von Hermann-Peter Eberlein
Im Jahre 1927 hielt Bertrand Russel seinen Vortrag „Why I am not a Christian“. Der Text umfasste gerade ein Dutzend Druckseiten und wurde auf seine Art zum Klassiker. Drei Generationen später nimmt sich Kurt Flasch des Themas an, braucht etwa 260 Seiten mehr – doch sein Buch taugt nicht zum Klassiker. Es ist zu lang für ein Pamphlet und zu kurz für einen Diskurs, zu gelehrt für eine mitreißende Lektüre und zu lückenhaft für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Vor allem: Es ist alles richtig, was Flasch schreibt, aber nichts ist neu.
Flasch ist Philosoph und Mediävist – das merkt man seinem Buch an. Er will Rechenschaft ablegen über sein Verhältnis zum Christentum und ihm ist klar, „wie heikel die Frage werden kann, was ein Christ ist“. Wirklich beantworten kann er diese Frage nicht. Er nennt fünf Typen von Christen: von solchen, die nur einfach gute Menschen sein wollen, über solche mit einer Jenseitshoffnung bis zu denen, die ihren Glauben fundamentalistisch, philosophisch oder auch gar nicht begründen – mit letzteren tut er sich am schwersten. Die elementarste Definition, die der Soziologen und der Statistiker, nennt Flasch nicht: Ein Christ ist jemand, der getauft ist und einer Glaubensgemeinschaft angehört, die sich selbst als christlich bezeichnet. Der Philosoph Flasch, der den Umgang mit Lehren und mit Lehrtexten gelernt hat, zielt auf eine wie auch immer geartete Übereinstimmung mit den christlichen Lehren, wohl wissend, dass diese historisch gewachsen sind und sich verändert haben: „Auseinandersetzungsfähig sind die historisch vorliegenden Selbstfestlegungen. Daher muß, wer heute über das Christentum nachdenkt, sich oft an alten Bestandstücken orientieren, am besten an dem Glaubensbekenntnis, das Katholiken wie Protestanten feierlich ablegen.“
Das tut der Autor denn auch gründlich, solide und gescheit. Er beschreibt den historischen Einschnitt, den Aufklärung und historisch-kritische Philologie für das christliche Selbstbewusstsein bedeutet haben, und die Reaktionen darauf. Er seziert Weissagungsbeweise und Wundergläubigkeit. Er problematisiert den Gottesbegriff, die Seele und das teleologische Denken. Er untersucht die christliche Ethik bis hin zu den krankmachenden Folgen katholischer Sexualmoral und die christliche Eschatologie. Er trägt alle guten Gründe zusammen, die man in den letzten drei Jahrhunderten gegen christliche Lehrinhalte ins Feld geführt hat. Er arbeitet sich ab an Paulus, Augustin und Thomas von Aquin.
Dass es immer wieder diese Autoren sind, hängt mit Flaschs Beruf und mit seiner Biographie zusammen. Er ist klug genug, seine persönlichen Hintergründe nicht zu verschweigen, aber auch nicht allzu sehr auszubreiten. Flasch ist in einem katholischen, aber nicht streng katholischen rheinischen Milieu aufgewachsen; er hat in der Nazizeit vorbildhafte Kleriker kennengelernt und Förderung durch sie erfahren; er hat nie schlechte Erfahrungen mit der katholischen Kirche gemacht – es geht nicht um Kirchenkritik. Er ist einfach aus dem herausgewachsen, was seine Kirche lehrt, und er hat gemerkt, dass ihm nichts fehlt: „Ich habe Gott gesucht und habe ihn nicht gefunden. Ich habe dabei meine rheinische Fröhlichkeit nicht eingebüßt; ich lebe und arbeite in Heiterkeit. Ich mache mir über meine Zukunft keine Illusionen; ich weiß, daß ich in absehbarer Zeit sterben werde; ich rechne nicht damit, daß die Menschheit ewig fortbestehen wird; die Sonne wird wohl einmal aufhören zu leuchten. Aber mein Leben ist nicht sinnlos. Ich habe nichts weggeworfen außer Formeln; mir fehlt nichts, was ich einmal hatte.“ Flasch ist Agnostiker mit einem stoisch, vielleicht auch epikureisch gespeisten Lebensgefühl. Er hält das nicht für christlich und legt darüber – wie sollte es bei einem Philosophiehistoriker auch anders sein – ein historisch und philosophisch argumentierendes Bekenntnis ab. Das ist ehrenwert, aber vielleicht doch mehr für die Enkel interessant als für die Öffentlichkeit. Für die zählen die Argumente, und die kann man anderswo besser nachlesen.
