von Günter Hayn
Wie kein anderes Mitglied der letzten beiden DDR-Kabinette zog sie spöttische Häme auf sich herab. Als „Kohls Mädchen“ verlacht räumte sie die Riege der CDU-Granden ab. Im inneren Zirkel der Partei gern bespöttelt wurde sie zum Garanten des Wahlerfolges der CDU. Die 42 Prozent Wählerstimmen für die Partei zu den Bundestagswahlen vom 22. September 2013 waren vielfach „Merkel-Stimmen“. Erstaunlicherweise galt diese hohe Zustimmung einer Politikerin, die alles Mögliche an sich hat – nur nicht das Charisma, das wir allzu gerne an starken Führungspersönlichkeiten bewundern und demokratisch verachten. Bislang kehrte sich auch (fast) jeder Versuch, die Kanzlerin – die im politischen Raum zu stellen, scheinbar unmöglich ist – zumindest als Persönlichkeit ins Lächerliche zu ziehen in sein Gegenteil. Fotografischer Enthüllungsjournalismus im wahrsten Sinne des Wortes sicherte Angela Merkel eher noch Sympathiepunkte selbst bei Menschen, die mit ihr politisch über Kreuz liegen. Bislang ging sie aus jeder Auseinandersetzung gestärkt hervor. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sie Wagners Opern schätzt. Sie scheint in Drachenblut gebadet zu haben.
Ihre politischen Gegner haben das inzwischen begriffen. Bernd Riexinger, Linken-Chef, wurde in seiner recht ungelenken Rede auf dem Konvent seiner Partei am 9. September nur an einem Punkte dramatisch – bei der Feststellung, dass man „Frau Merkel nur mit uns“ abwählen könne. Das wiederholte er gebetsmühlenartig. Peer Steinbrück warf als Wahlverlierer das Handtuch. Als mindestens ebenso uncharismatische Erscheinung wie die Kanzlerin ließ er sich von seinen Wahlkampfberatern in die persönliche Auseinandersetzung jagen – und verlor prompt. In ein Kabinett Merkel werde er nicht eintreten, hatte er vor den Wahlen verkündet. Sigmar Gabriel und Claudia Roth hatten zum Wahlkampfauftakt vor laufenden Kameras in Erwartung des kommenden Wahlsieges ein Freudentänzchen aufgeführt – inzwischen ist Roth abgetreten und Gabriel hat Furcht, von der Kanzlerin in einer Koalition erdrückt zu werden. Dennoch hockt er brav im Wartezimmer des Kanzleramtes. Im Kämmerchen daneben hocken die Grünen.
Der Publizist Ralph Bollmann wollte nun die Hintergründe des Merkelschen Erfolges aufspüren, wie er selbst sagt, und hat ein Buch darüber geschrieben. Das erschien kurz vor den Wahlen. Eine Bewertung seiner Analyseergebnisse könnte man sehr kurz halten: Bollmanns Befunde haben den 22. September überlebt. Das kann man von der Mehrzahl der zwischen zwei Buchdeckel gepressten Politikpublizistik-Titel nicht behaupten.
Bollmann arbeitet für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, vorher war er bei der taz. Linke Kollegen nehmen ihm diesen „Seitenwechsel“ übel. Auch im Neuen Deutschland erschien jüngst eine Besprechung seines Merkel-Buches, die genau genommen nur eine Aneinanderreihung sprachlicher Banalitäten war, von denen es zugegebenermaßen bei Bollmann etliche gibt. Und zwar immer dann, wenn Banales beschrieben wird. Darin nun einen Makel zu finden ist ungerecht.
Auch Ralph Bollmann gelingt es nicht herauszufinden, auf welcher intellektuellen und kulturellen Höhe sich Angela Merkel tatsächlich bewegt. Wenn er allerdings die entsetzliche Mittelmäßigkeit ihrer Konkurrenten konstatiert, kann man ihm nur zustimmen. Kein Athlet wird auf der Kampfbahn Spitzenleistungen erzielen, wenn er sich zweit- oder drittklassigen Mitbewerbern ausgeliefert sieht. Den „Hauptstadtjournalisten“ bescheinigte der Autor übrigens anlässlich der Buchpräsentation im Berliner Literaturforum im Brecht-Haus eine „Tendenz, sich an Äußerlichkeiten festzuhalten“.
