von Helmut Donat
Es kommt sicher nicht häufig vor, dass der Verleger dem Buch eines Autors ein Nachwort hinzufügt. Doch das Schicksal von François de Beaulieu hat ihn mehr beschäftigt als andere Biografien, und zudem ist es während der Arbeiten an der Herausgabe der deutschsprachigen Übertragung des Lebensbildes zu einer interessanten Auseinandersetzung und abweichenden Meinungen zwischen dem Herausgeber und dem Verleger dieses Buches gekommen. Übereinstimmend sind sie zu dem Schluss gelangt, ihre Kontroverse nicht unter den Teppich zu kehren, sondern öffentlich zu machen in der Hoffnung, damit auch dem Leser einen Dienst zu erweisen.
Es geht dabei um die Frage, ob und in welcher Ausführlichkeit es als erforderlich anzusehen ist, die französische Fassung des Buches „Mon père, Hitler et moi“ in der deutschen Ausgabe um Informationen über den Werdegang des Bremer Offiziers Helmuth Groscurth zu ergänzen, die dem Autor bis dahin unbekannt gewesen sind und über die auch sein Vater nicht verfügt hat. Sind wir berechtigt, den Autor und seinen Vater zu „korrigieren“ bzw. ihm eine Korrektur vorzuschlagen? Manches spricht dafür, anderes dagegen. Zweifellos sind mit einem solchen „Eingriff“ Schlussfolgerungen verbunden, die weniger den Autor und seinen Vater als vielmehr uns Deutsche betreffen. Welche Haltung nehmen wir gegenüber einem Offizier wie Helmuth Groscurth ein, der sich wie andere Militärs seit 1938/39 im Widerstand gegen Hitler befunden, aber in den Jahren zuvor dessen Eroberungspolitik unterstützt sowie vor 1933 dazu beigetragen hat, die Weimarer Republik zu zerstören und den Nazis den Weg zu ebnen? Ist es aus unserer Sicht zwingend, dem Autor unsere Einsichten nahe- bzw. aufzuerlegen? Handelt es sich dabei möglicherweise in erster Linie um ein innerdeutsches Problem?
Andererseits: Wir sind der Wahrheit verpflichtet, und selbst wenn sie uns oder anderen unangenehm erscheinen sollte, bleibt es doch unsere Aufgabe, sie auszusprechen und zur Diskussion zu stellen. Insofern verstehen sich die folgenden Ausführungen als ergänzende Informationen zu einem wichtigen Aspekt der jüngeren deutschen Geschichte und – damit durchaus den Sinn des vorliegenden Buches treffend – der Auseinandersetzung mit ihr.
Um Missverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle erklärt, dass es in dem Nachwort nicht darum geht, den Autor belehrend zu korrigieren und damit seine vorzügliche Arbeit oder die besondere Qualität seines Buches zu entwerten. Eine solche Mutmaßung wäre schon deshalb unangebracht, weil dem Autor der Text vorgelegen und er sich mit der Veröffentlichung des Nachwortes einverstanden erklärt hat.
Die Fokussierung der deutschen Geschichtsschreibung und der „Erinnerungskultur“ auf die Zeit des Dritten Reiches führt leicht zu Fehleinschätzungen, Irrtümern und wenig einleuchtenden Schlussfolgerungen. Das betrifft auch und nicht zuletzt den NS-Widerstand. Wer ihn – allzu vordergründig – erst 1933 beginnen lässt, blendet all jene Gruppen und Persönlichkeiten aus, die angesichts des fortgesetzten Irrwegs bereits lange vor der NS-Machtergreifung warnend ihre Stimme erhoben haben. Der geradezu ausschließliche Blick auf die Jahre von 1933 bis 1945 nimmt sie nicht oder kaum noch wahr. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit, die sich auf diesen Zeitraum fixiert, lässt zu Vieles vergessen und unberücksichtigt. Die „Unfähigkeit zu trauern“, welche Alexander und Margarete Mitscherlich für die Deutschen nach 1945 konstatiert haben, beginnt lange vor 1933. Die Trauerarbeit oder der Wille zur Umkehr hätten bereits nach 1918 erfolgen müssen, um fortan Gewaltdenken, Machtwahn und Krieg auszuschließen.
