von Peter Liebers
Wie ein Wunder muss es 1996 auf Christa und Gerhard Wolf gewirkt haben, als sie eine Aufführung der Erzählung „Medea“ in Lissabon auf der Bühne eines Kinos auf Portugiesisch erlebt haben. „Zwar konnten Christa und ich nur ahnen, an welchen Textstellen die Schauspieler gerade sind, aber wir haben gedacht: Mensch, das können wir doch auch machen!“ So beschreibt Gerhard Wolf gemeinsamen Entschluss der Wolfs, eine neue Form der Präsentation von Literatur für sich zu erproben. Der Maler Helge Leiberg wurde ihnen ein erfahrener und verlässlicher Mitgestalter. 1990 hatte er die Performance-Gruppe GOKAN gegründet, die sich mit der Tänzerin Fine Kwiatkowski und den Musikern Lothar Fiedler und Dietmar Diesner zwischen den Künsten bewegte und für eine Performance mit der Schriftstellerin Christa Wolf eine künstlerische Basis bot. Und bei „Medea“ sollte es nicht bleiben.
Die Stiftung Schloss Neuhardenberg widmete der Autorin und ihrem Mann, dem Herausgeber, Schriftsteller und Verleger Gerhard Wolf, im Sommer 2010 ein Wochenende, das die vielseitigen Interessen zu Künstlern verschiedener Generationen abbildete. Dass Christa Wolf gemeinsam mit Günther Uecker in der Schinkelkirche in Neuhardenberg ihr Buch „Störfall“ vorstellte, war neben den Versuchen, sich mit ihren „Malerfreunden“ auch bildkünstlerisch zu platzieren, ein ihr gemäßes politisches Anliegen. „Störfall“ vereinte erstmals die literarischen wie künstlerischen Reaktionen der Autorin und des Malers auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Die Neuhardenberger Ausstellung „Unsere Freunde, die Maler“ wurde zu einer Hommage sowohl an Christa und Gerhard Wolf als auch an die von ihnen zu DDR-Zeiten über Jahrzehnte geförderten und unterstützten Künstler. Angela Hampel, Martin Hoffmann oder Gerda Lepke waren zu sehen und stehen bis heute dafür, dass die Wolfs und ihre Malerfreunde ihre eigene Geschichte haben. Zumal die „Medea“-Performance in dem von Christa Wolf und Helge Leiberg entwickelten Prinzip „Noise-Painting“ zum kreativen Innovationsschub wurde.
Eine Kunstform war damit gefunden, die für Außenstehende für das Werk Christa Wolfs undenkbar erschienen sein mag. In gewisser Weise hatte sich aber die Autorin damit selbst neu erfunden. Dass sie dafür der Ermunterung ihres Mannes Gerhard Wolf bedurfte, ist jedem klar, der sich auch nur annähernd auf das Lebenswerk der Schriftstellerin eingelassen hat. 2008 bekannte sie: „Im Grunde ist es eine Symbiose. Wenn heute einer etwas über mich wissen will, über eine bestimmte Zeit oder eine Veröffentlichung, schicke ich ihn zu Gerd.“ Eine von Frank Rothe fotografierte Situation zeigt das bisweilen als bieder beschriebene, 60 Jahre lang verheiratete Paar vor seinem Sommerhaus im mecklenburgischen Woserin in einer vertrauten, berührenden Weise, die jede weitere Erklärung über diese „symbiotische Beziehung“ überflüssig macht. Das ehemalige Pfarrhaus war ein magischer Ort und ist es bis heute.
Erst viele Monate nach dem Tod seiner Frau ist Gerhard Wolf dorthin zurückgekehrt. Wie zuvor im mecklenburgischen Neu Meteln war Woserin für das Paar und die Familie ein Rückzugsort; zu DDR-Zeiten um Gelegenheit zu finden, sich der seit der Biermann-Ausbürgerung 1976 ununterbrochenen Observierung durch die Staatssicherheit zu entziehen und mit Freunden zu treffen. Auf andere Weise war ihr Refugium nach dem Fall der Mauer notwendig, denn sie sah sich Kampagnen ausgesetzt, die darauf zielten, sie als in der Welt hochgeschätzte Autorin zu demontieren und auch ihr Werk zu diskreditieren.
