16. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2013

Zwischenaufenthalt in Strasbourg

von Renate Hoffmann

Bedenke ich es recht, so war es Herr Goethe, der mich wieder an den Rhein trieb. Im neunten Buch von Dichtung und Wahrheit bekennt er: „Ich fügte mich […] in die Absicht meines Vaters, mich nach Straßburg zu schicken, wo man mir ein heiteres, lustiges Leben versprach, indessen ich meine Studien weiter fortsetzen und am Ende promovieren sollte.“
Bei dem versprochenen „lustigen Leben“ denkt man natürlich auch an das Pfarrhaus in Ses(s)enheim, Friederike Brion und an Goethes Überschwang. Wie stets, wenn er eine Affäre hatte, beginnt er zu dichten: „Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur! / Wie glänzt die Sonne! /  Wie lacht die Flur!“
Goethe reist Ende März 1770 nach Straßburg und steigt im „Wirtshaus zum Geist“ ab: „(Ich) eilte sogleich, das sehnlichste Verlangen zu befriedigen und mich dem Münster zu nähern, welcher durch Mitreisende mir schon lange gezeigt und eine ganze Strecke im Auge geblieben war.“
Zu meiner Reisezeit lacht die Flur nicht. Es regnet. In Kehl, am rechten Rheinufer, überquere ich den Strom, in dessen Mitte Deutschland endet und die französische Welt beginnt (Regen fällt hier wie dort). Im Falle Strasbourgs ist es eine europäische Welt, als deren Zentrum sich die schöne, weltoffene Stadt versteht und bezeichnet. Europa – vertreten durch Parlament, Rat, Gerichtshof für Menschenrechte et cetera pp., prägte sie.
Vor der mächtigen gläsernen Fassade des Gare de Strasbourg brandet der Mittagsverkehr. Nach Goethens Meinung sind die Straßburger „leidenschaftliche Spaziergänger“. Das gilt. Einen von ihnen, den ich für einen Studiosus halte, frage ich nach der Cathédrale Notre-Dame. Wollte ich es doch unserem Oberklassiker gleich tun und unverzüglich zum Bauwerk der Superlative eilen. Der junge Mann bedeutet mir, unterstützt von einer Handbewegung, ich solle nur in diese Richtung gehen, dann würde ich das Münster schon sehen. Ich lasse mich auf den vagen Hinweis ein und wandere durch Straßen, Gassen, über Brücken unter denen die Ill fließt. Weiche fliegenden Händlern aus und Radfahrern, dränge mich in der Nähe der Galeries Lafayette durch eine beifallspendende Menge und schaue Straßentänzern zu. – Sonne bescheint das quirlige Treiben und trocknet die Stühle vor den Cafés.
Der Münsterturm schiebt sich über die Dächer, verschwindet wieder, zeigt sich erneut und-so-fort. Er narrt wie in einem Versteckspiel. Doch die Annäherung gelingt. Auf dem Platz Marché-Neuf herrscht Beschaulichkeit. Kleine Stände unter schattenspendenden Platanen bieten selbstgemachte Marmeladen an und gefüllte Brotherzen. Man unterhält sich vertraut. Man kennt sich. – Den Weg zur Kathedrale begleiten Fachwerkhäuser mit edlem Zierrat, als wollten sie vor dem Glanz des Kirchenbaues nicht zurückstehen.
Vom Touristenstrom durch die Rue Mercière geschoben, stehe ich vor der Westfassade des Münsters. Schier nicht enden wollend strebt sie himmelwärts, schmal, elegant, gewaltig. Es geht mir ähnlich wie einstens stud. jur. Goethe: „Als ich nun erst durch die schmale Gasse diesen Koloß gewahrte, sodann aber auf dem freilich sehr engen Platz allzu nah vor ihm stand, machte derselbe auf mich einen Eindruck ganz eigener Art.“ J.W.G. sah sich außerstande, ihn zu beschreiben und begab sich fürs Erste auf die 66 Meter hochgelegene Plattform der Kirche, um dort über das Geschaute ins Schwärmen zu geraten.
Die Fülle der feingliedrigen Gotik aus rötlichem Sandstein verwirrt. Das Auge irrt, ohne irgendwo verweilen zu können, über den Skulpturenreichtum und die Schmuckelemente des Hauptportals. Eine nähere Betrachtung hingegen erlaubt die rechte Seitenpforte. Dort posieren die törichten und die klugen Jungfrauen. Diese, von Christus begleitet, wirken gelassen, ein wenig hochnäsig, weil ihre Lämpchen, wohlbedacht mit Öl gefüllt, brennen; jene, neben dem weltlichen  Verführer, trauern um das erloschene Licht, denn sie hatten vergessen, für Ölvorrat zu sorgen. Eine von ihnen lächelt jedoch so verschmitzt – irdische Freuden erinnernd – dass man sich auf ihre Seite schlagen möchte.
