von Petra Pau
Anfang des Jahres war ich in der Kölner Keupstraße. Sie erfuhr traurige Bekanntheit. Die Nazi-Mörderbande namens „Nationalsozialistischer Untergrund“, kurz NSU, hatte dort 2004 eine Nagelbombe zur Explosion gebracht. Zwei Dutzend Menschen wurden zum Teil lebensbedrohlich verletzt. Fast alle hatten türkische oder kurdische Wurzeln.
Die Polizei nahm die Ermittlungen auf. In einer ersten Lageeinschätzung war von einem „terroristischen Akt“ die Rede. Eine halbe Stunde später verschwand diese Annahme aus den Erklärungen der Polizei. Tags darauf erklärte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD), ein terroristischer Anschlag sei ausgeschlossen. Damit war die Linie vorgegeben. Die Ermittler gingen fürderhin von organisierter Kriminalität aus: Rauschgiftdelikte, Schutzgelderpressung, Hisbollahgewalt, PKK-Verbrechen. Sie suchten die Täter unter den Opfern, beharrlich und bar aller Zweifel. Eine solche Brutalität sei der westeuropäischen Kultur fremd, wurde in Akten vermerkt. Es mussten folglich Türken oder Schlimmere gewesen sein.
Ich fuhr also in die Keupstraße, ohne Kamera, ohne Journalisten. Ich wollte mir ein Bild vom Tatort machen, jenseits der Akten, und von ihren Anwohnern. Ein Begleiter öffnete mir Türen. So konnte ich mit einigen Betroffenen des Nazi-Bomben-Attentats und der darauf folgenden staatlichen Ermittlungen sprechen. Es war eine sehr bedrückende Erfahrung.
Noch 2011, also sieben Jahre lang, wurde der Besitzer des Geschäftes, vor dem die Bombe explodiert war, von den Behörden bedrängt. Er solle endlich preisgeben, was er damit zu tun hätte. Er war verzweifelt. Sein Laden zerbombt, seine Familie zerstört, seine sozialen Kontakte kaputt. Er sprach zu mir, aber er sah mich dabei nicht an. Schließlich brach es aus ihm heraus: „Die Polizei kann irren. Das weiß ich, Frau Pau. Aber sie hat vergessen, dass wir Menschen sind. Und das kann ich nicht verwinden.“ Bis zu meinem Besuch hatte sich übrigens niemand bei ihm entschuldigt. Es gab nicht einmal eine offizielle Bestätigung, dass die Ermittlungen gegen ihn eingestellt wurden. Und so ging es sehr vielen Nazi-Opfern in der Kölner Keupstraße.
Mein freundlicher Begleiter lud mich hernach noch zu einem Glas Tee und türkischem Gebäck ein. Wir überlegten, was man für die Betroffenen und ihren Zusammenhalt tun könne. Zum Abschied fragte er: „Ich wohne seit 40 Jahren hier, ich bin Deutscher, meine Kinder sind Deutsche, meine Enkel auch, wo sollen wir denn hin?“ Ich konnte ihm nur die Hand drücken.
Am 2. September 2013 wurde im Bundestag der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum NSU-Desaster debattiert. In 78 Sitzungen waren vordem 98 Zeugen befragt worden, zusätzlich Experten. Zugrunde lagen rund drei Millionen Aktenseiten. Weitere wurden rechtzeitig geschreddert, in Ministerien und Behörden, im Bund und in Ländern – aus Versehen, hieß es.
Der Untersuchungsausschuss erfuhr viel Lob ob seines Anspruches und ob seiner Kultur. Und fürwahr: Wir wollten miteinander aufklären und keine Gemetzel gegeneinander. Ein Kommentator hingegen warf ein, das sei nicht zu preisen. Erhelle es doch nur, wie es ansonsten in Parlamenten zugehe. Ich finde seinen Einwurf aus eigener Erfahrung sehr bedenkenswert.
Zur Abschlussdebatte hatte der Bundestag Betroffene und Angehörige eingeladen. Und viele kamen. Auch Bundespräsident Joachim Gauck war demonstrativ anwesend, ebenso Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie hatte bedingungslose Aufklärung versprochen. Nur wurde ihr dabei von nahezu allen Ministerien und Behörden die Gefolgschaft verweigert.
Dem Untersuchungsausschuss erging es ähnlich. Wir haben in 16 Monaten viel aufgedeckt und dabei in Abgründe geschaut. Aber was wir heraus bekamen, das mussten wir den Ministerien und Behörden regelrecht abtrotzen. Von Kooperation konnte keine Rede sein. Von Aufklärung auch nicht, übrigens egal, welche Parteifahnen über den jeweiligen Regierungssitzen flatterten.
