von Ulrich Kaufmann
Im Weimarer E-Werk wurde Christoph Heins Roman „Weiskerns Nachlass“ uraufgeführt. Enrico Stolzenburg, der neue Hausregisseur am Deutschen Nationaltheater Weimar, erzählt zum Auftakt des neuen Spieljahres die Geschichte seines Namensvetters, der allerdings auf den Vornamen Rüdiger hört. Dieser ist ein beliebter Dozent an der Leipziger Universität, an der der spätere Dramatiker und Erzähler Hein von 1967 bis 1971 Philosophie studierte.
Hein entwickelt in seinem Roman akribisch die Biographie eines (ost)-deutschen Kulturwissenschaftlers, der nach 15 Jahren begreifen muss, dass seine halbe Dozentenstelle niemals in eine ganze umgewandelt werden wird. Schlimmer noch: Er sitzt auf einer „KW-Stelle“, das heißt, auf einem Arbeitsplatz, der nach Beendigung seiner akademischen Laufbahn „keine Wiederbesetzung“ erfahren wird. (Im Uni-Jargon der Nachwendezeit sprachen wir resigniert von einer „Kann-Weg-Stelle“.)
Zu Beginn der Inszenierung sehen wir fünf Darsteller auf der abschüssigen Bühne. Der Bühnenraum wird hinten begrenzt durch eine große Tafel. Die Zuschauer sitzen gegenüber, gewissermaßen im „Hörsaal“, sie sind am Arbeitsplatz des Dozenten. Die Mimen erinnern sich an den Protagonisten, an Stolzenburg, der urplötzlich mit seinen Utensilien aus einer Luke, aus der Versenkung auftaucht. Allmählich entstehen Szenen, in denen die Schauspieler in verschiedene Rollen schlüpfen.
Der „halbe“ und zudem alleinstehende Dozent muss dazu verdienen. Im Billigflieger anreisend, erfahren wir gleich eingangs, muss er schlecht dotierte Vorträge in der Schweiz halten. Stolzenburgs ungebrochene Leidenschaft als Wissenschaftler richtet sich auf die Erforschung des Nachlasses von Friedrich Wilhelm Weiskern, den kein Mensch kennt und für den sich – außer ihm – niemand interessiert. Hein erzählt so plastisch und authentisch von der immerhin titelstiftenden Figur Weiskern, dass der Leser tatsächlich eine Bildungslücke schließen kann: Weiskern, 1711 in Eisleben geboren und 1768 in Wien verstorben, hat auch unter den Pseudonymen Filip von Zesen und Odoardo veröffentlicht. Mit 23 Jahren kam er in die Donaumetropole Wien, wo er sich als Schauspieler, Verfasser vieler Stegreifspiele und Autor von sprach- und literaturgeschichtlichen Studien hervortat. Die Quellen berichten, dass Weiskern als Berater des Wiener Burgtheaters tätig war, sich um die Spielpläne kümmerte und den Ausbau des Ballhauses voranbrachte. Vor allem ist er als Topograph Niederösterreichs sowie wohl auch Librettist einer frühen Mozart-Oper in die Annalen eingegangen. (Im Reclam-Opernführer aus dem Jahre 1999 ist davon indessen die Rede nicht.)
Bei aller Sympathie für Stolzenburgs vehemente Bemühungen um Weiskerns Nachlass wird deutlich, dass dieser Forschungsschwerpunkt nicht in die Zeit passt, sich nicht „rechnet“ und einen Dozenten seines Schlages zum „Auslaufmodell“ werden lässt. Auch Professor Schlösser, sein kumpelhafter Chef, dargestellt von Bernd Lange, kann seinem begabtesten und fleißigsten Mitarbeiter nicht helfen, zumal dem gesamten Institut die „Abwicklung“ droht.
Heins Roman bietet sich für eine Bühnenfassung insofern an, als er einige dramatische Szenen enthält. So gerät der Protagonist auf einer Straße in die Fänge einer Mädchenbande (dargestellt von Mitgliedern des Jugendtheaters im Stellwerk), die mit Ketten auf ihn einschlägt. Erhebliche Steuersummen muss der Wissenschaftler außerdem zurückzahlen. Diese Geldforderungen beschleunigen Stolzenburgs Absturz ins akademische Prekariat, schüren seine Ängste, im Alter allein da zu stehen. Als Gegenfigur zum armen Stolzenburg agiert der Zyniker Clemens Gaede (gespielt von Sebastian Nakajew), der damit protzt, durch einen frühmorgendlichen Mausklick am Computer so viel zu verdienen wie der Dozent in einem Monat. Außerdem interessiert sich die Polizei für den 59-jährigen Gelehrten, da dieser an einen Betrüger geraten war, welcher vorgab, für 15 000 Euro in bar unbekannte Weiskern-Originale zu übergeben.
Der stolze Stolzenburg kommt ständig in die Versuchung, seine Ideale als Wissenschaftler und Lehrer zu verraten. Eine gute Abschlussnote für Sebastian Hollert, den unbegabtesten seiner Studenten aus reichem Hause, hätte dem „halben“ Dozenten 25.000 Euro gebracht und so die Weiskern-Gesamtausgabe doch noch ermöglicht. In der Mischung aus Dummheit und Raffinesse stellt Tobias Schormann diesen Studenten eindrucksvoll dar. Stolzenburg widersteht auch einer flotten Studentin, die unvorbereitet zur Konsultation kommt und Sex für den Fall anbietet, dass der Dozent ihr die Examensarbeit schreibt.
Ingolf Müller-Beck gibt dem Gelehrten Kraft und Charme und betont dessen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ebenso treten jedoch Stolzenburgs Zynismus, seine Resignation und seine gelegentliche Verschrobenheit zu tage. Die Figur wird auch in ihrem laxen Umgang mit Frauen gezeigt. Patrizia (Nadja Robinẻ) fühlt sich mehr benutzt als geliebt. Henriette, die einzige Frau, die er wirklich begehrt, kann er nicht für sich gewinnen. (Henriette, Heins Romanfigur, kommt in der Bühnenfassung namentlich nicht vor.) Kurzum, am Ende steht Stolzenburg so allein da wie Buridans Esel zwischen den zwei Heuhaufen.
Enrico Stolzenburgs Inszenierung einer modernen Gelehrtentragödie versteht sich als aktuelle Ergänzung zu Goethes „Faust“, der in Hasko Webers Version gleichzeitig im Großen Haus zu Weimar Premiere hatte. Wir erleben Rüdiger Stolzenburg als „unseren kleinen Gelehrten im E-Werk“ (Programmheft), als resignierten Sinnsucher zu Beginn des neuen Jahrhunderts, den es auch ohne Teufel fast in den Wahnsinn treibt.
Schlagwörter: Christoph Hein, Deutsches Nationaltheater Weimar, E-Werk Weimar, Enrico Stolzenburg, Friedrich Wilhelm Weiskern, Ulrich Kaufmann