von Wolfgang Kubiczek
Am 23. September tagte in Sotschi der „Rat für kollektive Sicherheit“ der „Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS)“, ein Gipfeltreffen von sechs Nachfolgestaaten der Sowjetunion. In der Öffentlichkeit fand die Zusammenkunft wenig Beachtung, Ausdruck des geringen Bekanntheitsgrades der OVKS.
Was ist die OVKS? Wie ist sie entstanden? Welche Ziele verfolgt sie?
Im Mai 1992 wurde in Taschkent der Vertrag über kollektive Sicherheit (VKS) unterzeichnet. Mit späteren Ein- und Austritten gehörten neun der ursprünglich zwölf Mitglieder der nach dem Zerfall der UdSSR gegründeten Gruppe Unabhängiger Staaten (GUS) vorübergehend oder ständig dem Vertrag an. Lediglich Moldawien, Turkmenistan und die Ukraine entzogen sich einer Mitgliedschaft von Anfang an. Kern des Vertrages ist eine kollektive Verteidigungsklausel, die im Falle einer Aggression gegen ein Mitgliedsland von außen zur Anwendung kommen soll.
Um die Jahrtausendwende überzeugte sich Moskau von der Notwendigkeit, dem Bündnis neuen Schwung zu verleihen. Drei Ursachen sprachen dafür: die NATO-Osterweiterungen, orange- und andersfarbige „Revolutionen“ in der Nachbarschaft Russlands sowie die Verbreitung radikal-islamistischen Terrors im Nordkaukasus und an den Grenzen zu Afghanistan. Der Georgien-Krieg 2008 wirkte als zusätzlicher Katalysator.
2002 wurde der VKS in die Organisation des VKS mit eigener Satzung und Vereinbarung über ihren rechtlichen Status umgewandelt.
Die OVKS ist im Unterschied zum VKS multifunktional angelegt und zielt insbondere auf:
– umfassenden Ausbau der politischen Zusammenarbeit;
– Stärkung der militärischen Komponente der Organisation
– Bekämpfung transnationaler Bedrohungen (internationaler Terrorismus, Waffen- und Drogenhandel, illegale Migration).
Oberstes Organ ist der Rat für kollektive Sicherheit, bestehend aus den Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerländer. Er wird untersetzt durch ein Geflecht von Gremien, darunter die Räte der Außen- und der Verteidigungsminister, ein Ständiger Rat, ein Sekretariat mit Generalsekretär sowie ein Vereinter Stab der OVKS. Derzeit gehören dem Bündnis sechs GUS-Staaten an: Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan und Weißrussland.
Das Interesse der einzelnen Partner an der Organisation ist zwar unterschiedlich, jedoch auch bei den kleineren Staaten real vorhanden. Sie bietet letzteren den einzig möglichen Schutz vor äußerer Aggression.
Ein Vergleich der zahlenmäßigen Stärke der nationalen Streitkräfte der OVKS-Staaten zeigt die militärische Übermacht Russlands. Während dessen Streitkräfte eine Personalstärke von ein bis 1,2 Millionen Mann aufweisen, kommen die restlichen Partner zusammen auf lediglich rund 200.000 Militärangehörige. Alle Mitgliedstaaten der OVKS beherbergen russische Militäreinrichtungen und Stützpunkte. Zieht man den im Wesentlichen immer noch bedauernswerten Zustand der russischen Armee* in Betracht, so wird deutlich, dass die OVKS in globaler Hinsicht keine ernstzunehmende Konkurrenz für die NATO darstellt.
Das in Sotschi beschlossene Jahresbudget der OVKS für 2014 beläuft sich auf 191 Millionen Rubel (etwa 4,37 Millionen Euro), die für das Funktionieren der Arbeitsorgane verausgabt werden. Die Durchführung großer Manöver und Übungen finanzieren die Staaten, auf deren Territorium sie stattfinden. Im Vergleich dazu hat das Budget der NATO einen Umfang von 2,5 Milliarden Euro (inoffizielle Angabe für 2010), und das der OSZE kommt für das laufende Jahr wenigstens noch auf 145 Millionen Euro.
Militärisch verfügt die OVKS über eine Gemeinsame Schnelle Eingreiftruppe (Kollektivnye sily bystrovo razvertyvanija) in Stärke von 4.000 Mann. Sie ist zur Bekämpfung terroristischer Attacken in Mittelasien mit Ursprung Afghanistan gedacht, nicht für zwischenstaatliche Konflikte, und wurde bereits 2001 gebildet. Sie wird von Flugzeugen und Hubschraubern unterstützt, die auf dem russischen Militärstützpunkt Kant in Kirgistan stationiert sind. Besondere Aktualität könnte die Aufgabenstellung dieser Eingreiftruppe nach 2014 im Zusammenhang mit dem Abzug der ISAF-Truppen aus Afghanistan erlangen.
2009, nach dem Krieg zwischen Russland und Georgien, beschlossen die Staats- und Regierungschefs der OVKS die Bildung einer weiteren militärischen Einheit, der Gemeinsamen Kräfte zur operativen Reaktion (Kollektivnye sily operativnovo reagirovanija), die sich aus Kontingenten aller OVKS-Staaten zusammensetzt und das gesamte Vertragsgebiet abdecken soll. Ihr gehören etwa 17.000 Militärangehörige und 2.000 Mann Sondereinheiten an. Die Hälfte des Kontingents wird von Russland und ein Viertel von Kasachstan gestellt.