Zu Beginn des Jahres 1993 hatte Christa Wolf sich in einem Artikel in der Berliner Zeitung sich dazu bekannt, von 1959 bis 1962 als IM von der Staatssicherheit der DDR geführt worden zu sein. Die Veröffentlichung dieser Fakten und die Kritik an ihrer 1990 erschienenen Erzählung „Was bleibt“ löste den sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreit aus. In den damals maßgeblichen Medien wurde ihr ihre Stasiverpflichtung auf unwürdige Weise zum Vorwurf gemacht. Der gesellschaftliche Kontext, die grotesk anmutende Geringfügigkeit der Berichte, auch die langjährige eigene Überwachung spielten keine Rolle, ebenso wenig wie ihr kritisches Verhältnis zur Politik der DDR. Eine Situation, in der die Besonnenheit Gerhard Wolfs für seine Frau geradezu existenziell war.
Die Schriftstellerin sah sich einer Hexenjagd ausgesetzt, die vor allem eine Abrechnung sein sollte mit ihrem Engagement für einen „demokratischen Sozialismus“. Vorgeworfen wurde ihr, dass sie in der DDR geblieben war. Christa Wolf begründete ihre Entscheidung mit dem Gefühl der Verantwortung, dass ihre Leser sie dort gebraucht hätten. Missverstanden von ihren Kritikern wurde auch, dass sie ihre Situation im vereinten Deutschland mit ihrer Unterdrückung in der DDR verglich. Sie entschied sich, mit ihrem Mann 1992/93 in die USA zu gehen, um sich aus der politischen Öffentlichkeit herauszunehmen und endlich wieder schreiben zu können. Von einer schweren Erkrankung blieb sie dennoch nicht verschont. Ihr Buch „Leibhaftig“ dokumentiert Ursachen und Wirkungen. Um die Vorwürfe gegen sie zu widerlegen, unterzog sie sich in den USA der Tortur, 1993 in einer Publikation ihre vollständige IM-Akte unter dem Titel „Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation“ herauszubringen. Es klingt fast lapidar, wenn die Schriftstellerin ihrer Enkeltochter Jana Simon gesteht, dass sie immer wieder „in große Konflikte verwickelt“ gewesen sei, „und ich weiß nicht, wie ich sie allein hätte bewältigen können. Das hätte ich nicht geschafft. Ich war manchmal sehr krank, befand mich in schlimmen Zuständen. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn da nicht einer gewesen wäre, auf den ich mich völlig verlassen konnte, und der auch ein guter Maßstab für moralische Fragen war – dafür, was man machen kann und was nicht.“ Das sei so ausführlich zitiert, weil bei der vielfältigen Verbundenheit der Eheleute Christa und Gerhard Wolf davon kaum die Rede war. Und wenn, dann von der „Symbiose“, die die Schriftstellerin fern der Idylle beschreibt: „Während ich manchmal dachte, ich muss bestimmte Sachen machen, weil ich der DDR nicht schaden wollte. Von ihm kam immer die Gegenbewegung. Gerd ist nicht zu kaufen.“ Unbestechlichkeit ist ein Charakteristikum für Gerhard Wolf, das er in der Auseinandersetzung und Förderung zahlreicher junger Autoren ebenso einsetzte wie für das Werk seiner Frau. Hier gab es im Hause Wolf unter keinen Umständen Kompromisse. Allein der schwere Findungsweg für eine Erzählform für ihr Buch „Kindheitsmuster“ ist Legende. Mehr als ein Dutzend Fassungen mussten diskutiert und verworfen werden, ehe sich beide auf die 1976 erschienene einigen konnten. Das von William Faulkner entlehnte Motto blieb für die Schriftstellerin lebenslang gültig und stand so erbarmungslos wie hilfreich als Herausforderung für ihr Schreiben: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Keinesfalls wollte sie sich mit der Schutzbehauptung von vielen ihrer Generation abfinden, dass sich „frühere Leute leichter erinnerten: eine Vermutung, eine höchstens halbrichtige Behauptung. Ein erneuter Versuch, dich zu verschanzen.“ Erscheinen Jana Simons Fragen an ihre Großeltern in ihrem Interviewband „Sei dennoch unverzagt“ auf den ersten Blick bisweilen unangemessen naiv, so geben sie Christa und Gerhard Wolf eben doch Gelegenheit, ganz bei sich zu bleiben. Wenn sie zum Beispiel auf die Frage „Wie seht ihr euch?“ antworten: „Das kannst du nachlesen in ,Er und ich‘. […] Das Authentische ist das, was wir schreiben.“
Christa Wolf ist vor zwei Jahren, am 1. Dezember 2011, gestorben.
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