Eine Traditionspflege, die bei dem Versuch, die Vergangenheit durchschaubar zu machen, nicht allein die Jahre von 1933 bis 1945 im Blick hat und darüber hinausgeht, ist daher nicht nur differenzierter, sondern dient auch der Sinnstiftung. Vor allem ist sie ehrlicher, weil sie nicht unterschlägt beziehungsweise das Auge dafür schärft, welche Haltung Frauen und Männer, die sich während des Zweiten Weltkrieges oder bereits wenige Jahre davor dem Widerstand anschlossen, vor 1933 gegenüber der Weimarer Republik und 1933/34 gegenüber der Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland eingenommen haben.
Wer vor 1933 den Kampf gegen die Nazis unter dem Motto „Hakenkreuz und Stahlhelm sind Deutschlands Untergang!“ führte und unterstützte, findet bis heute kaum die ihm gebührende Anerkennung. Zu nennen ist hier vor allem der Pädagoge, Philosoph, Ethiker, Universitätsprofessor und Politiker Friedrich Wilhelm Foerster. Wie kein anderer hat er in Büchern, Tausenden von Artikeln und Aufsätzen die Ursachen und Folgen des deutschen Militarismus und dessen nach dem Ersten Weltkrieg fortwuchernden Ungeist beschrieben. Wegen seines Kampfes gegen die vom nationalistischen und militaristischen Deutschland ausgehenden Gefahren für den Frieden und die Freiheit musste er, von seinen Gegnern mit dem Leben bedroht, sein Land bereits 1922 verlassen. Hitler erklärte ihn nach der NS-Machtübernahme zum „Staatsfeind Nr. 1“. Bereits 1927 hat Foerster den Zweiten Weltkrieg vorausgesagt und dem Ausland, aber auch den Deutschen selber die Gefahren des Revanchedenkens und der Aufrüstung vor Augen gestellt. Sein 1935 in Luzern erschienenes, den „europäischen Staatsmännern“ gewidmetes Werk „Europa und die deutsche Frage“ legt dafür nicht nur ein beredtes Zeugnis ab, es stellt eine einzige Warnung vor dem Weg in den Zweiten Weltkrieg dar. Aber auch nach 1945 redete er den Deutschen nicht nach dem Mund und klagte – wie schon nach 1918 – die nun allerdings durch die Verdrängung der im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen und des Holocausts noch gesteigerte Reuelosigkeit der Führungsschichten sowie die Unbußfertigkeit vieler Deutscher an. Foerster leistete nicht nur vor oder nach 1933, sondern auch nach 1945 Widerstand gegen die spätestens seit 1949 zu verzeichnende „zweite Schuld“ im Umgang mit der deutschen Vergangenheit. Dennoch oder gerade deshalb ist er vergessen beziehungsweise „vergessen“ gemacht worden.
Gleiches gilt für Foersters „militärische Freunde“, zu denen der Generalmajor Paul Freiherr von Schoenaich, General Berthold von Deimling sowie der bayerische Oberst Falkner von Sonnenburg zählen. Obwohl auch sie sich lange vor 1933 engagiert gegen das Bündnis von „Hakenkreuz und Stahlhelm“, von Militarismus und Nationalsozialismus, gewandt haben und sich als ehemalige Offiziere für Demokratie, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und eine Überwindung des Schwertglaubens engagierten, fristen auch sie in der „Erinnerungskultur“ der Deutschen eher ein Schattendasein. Stattdessen werden Militärs geehrt, die sich dem NS-Regime zunächst bereitwillig und willfährig zur Verfügung gestellt haben – und erst dann in den Widerstand gingen. Sie sucht man zu Idolen unseres Verständnisses von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu erklären. Auch Helmuth Groscurth gehört zumindest aus der Sicht von einigen staatlichen Vertretern deutscher „Erinnerungskultur“ zu diesen „Helden“ beziehungsweise zu den „Vorbildern heutiger demokratischer Gesinnung“, die es zu ehren gelte.