Das liegt vor allem an der Fokussierung auf das katholische Gegenüber. Etliche Kämpfe, die Flasch führt, entlocken einem protestantischen Theologiehistoriker nur ein Gähnen. Die historisch-kritische Methode hat sich seit zweihundert Jahren in der deutschsprachigen evangelischen Theologie flächendeckend und konkurrenzlos durchgesetzt – einen ihrer konsequentesten Vertreter, Herbert Braun (den ich einst auch noch hören durfte), würdigt Flasch aufgrund persönlicher Bekanntschaft als integren Gelehrten, ohne dass er ihm wirklich etwas hätte abgewinnen können. Die Existenz Jesu geleugnet haben zuerst protestantische Theologen der Hegelschule. Der theistische Gottesbegriff wurde von protestantischen Autoren im Spinozastreit des späten 18. Jahrhunderts abgewiesen. Ende des 19. Jahrhunderts hat der evangelische Kirchenhistoriker Adolf von Harnack im Apostolikumsstreit die Relativität von Glaubensbekenntnissen popularisiert. Der protestantische Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch hat wenige Jahre darauf den Absolutheitsanspruch des Christentums, wie er traditionell verstanden wurde, aufgegeben. Ich könnte fortfahren. Summa: Flaschs Bekenntnis „Die Geschichte des Christentums, seine Kunst und Literatur interessieren mich wie zuvor, aber alles Dogmatische geht mich nur historisch etwas an“ – dieses Bekenntnis teilt vermutlich eine nicht geringe Zahl evangelischer Pfarrer, die sich durchaus als Christen bezeichnen.
Ob sie es mit Recht tun, ist eine Frage der Definition. Ich plädiere für eine rein statistische und halte Flaschs Kriterium einer inhaltlichen Übereinstimmung mit kirchlichen Lehrnormen für viel zu eng. Es wird auch dem historischen Befund nicht gerecht. Die Renaissancepäpste und die Humanisten des Quattrocento haben sich durchaus als Christen gefühlt; sie waren Katholiken nicht aus Überzeugung, sondern de facto, wie der italienische Philosoph Mario Pernicola sagt. Sie waren es, weil für sie civitas humana und Kirche eins waren – ohne dass man alle Glaubenslehren teilen oder einer bestimmten Moral folgen musste. Und sie hatten recht: solche Art zu fühlen ist legitim und macht gerade einen Wesenszug des Katholizismus aus.
Und nicht nur des Katholizismus: Ein aufgeklärter Moslem, aus dem arabischen Raum gebürtig, sagte mir einmal: „Wissen Sie, ich bin Atheist. Wenn man in meinem Lande Atheist ist, hat man meine Religion. Wenn man in Ihrem Lande Atheist ist, hat man Ihre Religion.“ Christentum gibt es nicht nur als persönliches Bekenntnis, sondern auch als kulturellen Hintergrund – wie die Muttersprache. Wenn wir unsere Kultur, wenn wir uns selbst verstehen wollen, müssen wir zumindest den Versuch unternehmen, diese absurde und doch so ungemein realistische, zugleich neurotisierende wie heilkräftige, diese oft grausame und manchmal großartige Religion, die wir Christentum nennen, zu verstehen. In der Kirche kann ich das besser als von außen her und verdiene damit lehrend und lernend sogar mein Geld. In diesem Sinne bin ich Christ. Ob ich Theist bin, Atheist oder Agnostiker, geht vielleicht später noch nicht einmal meine Enkel etwas an.
Kurt Flasch: Warum ich kein Christ bin. Bericht und Argumentation, Verlag C.H. Beck, München 2013, 280 Seiten, 19,95 Euro.
Schlagwörter: Christentum, Hermann-Peter Eberlein, Kirche, Kurt Flasch