut man einfach mal im vielgerühmten Wikipedia nach, finden sich folgende Ausführungen: „Wissenschaft ist die Erweiterung des Wissens durch Forschung, seine Weitergabe durch Lehre, der gesellschaftliche, historische und institutionelle Rahmen, in dem dies organisiert betrieben wird, sowie die Gesamtheit des so erworbenen Wissens. Forschung ist die methodische Suche nach neuen Erkenntnissen sowie ihre systematische Dokumentation und Veröffentlichung in Form von wissenschaftlichen Arbeiten. Lehre ist die Weitergabe der Grundlagen des wissenschaftlichen Forschens und die Vermittlung eines Überblicks über das Wissen eines Forschungsfelds (den sogenannten aktuellen Stand der Forschung).“
Wissenschaftshistoriker und -soziologen haben darauf hingewiesen, dass es sich um Vereinbarungen zwischen den Forschern handelt (die -rinnen sind hier mitgedacht), wie man jeweils – fachgebietsspezifisch – vorgeht, also forscht und lehrt, zu Ergebnissen kommt, diese begründet, den jeweils durch Eigenleistung erworbenen Erkenntniszuwachs dokumentiert und so weiter. Im Blättchen 25/2013 problematisiert Stephan Wohanka den Objektivitäts-Anspruch der Wissenschaft. Es ist richtig, dass die im Subjekt liegende Seite des Forschens und Lehrens nicht aus dem Blick verloren werden darf. Im 20. Jahrhundert wurde dies jedoch teils konstruktivistisch so weit getrieben, als ginge es nur noch um subjektive Vereinbarungen. Da ist allerdings schon Heinrich Heine vor, der den Unterschied zwischen objektivistischer und subjektivistischer Philosophie unter Verweis auf jenen Affen erklärte, der nicht nur objektiv Wasser kocht und das Brodeln beobachtet, sondern seinen eigenen Schwanz kocht und dadurch des Kochens subjektiv teilhaftig wird. Das heißt: Subjektivität und Vereinbarung hin oder her – Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie Wissen über real existierende Wirklichkeiten produziert, die in der Natur oder in der Gesellschaft vorfindbar sind oder etwas mit der Methodik von Wissenschaft beziehungsweise Denken zu tun haben (hier sind dann auch Philosophie und Mathematik eingeschlossen). Ansonsten ginge es um Fragen, wie die nach der unbefleckten Empfängnis der Mutter Maria oder nach der Zahl der Engel, die der Herrgott auf Erden schickt, um die Frohe Botschaft auszuposaunen.
Im 19. und 20. Jahrhundert kamen dann zwei weitere wissenschaftswissenschaftliche Feststellungen hinzu: Der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn machte darauf aufmerksam, dass es jeweils Paradigmen – also vorherrschende Lehrmeinungen und Weltanschauungen – gibt, die das Wissenschaftsverständnis einer Zeit prägen. In dieser Zeit werden abweichende Meinungen in aller Regel bekämpft, ihre Vertreter zu wichtigen Stellen im Wissenschaftsbetrieb, an Universitäten, Forschungsinstituten, Zeitschriften nicht zugelassen. Die Durchsetzung eines anderen Paradigmas ist damit verbunden, dass die Vertreter des alten aussterben, die Nachfolger sich auf ein neues kapriziert haben oder gar eine wissenschaftliche Revolution stattgefunden hat. Dabei sind dann die Theoreme, Ansätze und Maßstäbe der Paradigmen vor und nach der Revolution in vielem nicht mehr kommensurabel.
Marx und Engels haben betont, dass auch wissenschaftliche Einsichten und Positionen mit Klassenpositionen und Klassenlagen zu tun haben. Es ging ihnen um Philosophie und Weltanschauung, die die Arbeiterklasse zur Übernahme der Macht befähigen sollten. Aber sie haben niemals versucht, den gesellschaftlichen Kontext der Wissenschaft aufzulösen. Im Gegenteil, Marx hat sein „Kapital“ in einer Weise gemäß den Konventionen der Wissenschaft erarbeitet, dass es auch seinen böswilligsten Gegnern nicht gelang, den wissenschaftlichen Charakter seines Werkes zu widerlegen. Die bürgerlichen Verweise auf das „Kapital“ von Marx in der Finanz- und Wirtschaftskrise haben das deutlich gezeigt. Es war dann Lenin, der meinte: „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Was meinte: Wer über diese Wahrheit verfügt, ist allmächtig – und durch die Umstände in Weltkrieg und Revolution war er, Lenin, das dann selbst. Das wurde geistig arrondiert durch ein weiteres Lenin-Wort: „bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht“.
Damit war dann im „Marxismus-Leninismus“ die höhere, weil auf Marx sich berufende und „der Arbeiterklasse“ dienende Wissenschaft von der niederen bürgerlichen Wissenschaft geschieden. Es gelang zwar auch in den 1940er Jahren nicht, eine sozialistische von einer kapitalistischen Waldschnepfe zu unterscheiden. Aber Partei-Philosophen und -Ökonomen wähnten sich auf höherer historischer Stufe, während ernsthafte Wissenschaftler, auch Philosophen oder Historiker, die weiter auch den Diskurs mit den Fachleuten im Westen suchten, per se als verdächtig galten.
Dies alles steht im Hintergrund der hier im Blättchen nun geführten Diskussionen. Und was ist so bemerkenswert? Richter teilt die Ökonomen-Welt in „gestandene Ökonomen“ und „Pseudo-Ökonomen“ ein. Milton Friedman spricht er jegliche Qualifikation ab, wie Ulrich Busch zutreffend einwendet, redet sich dann aber darauf heraus, dass er dessen Theorie gar nicht analysiert habe. Richter weiß jedoch trotzdem, dessen Theorie „ist fragwürdig“. Insbesondere moniert er die viele Mathematik in der „Pseudo-Ökonomie“ (also wer viel rechnet, ist „Pseudo“). Dem Verweis von Busch auf den Zusammenhang von Philosophie und Mathematik weicht er aus, versteigt sich dann aber dazu, mathematische Modelle in die Tradition alchimistischer Trickbetrügerei zu stellen. Der Diskutant Bernhard Mankwald belobigt Richter dafür und attestiert ihm den richtigen „Klassenstandpunkt“.
Was Werner Richter den staunenden Blättchen-Lesern also einreden will, ist wieder zurückzugehen zu Lenins Einteilung: Bürgerliche oder sozialistische Ideologie, tertium non datur. Und die Erde ist eine Scheibe. Auf der anderen Seite laufen die Antipoden.
Schlagwörter: Bernhard Romeike, Ökonomie, Werner Richter, Wissenschaft