Der Eintritt in das architektonische Meisterwerk überwältigt. Wie ein Wald wachsen die Streben des Hauptschiffes empor, dessen Wipfel sich zu Gewölbebögen vereinen. Die Fenster breiten ihre Bildgeschichten in leuchtendem Farbenspiel aus. Von den fünf Rosetten gilt die Rose über dem westlichen Eingang wohl als die schönste. Ihre Ornamentik gleicht einer Brosche, die man mit kostbaren Steinen besetzte und die Mitte durch einen Fünfpass aus Diamanten hervorhob.
Wäre sie nicht aus weißem Sandstein, so hätte ich die Kanzel für ein Schnitzwerk gehalten. Dombaumeister Hans Hammer schuf sie in den Jahren 1484 bis 1486. Er belebte die zierliche, zerbrechlich wirkende Architektur mit einer Vielzahl von Statuetten.
Zwischen den Nordpfeilern prunkt der reich geschmückte, goldglänzende Prospekt der Hauptorgel. Es ist das dritte Instrument seit dem Münsterbau. Da es von einem der Großen aus der Silbermann-Familie – Andreas – stammt, bekannt durch den „französischen Klang“ seiner Orgeln, wünschte ich mir, es würde angespielt.
Leises Klingeln tönt aus dem südlichen Querhaus. Dort steht die Astronomische Uhr, ein Wunder aus Wissenschaft und Kunst. Anschaulich, beweglich, belehrend. Ursprünglich als „Dreikönigs-Uhr“ zwischen 1352 und 1354 errichtet, werkelten durch die Jahrhunderte Mechaniker, Mathematiker, Uhrmacher, Astronomen, Maler, Architekten an ihr – bis sie 1788 den Dienst versagte und endgültig stehen blieb.
Nun folgt eine Anekdote mit Wahrheitsgehalt: Während einer Führung erläuterte der Kirchendiener das mechanische Geheimnis der Uhr und schloss mit der Bemerkung, sie könne leider nie mehr in Gang gesetzt werden. Worauf ein junger Mann selbstbewusst entgegnete: „Ich werde sie zum Gehen bringen!“ Lebensziel des Jean-Baptist Schwilgué (1776-1856), der bis zu seinem 62. Lebensjahr durch Aus- und Weiterbildung darauf hin arbeitete. Dann übertrug man ihm (1838) die Restaurierung. Und nach vier Jahren durfte er mit Fug und Recht behaupten: Sie geht wieder!
Vor dem hohen Renaissancegehäuse diskutieren die Besucher, ungeachtet der gebotenen Stille im Kirchenraum, voller Eifer. Die Zeitangabe stimmt auf die Minute genau; der Mond ist im Abnehmen begriffen (das konnte ich in der vergangenen Nacht wegen heftiger Regengüsse nicht nachprüfen). – Nicht nur die ausgeklügelte Mechanik, auch Figurenschmuck und Malereien begeistern. Sie widerspiegeln christliche und mythologische Szenen und mahnen an die Vergänglichkeit. Schwilgué erhielt sein Porträt und Nikolaus Kopernikus (als Vertreter des Heliozentrischen Weltbildes). Über beiden thront die Muse Urania. – Und alles ist in Bewegung.
Die Apostel ziehen vorüber und die Wochentage in Götterbesetzung. Vor dem Tod wandern die Lebensalter. Pausbäckige Engel klingeln zur Viertelstunde und drehen das Stundenglas. Der Hahn kräht. – Für Auge und Ohr eine bunte Bilderwelt mit wissenschaftlichem Hintergrund.
Unter anderem sind ablesbar: Orts- und mitteleuropäische Zeit; Sonnenauf- und -untergang; die Mondphasen. Auf einer Planisphäre lässt sich der Stand der ohne optische Hilfsmittel erkennbaren sieben Planeten ermitteln. Ein Reifen mit Maßeinteilung zeigt die Sternzeit an. – Schlussgedanke: Die Zeit verrinnt.
Deshalb besteige ich, wie weiland Goethe, „das Gebäude“. Er sah von der Aussichtsplattform „die schöne Gegend“ mit Auen und reicher Vegetation und meinte, man müsse sein „Entzücken“ darüber teilen, für einige Zeit einen solchen Wohnsitz zu haben.
Ich sehe auf ein wogendes Dächermeer hinunter, das sich in alle Himmelsrichtungen dehnt. – Auf meine Weise kann ich Herrn Goethes „Entzücken“ verstehen; doch bleiben kann ich nicht.