von Clemens Fischer
Zu behaupten, Weltoffenheit habe zu den besonders augenfälligen Wesensmerkmalen der Gesellschaft in der DDR gehört, wäre wohl ebenso verfehlt, wie pauschal in Abrede zu stellen, dass sie überhaupt vorhanden gewesen sei. Ausländische Titel in der Buchproduktion etwa waren zahlreich, auch wenn die Auflagen die Nachfrage häufig nicht befriedigen konnten. Anders war es mit auswärtigen Spielfilmen in den Kinos. Die gab es ebenfalls, und die waren jedermann jederzeit zugänglich. Dass westliche Streifen nach wenigen Tagen wieder aus dem Programm genommen wurden – wie zum Beispiel „Die glorreichen Sieben“ (1960, Regie: John Sturges) – war meiner Erinnerung nach weit seltener, als dergleichen inländischen Produktionen widerfuhr.
Apropos „Die glorreichen Sieben“: Hilfreich, um als westlicher Spielfilm vor ein DDR-Publikum zu gelangen, war es allerdings schon, wenn das cineastische Werk eine Botschaft transportierte, die in jenem Klassenkampf, der seinerzeit en vogue war, eindeutig zulasten des kapitalistischen Gesellschaftssystems ausfiel. Oder sich zumindest zu dessen Ungunsten interpretieren ließ – wie etwa bei dem schwarz-weiß Western-Klassiker „12 Uhr mittags“ (Regie: Fred Zinnemann, Hauptrolle: Gary Cooper), der 1952 herauskam – während der McCarthy-Ära, der öffentlichen antikommunistischen Hatz auf Andersdenkende in den USA. Drehbuchautor Carl Foreman war ein persönlich Betroffener. Dabei, um auf den Verleih des Filmes in der DDR zurückzukommen, war die ideologisch konnotierte Auslegung in diesem Fall durchaus zweischneidig: Zinnemanns hohes Lied auf Anstand, Mut und kämpferische Zivilcourage sowie gegen Feigheit und Opportunismus musste ja keineswegs ausschließlich auf den aktuellen innenpolitischen Hintergrund in den USA bezogen werden…
Produzent des Filmes war Stanley Kramer, der in späteren Jahren vor allem als Regisseur für eine ganze Reihe hochkarätiger US-Produktionen künstlerisch verantwortlich zeichnete, von denen einige längst selbst zu den Meilensteinen der Filmgeschichte gehören. Und da Kramer zugleich einer der wenigen Hollywood-Regisseure war, der sich in Zeiten zugespitzter weltanschaulicher Intoleranz zwischen Washington und San Francisco an Themen wagte, die in den USA politisch sehr kontrovers waren, kamen auch die Leinwandliebhaber in der DDR, den Autor als Jugendlichen und jungen Erwachsenen eingeschlossen, in den Genuss der meisten seiner großen Kinofilme.
„Flucht in Ketten“ (1958, Hauptrollen: Sydney Poitier, Tony Curtis): Zwei Häftlinge – ein Weißer voller rassistischer Vorurteile und ein nicht mit gleicher Münze zurückzahlender Farbiger – fliehen während eines Gefangenentransports. Mit Handschellen aneinander gekettet können sie nur zusammen überleben, wenn sie ihrer Feindschaft keinen Raum geben; speziell der Weiße muss von seinen Ressentiments lassen, will er nicht an ihnen zugrunde gehen. (Aus heutiger Sicht nahm der Film einen Gedanken vorweg – den Zwang zur Kooperation zwischen unversöhnlichen Feinden im übergeordneten Interesse des gemeinsamen Überlebens –, der Jahrzehnte später ein Kernelement von Michail Gorbatschows neuem Denken und auch in der DDR aufgegriffen werden sollte.)
„Wer den Wind sät“ (1960, Hauptrolle: Spencer Tracy): In einem Provinzkaff in Tennessee sorgt im Jahr 1925 ein Rechtsstreit weltweit für Schlagzeilen. Ein junger Lehrer unterrichtet seine Schüler auf der Basis der Lehren von Charles Darwin, denen zufolge der Mensch durch Evolution entstanden ist. Ein fanatischer religiöser, heute würde man sagen: Fundamentalist veranlasst, dass dem Lehrer der Prozess gemacht wird, da sein Unterricht der biblischen Schöpfungsgeschichte widerspreche, die laut Gesetz die einzig richtige sei. (Bekanntermaßen feiert diese Art des Fundamentalismus in den USA seit Jahren wieder fröhliche Urständ.)
