16. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2013

Therapie

„Gedichte entstehen aus der Untröstlichkeit“
Paul Wiens

von Henry-Martin Klemt

Ich habe viele therapeuten behandelt. Ich habe sie behandelt, wie jemanden aus der familie. Aus der kaputten familie. Aus der explodierten familie, deren teile über die welt verstreut wurden. Ohne zusammenhang scheinbar. Ohne bezug zueinander, ausser den scharfen bruchstellen der trümmer, die etwas beweisen, was niemand zu beweisen wünscht.
Am anfang habe ich sie gefragt, weshalb sie begonnen haben, sich mit psychologie zu befassen. Und wenn sie dann kamen mit solchen geschichten, das hätte sie eben schon als kind interessiert, dann haben wir vorsichtig versucht, miteinander zu reden. Kein kind interessiert sich für psychologie, wie kein glücklicher sich interessiert für glücks beschaffenheit. Kein kind, das nicht allein gelassen wurde und beiseite geschoben, drangsaliert und zu unrecht bestraft – red weiter – missverstanden und totgeschwiegen und unter sich begraben, kein solches kind kümmert sich darum, was vorgeht in seinem kopf und den anderen köpfen. Und wenn ihm all das widerfährt oder nur ein wenig davon, bedarf es doch des mutes zur gegenwehr. Der tapferkeit des erkennens, der beharrlichen flucht unter den schirm des durchschauens, der selber undurchschaubar ist.
Einmal so weit gekommen, haben wir uns mühe gegeben, die erfahrenen herauszuschälen aus der schale ihrer professionalität, haben das phantom der kontrolle auszutricksen begonnen und sie der illusion entkleidet, ihr helfenkönnen könnte ihnen helfen, haben die schimäre zerschlagen, ihr geist könnte der eigenen geister wehren. Manches davon hatte durchaus erotische momente. Vor allem, wenn nackt und frei die rache vor uns lag. Die zur profession gereifte rache an der selbstgefälligkeit einer gesellschaft, die sich selbst für das normale hält und alle, die ihrem irrglauben anhängen, für normal.
Aber warum ich? Weil diese menschen im dichter den bruder erkannten. Weil auch die poesie eine aufhebung ist und keine wegmache. Der trost, den sie bereitet, ändert nichts an der untröstlichkeit, der sie entspringt. Ihre fähigkeit zu heilen ist dem unheilbaren entronnen. Selbst ihre schwärmerei zieht eine feuerspur hinter sich her.
Jetzt höre ich dir zu. Und wundere dich nicht, wenn du dich wiedererkennst in einem gedicht. Wie sollte ich unser begegnen überleben, wenn mir nicht schalen wüchsen aus deinen worten. Schalen, in die ich gehüllt bin, wunderbar verwundbar, schalen, die ich vor mir hertrage wie blutopfer durch die dämmerung, wie öllichte durch die nacht. Du hast sie, ich hab sie gefüllt. Die verklärung verbrennt darin. Die asche wird dem wind widersprechen, der am ende nicht recht behält, denn er muss, wohin auch immer, sie tragen. Und nichts hehres ist an der geronnenen neige, süsslich und braun. Überhaupt nichts grosses an dem, was nicht lebt und doch bestimmt ist, zu leben.
Also leben wir und erkennen einander. Das ist nicht gesund. Ist keine ästhetik, keine religion und kein wert an sich. Wenn wir es hofften, dann haben wir uns geschnitten. An scharfen trümmerkanten, von asche zugeweht, blutig von fremdem blut.
Wir treideln den text, wir ziehen ihn an den haaren herbei. In eine romantische zuflucht vorerst. Eine höhle, in der noch ein winterfeuer glimmt, das sich neu entfachen lässt mit ein paar atemzügen. Dann werfen wir wieder schatten. Dann folgt unser blick auf die schroffen wände unseren vermeintlichen bewegungen und unserer scheinbaren grösse. Dann wissen wir, dass es zeit ist, die augen zu schliessen.
Jetzt hör ich dir zu. Und morgen werden wir gehen.

(November 2013)