Den Höhepunkt bildete eine Episode aus dem Jahr 2012. Sie liest sich wie ein Thriller. Die Thüringer Landesregierung hatte offenbar von den Verdunklungs-Umtrieben ihrer „Verfassungsschützer“ die Nase voll. Sie ließ Polizisten in die Ämter einrücken, Akten beschlagnahmen und schickte diese gen Berlin zum Untersuchungsausschuss des Bundestages.
Die Innenminister der anderen Länder reagierten prompt. Sie bezichtigten ihren Thüringer Amtskollegen des Verrats. Es wurde erwogen, die Bundespolizei in Marsch zu setzen. Sie sollte die Lkw mit den umstrittenen Akten abfangen, damit diese nicht in die Hände aufklärungsgeiler Abgeordneter fallen. So berichteten es Medien übereinstimmend. Ein Stück aus dem Tollhaus.
Der Abschlussbericht umfasst circa 1.300 Seiten, Darstellungen, Bewertungen, Schlussfolgerungen, getragen von allen Fraktionen, von der CDU/CSU bis zur LINKEN. Sie beschreiben das Gemeinsame, nicht das Trennende. Das gibt es selbstverständlich auch und weiterhin, nachzulesen in den Sondervoten der Fraktionen. Sie gehören gleichberechtigt zum Abschlussbericht.
In der Plenardebatte zum Abschlussbericht habe ich drei Sichten der Fraktion DIE LINKE hervorgehoben, die nicht konsensfähig waren. Es geht um die Ursachen des NSU-Desasters, um die Hauptversager und um eine, wie ich meine, bitternötige Konsequenz für die künftige Prävention gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.
Erstens: Das Versagen beim NSU-Desaster hatte zwei wesentliche Ursachen, nämlich „die Verharmlosung und Vertuschung der Gefahren des Rechtsextremismus durch staatliche Stellen einerseits und den institutionellen Rassismus andererseits.“
Zweitens: „Der nachrichtendienstlich arbeitende Verfassungsschutz war Herz und Motor des sicherheitspolitischen Debakels.“ DIE LINKE fordert daher, die V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden sofort zu beenden und die Ämter für Verfassungsschutz als Geheimdienste aufzulösen.
Drittens: Gesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus und Rassismus, für Demokratie und Toleranz werden schlecht unterstützt und vielfach kriminalisiert. DIE LINKE schlägt daher ein qualitativ neues Modell zur Prävention gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vor.
Damit hielt ich mich im Rahmen des Untersuchungsauftrages. Er war weit gesteckt und dennoch beengt, zeitlich ohnehin, aber auch inhaltlich. Im November 2011 flog die Nazi-Bande namens NSU auf.
Wenig später stellten Prof. Heitmeyer & Team die Ergebnisse einer Langzeitstudie über „Deutsche Zustände“ vor. Das war Zufall und zugleich ein Fingerzeig. Deren Fazit: Die „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ nimmt zu, ebenso die Akzeptanz von Gewalt inmitten der Gesellschaft. Mögliche Ursachen fassen die Autoren ebenso prägnant zusammen: Das Soziale wird ökonomisiert, die Demokratie entleert. Eine Generalabrechnung mit einer Politik, die als neoliberal bezeichnet und als ungerecht und entmündigend empfunden wird.
„Die Ökonomisierung des Sozialen“ meint nicht allein, dass immer mehr soziale Leistungen einen fragwürdigen Preis hätten, wie die Rezeptgebühr in der Apotheke. Sondern, dass sich „alles rechnen muss“, letztlich auch menschliche Beziehungen. Das führt zum Gegeneinander, nicht zum Miteinander. Hass gegen vermeintlich niederwertige Menschen wird aufgebaut und entlädt sich.
Wissenschaftler im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung bestätigten diesen Befund wenig später aus ihrer Sicht: Die Mitte sei im Umbruch, instabil und schwindend. Ein Grund dafür seien beschleunigte globale Entwicklungen. Sie werden für viele immer unüberschaubarer und deshalb als diffuse Bedrohung empfunden. Genau das gibt Nazis eine Chance, warnen sie. Ihre Empfehlung an die Ebert-Stiftung heißt: „Mehr Politik wagen!“ Dazu gehören ein auskömmlicher gesetzlicher Mindestlohn ebenso wie die Umverteilung von Wohlstand und eine Neubewertung von Arbeit. Sie regen Neues an, so auch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Schließlich mahnen sie: „Mehr Europa, aber anders, nämlich sozial und demokratisch.“
Wie gesagt: Das alles war nicht Gegenstand im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Aber es gehört dazu und mahnt: Wer das NSU-Desaster auf mordende Nazis und auf das Totalversagen der Sicherheitsbehörden beschränkt, nimmt politische Fehlentwicklungen aus dem Blick. Sie rechtfertigen keine Mord-Serie à la NSU. Aber sie sind wider die Würde des Menschen, aller Menschen.
Schlagwörter: NSU, Petra Pau, Rassismus, Rechtsextremismus, Verfassungsschutz