„Das Urteil von Nürnberg“ (1961, Hauptrollen: Spencer Tracy, Burt Lancaster, Richard Widmark, Marlene Dietrich, Maximilian Schell): Ein US-amerikanischer Richter leitet 1948 in Nürnberg den Prozess gegen vier führende deutsche NS-Juristen, die sich auf Befehlsnotstand und die damalige Rechtslage in Nazi-Deutschland berufen. Kurz vor der Urteilsfindung sperrt die UdSSR die durch ihre Besatzungszone laufenden Landverbindungswege zu den Westsektoren von Berlin (Berlin-„Blockade“). Militärs drängen daraufhin auf ein mildes Urteil; man hat die Westdeutschen bereits als künftige Verbündete im Visier.
Es folgten „Das Narrenschiff“ (1965, Hauptrollen: Oskar Werner, Simone Signoret, Lee Marvin, Heinz Rühmann) – ein Pandämonium der westlichen bürgerlichen Gesellschaft am Vorabend der Machtergreifung durch die Nazis in Deutschland; „… und sie sind nur Kinder“ (1971) – ein Film über heranwachsende Außenseiter aus besser betuchten Kreisen; „Oklahoma, wie es ist“ (1973, Hauptrollen: Faye Dunaway, George C. Scott) – adrette Farmerin dingt sich einen Revolverhelden, um sich einer Ölfirma zu erwehren, und schließlich „Das Domino-Prinzip“ (1977, Hauptrollen: Gene Hackman, Candice Bergen, Richard Widmark, Eli Wallach) – ein Thriller darüber, wie das Establishment sich den Präsidenten des Landes im Wege eines Mordkomplotts vom Halse schafft.
Dass Kramer nicht nur Schwergewichtiges konnte, hat er mit einer der witzigsten Klamotten der Filmgeschichte ebenfalls unter Beweis gestellt, und auch die fand in die Kinos zwischen Rügen und Vogtland. Lachen war ja, obwohl manches Geschichtswerk aus Nachwendezeiten die Befürchtung durchaus nahe legt, östlich der Elbe nicht grundsätzlich suspekt. So ließ „Eine total, total verrückte Welt“ (1963, Hauptrolle: Spencer Tracy) die Vorführungssäle beben.
Die Weltoffenheit des DDR-Kinos endete allerdings dort, wo westliche (und später durchaus auch östliche) Filme vorherrschenden Auffassungen gar zu direkt zuwider liefen. Das betraf auch Kramer-Filme. Sein Streifen „Das letzte Ufer“ (1959, Hauptrollen: Gregory Peck, Ava Gardner, Fred Astaire, Anthony Perkins) handelt in einer durch globalen Atomkrieg vernichteten Welt. Nur in Australien scheint noch Leben möglich, bis dort zunehmende Radioaktivität auch diese letzte Hoffnung zerrinnen lässt. Zu jener Zeit – und noch bis Mitte der 80er Jahre – galt in der Führung der Sowjetunion, der die der DDR auch in dieser Frage lange nibelungentreu gefolgt war: Bricht ein Atomkrieg aus, wird er gewonnen – und zwar von der Koalition des Warschauer Vertrages. Damit vertrug sich melancholischer Nuklearkriegsnihilismus à la Kramer natürlich nicht. Und auch sein Film „Rat mal, wer zum Essen kommt“ (1967, Hauptrollen: Spencer Tracy, Sydney Poitier, Katharine Hepburn) kam nicht in die DDR-Kinos. Rassenvorurteile im liberalen, großbürgerlichen Milieu der US-Gesellschaft in den 1960er Jahren mit den Mitteln der Komödie zu behandeln, das schien der Ernsthaftigkeit der Probleme denn wohl doch nicht ganz angemessen – möglicherweise mindestens in den Augen derjenigen, die in der DDR über den Ankauf amerikanischer Filme zu entscheiden hatten. Schade, denn es war der letzte Film von Spencer Tracy, der während des Drehs bereits todkrank war. Die Tränen von Katharine Hepburn während des finalen Monologs von Tracy sollen echt gewesen sein; sie, geschieden, und er, verheiratet, waren bis zu seinem Tode ein unkonventionelles Paar – 27 Jahre lang. Tracy starb 17 Tage nach Abschluss der Dreharbeiten. Katharine Hepburn brachte ihre Rolle einen Oscar als beste Schauspielerin ein; das war ihr zweiter von insgesamt vier.
Ach ja – die Oscars: Allein die hier erwähnten Filme von Stanley Kramer, „12 Uhr mittags“ eingeschlossen, gewannen wenigstens zwölf davon und wurde weitere 43 Mal dafür nominiert. Der Regisseur selbst erhielt die begehrte Trophäe übrigens nie.
Am 29. September 2013 wäre Stanley Kramer 100 Jahre alt geworden.
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