von Sem Pflaumenfeld
Auch mein Psychiater wollte einmal wissen, wie ich Weihnachten verbringe. Diese Frage ist keine ohne Gefahren. Es gibt Gründe, warum ich mich ausgerechnet für diese besinnlichen Zeit für Reisestipendien bewerbe. Die letzten Tages des Jahres verbringe ich lieber einige tausende Kilometer weit weg von Berlin.
In dem Jahr vor dem Erdbeben im Nordosten von Japan saß ich in den Cafés der Megalopolis Tokyo und dachte darüber nach, warum ich nun das Fest der Liebe und der Familie im Ausland bei Grüntee mit aufgeschäumter Milch (Matcha Latte) und Mohnquarkkuchen (Poppyseed Cake) feiere. Die einfachste Antwort wäre wohl, dass die Angebote in den Cafés ausgefallener sind als in der deutschen Hauptstadt. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn ich bedenke, dass ich auch in Berlin in den sogenannten Franchise-Cafés sitze und dem Weihnachtseinkäufen aus dem Weg gehe, liegt der Grund wohl tiefer.
Ich bin ein ausgesprochener Weihnachtsmensch. So oft, wie ich über diese Zeit am Ende des Jahres bereits geschrieben habe, wird das auch nicht verwundern. Eigentlich bin ich für den Trubel in Tokyo nicht so sehr zu haben. Vor drei Jahren stand ich wieder vor den Konditoreien und besah mir die Christmas cakes, die es obligatorisch in der Großstadt zu kaufen gibt. Sie sind schön anzusehen, wie sie mit Erdbeeren und Mistelzweigen entweder aus Plastik oder Zuckerwerk bestückt sind. Nun sinkt die Temperatur tagsüber nicht weit unter zehn Grad, doch die Nächte sind kalt genug, um den Anbau von Erdbeeren nicht lukrativ zu machen. Die Früchte sind dementsprechend eher nicht ökologisch angebaut, das ist jedoch auch nicht Sinn der Erdbeerschwemme zu Weihnachten. Es geht um die Farbgebung von Rot und Weiß in festlicher Symbolik. Ich mochte die cremigen Köstlichkeiten, da ich für Zucker immer zu haben bin.
Nun wird Weihnachten auch gefeiert, jedoch ist dieses besinnliche Fest vor allem für Paare. Es ist ein Fest, in dem vor allem zwei Menschen sich ihre Zuneigung zeigen. Romantische Abendessen und nachfolgende sexuelle Begegnungen werden geplant und durchgeführt. Es werden weniger die Geburt eines kleinen Menschen mit Potenzial zum Erlöser, als mehr die nächtlichen Tätigkeiten der involvierten Erwachsenen zelebriert. Mit einem Blick auf die niedrige Geburtenrate geht es wohl auch nicht um die Zeugung zukünftiger Generationen. Sollte die Statistik von vor drei Jahren noch ansatzweise stimmen, dass Paare bereits innerhalb des ersten halben Jahres der Beziehung die sexuellen Kontakte miteinander stark reduzieren, ist Weihnachten eine der besonderen und eher seltenen Gelegenheiten. Dabei sind die Tage selbst keine arbeitsfreien. Der Geburtstag des Kaisers am 23. Dezember ist ein Feiertag. Dann sind die drei Tage des Neujahres für die meisten Menschen mit Büroarbeit frei.
In der Forschung, vor allem jedoch in nicht-japanischsprachigen Medien wird der sexlose Japaner gern als Abziehbild eines Mannes durch die Druckerpresse gejagt. Sôshoku danshi sind dabei nicht, wie das Wort als Pflanzenfresser-Mann anzeigen könnte, Vegetarier, sondern Männer, deren der physische und romantische Kontakt zu Frauen abhold sein soll. Sie sind eben keine Fleischfresser und Jäger, sondern zarte und zurückgezogene Sammler. Jedes Klischee zur Entmaskulinisierung des Japaners an sich von Frauenversteher bis Muttersöhnchen, von ungepflegten Stubenhockern mit Hang zu Videospielen und Animes – den sogenannten Otakus – bis zu metrosexuellen Männern in androgynen Moden haben wir dabei. Das mediale Phänomen ist dabei schon etwa fünf Jahre alt, die Journalistin Fukusawa Maki prägte 2007 den Begriff über die Männer der Heisei-Zeit (seit 1989). Es ist der Versuch einer vereinfachten Beschreibung der sich verändernden Geschlechterverhältnisse vor allem seit Beginn des neuen Jahrtausends. Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetze auf dem Arbeitsmarkt legten rechtlich die Gleichberechtigung fest. Flexibilisierung und Prekarisierung haben auch in Japan die Mittelschicht, zu denen sich in den 1980er Jahren noch 80 Prozent der Bevölkerung zählten, erreicht.
Diesem Bild steht die aggressive, fleischfressende Frau gegenüber. Dieser aus dem Tierreich von Jägerin und Gejagtem entlehnte Vergleich basiert dabei auf der Sexualisierung der Geschlechterverhältnisse. Sie betrachtet nur die Beziehung zwischen Frauen und Männern und lässt alle anderen aus. Dabei fordern Japanerinnen nur die Anerkennung und Erfüllung der eigenen romantischen und sexuellen Wünsche. Was zu dem medialen Sturm im Wasserglas geführt hat, ist die Öffentlichkeit der Forderungen an die eigenen Partner und in der Partnerwahl. Dass das Männer verunsichert, verwundert erst einmal nicht. Die australische Soziologin Raewyn Connell prägte einmal den Begriff der „hegemonialen Männlichkeit“, anhand derer Männlichkeiten verhandelt werden. Lebensentwürfe, Identitäten messen sich durch den Mangel an bestimmten Teilen zur Hegemonie. Wie viel sexuelle Kontakte Paare oder Singles haben, könnte eigentlich egal sein. Denn was im sprichwörtlichen Schlafzimmer passiert, geht niemanden etwas an. Aber darum geht es in dieser Debatte nicht. Desinteresse an Ehe und an ehelichem Geschlechtsverkehr hat für Japan handfeste bevölkerungspolitische und ökonomische Konsequenzen. In englischsprachigen Medien wird auch nicht an sich über die wandelnden Ideen von Geschlecht diskutiert, sondern darüber, dass die Japaner sich wieder einmal seltsam benehmen. Diesmal haben sie eben kein Interesse an Sex mit ihren so wunderschön exotischen Frauen. Und der entmaskulinisierte „Orientale“ eignet sich ausgezeichnet für die eigenen sozialen Ängste, um Rassismen von vor hundert Jahren aufzupolieren und wieder aufleben zu lassen.
Ich erlebte Weihnachten im Großraum Tokyo als fröhliches und lautes Fest unter befreundeten Menschen. Der US-amerikanische Einfluss ist nicht nur in der Farbwahl von weiß, rot und grün und der Liederauswahl zu merken. Mir fehlten schon die Glocken… Jedoch mag ich den Trubel, der gar nicht vorgibt, besinnlich sein zu wollen. Dass dies auch in Tokyo möglich ist, ist dann an dem Familienfest von Neujahr zu sehen. Ich mag es, in dem Lauten und Funkelnden zu verschwinden und mir meine Wahlfamilie zu suchen. Ich schrieb einmal an dieser Stelle, dass ich die Pärchenlastigkeit in japanischen Großstädten anstrengend finde (Zeit der Einkehr, Das Blättchen 25/2012). Auch in der Weihnacht werde ich daran erinnert. Aber wenn sie sich zu ihren romantischen Abenden zurückziehen, habe ich einmal Platz auf der Straße.
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