Eben diese Äußerlichkeiten – kürzlich von Katharina Thalbach in einem Fernsehfilm kongenial präsentiert – verdecken wesentliche Konstanten dieser Persönlichkeit. „Die angeblich so konturlose Kanzlerin mag zu den wenigen Politikern gehören, die sich ihre Persönlichkeit weitgehend bewahrten“, meint der Autor. Ein genauerer Blick auf die Lebensläufe politischer Konkurrenten wie Gerhard Schröder oder Jürgen Trittin bestätigt diesen Befund. Der Theatermanager Michael Schindhelm wies auf der oben erwähnten Veranstaltung auf einen weiteren Punkt hin, der aus „westsozialisierter Sicht“ offenbar noch immer nur schwer nachvollziehbar ist. Schindhelm sprach von der grundsätzlichen Generationserfahrung des Mauerfalls und der daraus resultierenden Erkenntnis, das es möglich sei, tatsächlich „alles anders“ zu machen. Angstfrei sozusagen. Zumindest habe Merkel als wohl erste deutsche Regierungschefin keine Angst vor dem eigenen Volke. Und diese Grunderfahrung ist, ob sie sich das nun selbst eingesteht oder nicht, in einem erheblichen Maße ihrer DDR-Sozialisation geschuldet. Bollmann: „Eine ostdeutsche Politikerin, die ihren Möglichkeitssinn bereits an einem selbst erlebten Systembruch schärfen konnte, ist für solche Zeiten womöglich besser gewappnet als viele westdeutsche Kollegen.“
Ralph Bollmann beschreibt an vielen Beispielen, wie die Kanzlerin immer wieder versuchte, ein „gesellschaftliches Wohlfühlklima“, wie er es nennt, zu erzeugen. Das ist nun entschieden zu schön gefärbt und ignoriert die unter der Oberfläche dieser Republik schwelenden Konfliktherde, die allenthalben spürbar sind. Richtig ist jedoch, dass Angela Merkel ihre politischen Entscheidungen gerne als in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der Deutschen befindlich darstellt – und die Öffentlichkeit ihr das mehrheitlich immer noch abnimmt! In einer dermaßen medial geprägten Politiklandschaft wie der deutschen ist das nicht zu unterschätzen. Merkel selbst reduziere, so der Autor, „Politik auf ihren machtpolitischen Kern“. Allerdings denke sie in vielen Fragen anders als ihre Wähler, bei denen sie auf ungebrochene Weise populär ist. Letztlich entscheide sie auch anders. Er beschreibt dies als paradoxe „Beziehung zwischen diesem Volk und seiner Regierungschefin“: „Vieles spricht dafür, dass die einzige im Ostblock sozialisierte Politikerin an der Spitze eines mehrheitlich westeuropäischen Landes die Bewohner im alten Westen des Kontinents für allzu behäbig und selbstgewiss hält, dass sie insbesondere ihren Deutschen auf vielen Feldern zutiefst misstraut, vom Verhältnis zur nationalsozialistischen Vergangenheit bis zur ökonomischen Leistungsbereitschaft, vom Pazifismus bis zur Atom-Angst.“
Angela Merkel ist, so jedenfalls Bollmanns Befund, eher eine nicht durch Ideologien determinierte Politikerin – auch wenn der Autor deren protestantischen Hintergrund hervorhebt. Sinnbildlich dafür war noch am Wahlabend selbst eine spontane Geste: Voller Begeisterung über den errungenen Wahlsieg fuchtelte CDU-Generalsekretär Walter Gröhe mit einem Deutschland-Fähnchen vor den laufenden Kameras herum. Die Kanzlerin entwand ihm diese ziemlich abrupt. Anders als der plumpe Gröhe hatte sie begriffen, dass in diesem Moment halb Europa auf sie schaut – und ein Wahlsieg in Zeiten der immer noch schwelenden europäischen Krise nicht durch Winkelemente in ein Zwielicht gerückt werden sollte. Offenbar hat sie ihre „Hyperion“-Lektüre mitnichten vergessen: „So kam ich unter die Deutschen…“
Gerade die von Merkel praktizierte Art des europäischen Krisenmanagements – Bollmann zitiert die Begriffe „situatives Regieren“ und „gesunder Menschenverstand“, wirtschaftspolitisch eine hochgefährliche Melange – brachte ihr offenbar beträchtliche Sympathiepunkte ein. So brisant die Gesamtsituation auch ist, Deutschland stellt sich oberflächlich gesehen vergleichsweise als Insel der Stabilität in einem Meer voller Untiefen und gefährlicher Strömungen dar. „Sie hat gewonnen, weil sie den Menschen in einem ökonomisch erfolgreichen, wohlstandsgesättigten Land das Gefühl gegeben hat, mit ihr werde es noch eine Weile so weitergehen“, bestätigte dies Matthias Geis in der Zeit. Ralph Bollmanns Buch sollte man sehr aufmerksam lesen.
Ralph Bollmann: Die Deutsche. Angela Merkel und wir, Klett-Cotta, Stuttgart 2013, 224 Seiten, 17,95 Euro.
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