16. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2013

Einleitung zu Borkheims „Mordspatrioten“

von Friedrich Engels

[…] Die „Mordspatrioten“ erschienen gleich nach dem französischen Krieg im „Volksstaat“ und bald darauf im Separatabdruck. Sie bewiesen sich als ein höchst wirksames Gegengift gegen den überpatriotischen Siegesrausch, worin das offizielle und bürgerliche Deutschland schwelgte und noch schwelgt. In der Tat gab es kein besseres Ernüchterungsmittel als die Rückerinnerung an die Zeit, wo das jetzt in den Himmel erhobene Preußen vor dem Angriff derselben Franzosen, die man jetzt als Besiegte verachtet, schimpflich und schmählich zusammenbrach. Und dies Mittel mußte um so kräftiger wirken, wenn die Erzählung der fatalen Tatsachen einem Buche entnommen werden konnte, worin ein preußischer General, obendrein Direktor der allgemeinen Kriegsschule, die Zeit der Schmach nach offiziellen preußischen Aktenstücken – und man muß es anerkennen, unparteiisch und ungeschminkt – geschildert hatte. Eine große Armee, wie jede andre große gesellschaftliche Organisation, ist nie besser, als wenn sie nach einer großen Niederlage in sich geht und Buße tut für ihre vergangenen Sünden. So ging es den Preußen nach Jena, so nochmals nach 1850, wo sie zwar keine große Niederlage erlitten, wo aber doch ihr gänzlicher militärischer Verfall ihnen selbst und der Welt in einer Reihe kleinerer Feldzüge – in Dänemark und in Süddeutschland – und bei der ersten großen Mobilmachung von 1850 handgreiflich klar gemacht, und wo sie selbst einer wirklichen Niederlage nur entgangen waren durch die politische Schmach von Warschau und Olmütz. Sie waren gezwungen, ihre eigene Vergangenheit einer schonungslosen Kritik zu unterwerfen, um das Bessermachen zu lernen. Ihre militärische Literatur, die in Clausewitz einen Stern erster Größe hervorgebracht, seitdem aber unendlich tief gesunken war, hob sich wieder unter dieser Unumgänglichkeit der Selbstprüfung. Und eine der Früchte dieser Selbstprüfung war das Höpfnersche Buch, aus dem Borkheim das Material zu seiner Broschüre nahm.
Auch jetzt noch wird es nötig sein, immer wieder an jene Zeit der Überhebung und der Niederlagen, der königlichen Unfähigkeit, der diplomatischen, in ihrer eigenen Doppelzüngigkeit gefangenen preußischen Dummschlauheit, der sich in feigstem Verrat bewährenden Großmäuligkeit des Offiziersadels, des allgemeinen Zusammenbruchs eines dem Volk entfremdeten, auf Lug und Trug begründeten Staatswesens zu erinnern. Der deutsche Spießbürger (wozu auch Adel und Fürsten gehören) ist womöglich noch aufgeblasener und chauvinistischer als damals; die diplomatische Aktion ist bedeutend frecher geworden, aber sie hat noch die alte Doppelzüngigkeit; der Offiziersadel hat sich auf natürlichem wie künstlichem Weg hinreichend vermehrt, um so ziemlich wieder die alte Herrschaft in der Armee auszuüben, und der Staat entfremdet sich mehr und mehr den Interessen der großen Volksmassen, um sich in ein Konsortium von Agrariern, Börsenleuten und Großindustriellen zu verwandeln, zur Ausbeutung des Volks. Allerdings, sollte es wieder zum Kriege kommen, so wird die preußisch-deutsche Armee, schon weil sie allen andern Organisationsvorbild war, bedeutende Vorteile haben vor ihren Gegnern wie vor ihren Verbündeten. Aber nie wieder solche, wie in den letzten zwei Kriegen. Die Einheit des Oberbefehls z.B., wie sie damals, dank besonderen Glücksumständen, bestand, und der entsprechende unbedingte Gehorsam der Unterfeldherrn werden schwerlich so wieder zu haben sein. Die geschäftliche Gevatterschaft, die jetzt zwischen dem agrarischen und militärischen Adel – bis in die kaiserliche Adjutantur hinein – und den Börsenjobbern herrscht, kann der Verpflegung der Armee im Felde leicht verhängnisvoll werden. Deutschland wird Verbündete haben, aber Deutschland wird seine Verbündeten und diese werden Deutschland bei erster Gelegenheit im Stich lassen. Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. – Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt. Das ist es, meine Herren Fürsten und Staatsmänner, wohin Sie in Ihrer Weisheit das alte Europa gebracht haben. Und wenn Ihnen nichts andres mehr übrigbleibt, als den letzten großen Kriegstanz zu beginnen –, uns kann es recht sein. Der Krieg mag uns vielleicht momentan in den Hintergrund drängen, mag uns manche schon eroberte Position entreißen. Aber wenn Sie die Mächte entfesselt haben, die Sie dann nicht wieder werden bändigen können, so mag es gehn wie es will: am Schluß der Tragödie sind Sie ruiniert und ist der Sieg des Proletariats entweder schon errungen oder doch unvermeidlich.

London, 15. Dezember 1887

Sigismund Borkheims Schrift „Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807“ erschien 1888 in Hottingen-Zürich. Borkheim (1825-1875) war als Batterieführer Waffengefährte von Friedrich Engels in der badischen Revolutionsarmee 1849. „Ohne sich an ein bestimmtes Programm zu binden, hielt Borkheim es stets mit der Partei der extremsten Revolution“, schreibt Engels im ersten Teil der hier wiedergegebenen „Einleitung“. Wir haben auf diesen biographischen Abschnitt verzichtet. Er ist im Band 21 der Marx-Engels-Werkausgabe des Dietz Verlages Berlin (1962 ff.) leicht nachlesbar. Die Einschätzung Engels’, den kommenden Krieg betreffend, wurde in der Reichstagssitzung vom 14. Mai 1890 vom konservativen Abgeordneten Helmuth Karl Bernhard von Moltke –1858 bis 1888 Chef des preußischen, nach der Reichsgründung des „Großen Generalstabs“ – bestätigt:
„Meine Herren, wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als zehn Jahre lang wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt, – wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und ist sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor, gegen einander in den Kampf treten; keine derselben kann in einem oder in zwei Feldzügen so vollständig niedergeworfen werden, daß sie sich für überwunden erklärte, daß sie auf harte Bedingungen hin Frieden schließen müßte, daß sie sich nicht wieder aufrichten sollte, wenn auch erst nach Jahresfrist, um den Kampf zu erneuern. Meine Herren, es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden, – und wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert!“
Es war Graf von Moltkes letzte Reichstagsrede. Einer seiner Nachfolger im Amte des Chefs des Großen Generalstabes 1906 bis 1914 mißachtete diese Warnung gröblichst. Es war der Neffe des alten Moltke, Helmuth Johannes Ludwig von Moltke. Immerhin hatte er noch so viel Verstand, dem Kaiser nach dem Fiasko der Marneschlacht (5. bis 12. September 1914) den Krieg als verloren zu melden. Er wurde daraufhin abgelöst. Das Ende ist bekannt.

Wolfgang Brauer