2009 trat eine Vereinbarung über die Schaffung von Friedenstruppen im Rahmen der OVKS in Kraft. Jedes Land soll dafür Kontingente bereithalten, die im Falle eines Einsatzes zu Gemeinsamen Friedenskräften der OVKS zusammengeführt werden. Sie bestehen aus militärischen Einheiten, Polizeiformationen und zivilem Personal. Hier geht man von 3.500 bis 4.000 Mann aus.
All diese militärischen Einheiten führen zwar regelmäßig Übungen durch, sind jedoch noch nie in einem realen Einsatz gewesen, was bei westlichen Kollegen mitleidiges Lächeln hervorruft.
Ein wichtiges gemeinsames Interesse aller Beteiligten ist die rüstungstechnische Kooperation. Die nichtrussischen OVKS-Länder kaufen russisches Militärgerät, Waffen und Munition vorteilhaft zu russischen Binnenpreisen. Allerdings könnte Russland diese Monopolstellung allmählich einbüßen. So haben die USA ihre Bereitschaft verkündet, mittelasiatischen Ländern nach Abzug aus Afghanistan einen Teil ihrer Militärtechnik kostenlos zu überlassen.
Einem Hilfesuchen Kirgistans um militärischen Beistand anlässlich ethnischer Konflikte 2010 wurde von der OVKS nicht nachgekommen, da rechtlich bindend nur ein Schutz gegen äußere Aggression vereinbart ist. Im Ergebnis wurde eine Satzungsänderung beschlossen, die nunmehr auch das Eingreifen bei inneren Konfliktsituationen erlaubt, allerdings nur auf Bitte des betreffenden Landes und mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten.
2011 wurde vereinbart, dass künftig die Einrichtung von Militärstützpunkten von Staaten, die der OVKS nicht angehören, der Zustimmung aller Mitgliedsländer bedarf. Da die Vereinbarung nicht rückwirkend gilt, betrifft sie nicht den existierenden US-Luftstützpunkt Manas in Kirgistan, wohl aber eine Verlängerung des Stützpunktabkommens nach 2014. Allerdings gilt Kirgistan als wankelmütiges OVKS-Mitglied, immer bereit Sonderwege einzuschlagen.
Mit der Bekämpfung transnationaler Bedrohungen wie Terrorismus, Drogenhandel, illegaler Migration und Menschenhandel ist ein Tätigkeitsfeld entstanden, auf dem praktische Ergebnisse erzielt werden. Zur Unterbindung des Drogenschmuggels wird seit 2003 regelmäßig die OVKS-Operation „Kanal“ durchgeführt. Hier werden die Aktivitäten der Drogenaufsichtsbehörden, der Polizei, des Grenzschutzes, der Zoll- und Finanzermittlungsbehörden sowie der nationalen Sicherheitsdienste der OVKS-Staaten gebündelt. Außerdem führt die OVKS auf dem Feld der transnationalen Bedrohungen die Operation „Nelegal“ gegen illegale Migranten sowie im Informationsbereich die Operation „Proksi“ zur Schließung von Websites mit extremistischem Inhalt durch.
Russland drängt auch auf eine stärkere außenpolitische Koordinierung. Beispielhaft hierfür ist die Erklärung zu Syrien, die auf dem Gipfel von Sotschi verabschiedet wurde. Grundsätzlich werden einheitliche Positionen zu den Schlüsselfragen der internationalen und regionalen Sicherheit angestrebt, um in der UNO und anderen internationalen Organisationen mit abgestimmten Positionen aufzutreten.
Die größte Schwäche der Organisation ist das Interesse Russlands, die anderen Mitgliedsländer im eigenen Einflussbereich zu halten. Die Disproportionalität der Machtverhältnisse schließt dabei eine gleichberechtigte Mitgliedschaft faktisch aus. Dennoch haben die kleineren Länder aus ihrer spezifischen Interessenlage heraus derzeit ein Interesse am Mitwirken: Weißrussland zum Schutz vor westlichen Demokratisierungsversuchen, Armenien zur Unterstützung im Karabach-Konflikt und die mittelasiatischen Staaten aus Furcht vor Terrorismus, religiösem Extremismus sowie innenpolitischer Destabilisierung. Es gibt jedoch kaum gemeinsame Sicherheitsinteressen zwischen den kleineren Mitgliedstaaten, nicht einmal zwischen den mittelasiatischen. Die einzige Brücke zwischen ihnen ist Russland.
Zur Ausbalancierung der russischen Übermacht nutzen die kleineren OVKS-Staaten mit unterschiedlicher Intensität Beziehungen vor allem zur Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, zur NATO und EU sowie zu China. Die NATO ihrerseits verweigert die Herstellung von Beziehungen zur OVKS und setzt auf einen Ausbau der bilateralen Kontakte. In Mittelasien deutet sich tendenziell ein Rückgang des russischen Einflusses an. Russland wird allmählich als wichtigster Handelspartner und Investor ersetzt, und es wird auch als Garant der Sicherheit zum Beispiel von Turkmenistan und Usbekistan in Frage gestellt.
Es ist offen, ob es Russland in der Perspektive gelingen wird, die OVKS zu einem funktionierenden politisch-militärischen Bündnis auszubauen oder ob sie eine regionale Organisation eher unverbindlichen Charakters bleibt.
* – Siehe dazu im Detail – Wolfgang Kubiczek: „Die russische Armee – Phoenix aus der Asche? Teil I – III, Blättchen 7 – 9/2013.
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