von Dieter Naumann
Beim Tod ihres Pfarrers sah sich eine Kirchgemeinde auf Rügen vor zwei grundlegende Probleme gestellt: Die Pfarrstelle musste möglichst problemlos wieder besetzt und die Pfarrwitwe versorgt werden. Die Neubesetzung einer durch den Tod des Pfarrers freigewordenen begehrten Pastorenstelle war deshalb an die Bedingung geknüpft, dass der ledige Amtsnachfolger die „mannbare“ Tochter oder die Witwe seines Vorgängers ehelichen sollte. Auch einen durch Krankheit oder Unfall hinfällig gewordenen Pastor sah die Gemeinde am liebsten auf diesem Wege, nämlich durch Einheirat eines jungen Hilfspredigers, versorgt. Damit kamen auf die Gemeinde keine Lasten zu, die sonst zu erwarten wären, denn einem alten Sprichwort zufolge bestand die Nachlassenschaft der Prediger nur in Büchern und Kindern. Freilich sah man auch damals schon die Gefahr des Missbrauchs, dass nämlich nicht geeignete „Subjecte“, für den Pfarrdienst unzureichend vorbereitet, vorgezogen wurden, nur weil sie bereit waren, die Pfarrwitwe oder eine ihrer Töchter zu ehelichen.
Pastor Ernst Heinrich Wackenroder bezeichnete diese Art Neubesetzung der Pfarre in seinem 1732 erschienen Buch „Altes und Neues Rügen“ als „conserviren“, weil die Pfarrtöchter oder -witwen der Gemeinde erhalten blieben und möglicherweise für Pastorennachwuchs sorgten. Weniger gewählt drückte sich der Volksmund aus, er formulierte drastisch und scherzhaft zugleich: „Willst Du die Pfarre, nimm erst die Quarre!“ Obwohl es für das plattdeutsche „Quarre“ durchaus weniger derbe Übersetzungen gibt, dürfte der Volksmund darunter eine „zänkische und keifende“ Frau verstanden haben.
Neben dem Erhalt der zumeist wirtschaftlich ergiebigen Pfarrstelle hatte das Verfahren für den neuen Pfarrer den Vorteil, das sogenannte Erbegeld nicht an die Erben des Vorgängers zahlen zu müssen. Darunter waren alle Ausgaben zu verstehen, die der Pfarrer in die Erhaltung der Pfarrgebäude und -grundstücke investiert hatte. Hintergrund war das schon im Mittelalter geltende onus structurae, die Last der Bauung, wonach der Pastor und nicht die Gemeinde die Pflicht zur Erhaltung trug. Das ihm dafür zustehende Einkommen reichte oft nicht aus, so dass die Erhaltungsmaßnahmen häufig auf eigene Kosten erfolgten. Diese bei Visitationen registrierten Gelder, es konnten leicht hundert oder mehr Reichstaler sein, müsste der neue Pfarrer den Erben seines Vorgängers erstatten – ausgenommen, er heiratet ein …
Friedrich Zöllner, vielseitiger Gelehrter und Akademiemitglied, der 1795 über eine Rügenreise berichtete, fasste die wirtschaftlichen und sozialen Vorteile einer solchen „Einheirat“ zusammen: Wenn der Pastor keinen Sohn als Nachfolger hat, so kann ein fremder Nachfolger „selten besser für sein häusliches Glück sorgen, als wenn er sich, ist die Wittwe des Vorfahren noch jung, mit dieser, ist sie alt, mit einer von ihren Töchtern verheiratet. Er erspart sich dabei alle die Unruhen, die mit der neuen Einrichtung einer großen Wirtschaft verbunden sind; er tritt gleich in einen vertrauten Familien-Zirkel, und wird auf einmal einheimisch. Und diese Vorteile wird er selten mit irgend einer Aufopferung erkaufen, wofern er nicht die gemeine Kandidaten-Torheit begangen hat, sich vor erhaltener Vocation (Berufung in das Amt – der Autor) zu versprechen; denn in der Regel ist das hiesige Frauenzimmer gesund, gutgebildet, unverdorben, und durch eine sorgfältige Erziehung geschickt gemacht, das Glück eines würdigen Mannes zu gründen.“
Es kam immerhin vor, dass eine Pastorenwitwe durch diesen Brauch zu drei oder gar vier geistlichen Gatten gekommen ist. Der schon erwähnte Wackenroder berichtete, dass 1661 Pastor Georgius Eisen die Witwe seines Vorgängers heiratete, „die nunmehro zum 3. mahl bey der Pfarre conserviert worden“ sei. In Groß Zicker auf Mönchgut heiratete Pastor Svantenius in zweiter Ehe Anna Vogtlands, die Tochter des vermögenden Stralsunder Kaufmanns und Weinhändlers Jürgen Vogtlands. Als Svantenius 1670 starb, ehelichte seine Witwe nach dem Trauerjahr den Nachfolger, Pastor Jeremias Becker, der jedoch bereits 1678 starb. Da die Witwe im kirchlichen Amtsdeutsch noch „wohl mannbar“, also heiratsfähig war, heiratete sie 1679 in für sie dritter Ehe Pastor Andreas Neander. Nach dessen Tod im Jahre 1690 kaufte sich die Witwe in das Johanniskloster in Stralsund ein, wurde aber nach ihrem Tod 1710 auf dem Friedhof von Groß Zicker neben ihren drei Männern bestattet. Damit war die Geschichte dieser Familie noch nicht zu Ende, denn 1691 heiratete die Tochter aus zweiter Ehe, Anna Katharina Becker, den Nachfolger ihres Stiefvaters, Pastor Johannes Cadow, der 1718 nach 27 vergnüglichen Ehejahren – so die Eintragung im Kirchenbuch – starb.
Kurios mutet das Beispiel an, über das wiederum Wackenroder berichtete: Pfarrer Samuel Heinrich Sommerfeldt sollte die Pfarrstelle in Gustow auf Rügen nur dann bekommen, wenn er die Tochter seines verstorbenen Vorgängers heiratete. Als jedoch deren Mutter, die Pastorenwitwe, den künftigen Bräutigam und Bewerber um die Pfarrstelle sah, „da fingen noch einige Funcken Asche bey ihr herfür zu glimmen“, und sie soll gesagt haben, „ick will den Herren sülvest!“ Der künftige Pastor musste wohl oder übel die Ehe mit der lustigen Witwe eingehen, ansonsten hätte er die Pfarre nicht übernehmen können. Laut Wackenroder soll Sommerfeldt noch 25 vergnügliche Ehejahre gehabt haben und ein Jahr nach seiner Frau gestorben sein.
Möglicherweise handelt es sich um die gleiche Episode, von der Franziska Tiburtius, Deutschlands erste Ärztin, in Bisdamitz auf Rügen geboren, in ihren Erinnerungen einer Achtzigjährigen erzählte. Demnach habe ein Pastor, der notgedrungen die Mutter statt der Tochter heiraten musste, beim ersten Tanz geflüstert: „Mütterchen, ich wünsch Ihr die ewige Ruhe!“ Darauf soll sie vernehmlich und grob geantwortet haben: „Un ick Em uck!“
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