Zu viele der deutschen Militärs sind weit mehr als nur Mitläufer gewesen – und sie haben daraus Vorteile und gesellschaftliche Anerkennung gezogen. Es mag eine Reihe von ihnen ehren, dass sie durch ihren späteren Widerstand zur Menschlichkeit zurückgefunden haben. Aber sind sie deshalb „Vorbilder“? Und sind sie deshalb heute zu ehren? Kann ich mich zu einem „Verehrer“ oder verständnisvollen Partner eines Menschen machen, an dessen Händen Blut klebt beziehungsweise der mitverantwortlich ist für Verbrechen und Mord? Kann man darüber hinwegsehen oder so tun, als handele es sich dabei nur um lässliche „Jugendsünden“?
Helmuth Groscurth ist nicht unbeteiligt gewesen an der Zerstörung der Weimarer Republik und an dem Weg, der zu 1933 und zum Zweiten Weltkrieg geführt hat. In den 1920er Jahren gehörte er der streng disziplinierten „Organisation Consul“ nicht nur als einfaches Mitglied, sondern als „Kurier“ an und stand in enger Verbindung zu dem wegen Hochverrats gesuchten und untergetauchten Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt, der die Mörderorganisation anführte. Die Attentate auf Karl Gareis, Matthias Erzberger, Walter Rathenau, Philipp Scheidemann, Maximilian Harden und Hellmut von Gerlach gingen auf das Konto der „Organisation Consul“. Sie bekämpfte die Weimarer Verfassung, sammelte „entschlossene nationale Männer“ um sich, verfolgte illegale terroristische Bestrebungen und betrachtete es als ihre Aufgabe, die Tötung von Persönlichkeiten vorzubereiten und durchzuführen, die nach Ansicht von Ehrhardt und dessen Leuten den „vaterländischen Interessen“ schadeten. Ehrhardt zählte im März 1920 mit seiner Brigade zu den Führern und Aktivisten des Kapp-Putsches. Der Anklage wegen Hochverrats entzog er sich durch Flucht nach Österreich. 1923 wurden er und 26 Mitglieder der „Organisation Consul“ wegen Geheimbündelei zu einigen Monaten Gefängnis verurteilt, aber bald darauf amnestiert und freigelassen. Emil Julius Gumbel charakterisierte in seinem Buch „Verräter verfallen der Feme!“ den Anklage-Schriftsatz der Reichsanwaltschaft als eine Art „Verteidigungsschrift“. Nach Auflösung der „Organisation Consul“ sammelten sich ihre Mitglieder in verschiedenen Wehrverbänden, so in dem später ebenfalls verbotenen „Bund Wiking“ mit Ehrhardt als dessen Chef, dem sogenannten „Consul“.
Ebenso wie Admiral Wilhelm Canaris, der als Admiralstabsoffizier der Ostsee-Station der Reichsmarine mit der Terrorgruppe „Organisation Consul“in enger Verbindung stand, zählte Groscurth zu den aktiven Helfern der Putsch- und Geheimbundszene. Obwohl die rechtsradikale Untergrundorganisation für Morde an bedeutenden Politikern des Reichs verantwortlich war, beendeten weder Großcurth noch Canaris ihre Zusammenarbeit mit der „Organisation Consul“. Beide bekämpften als rechtskonservative Nationalisten und Militaristen die Weimarer Republik. Sie unterstützten die Revisionspolitik der Deutschnationalen, Nationalsozialisten und der Wehrmachtsführung ebenso wie das Streben nach einer deutschen Hegemonie in Europa. Des Weiteren befürworteten sie „Hitlers Revolution“ und damit auch alle gegen die Gegner des NS-Regimes gerichteten Maßnahmen – wie zum Beispiel gegen Sozialdemokraten, Kommunisten und Pazifisten sowie gegen Gewerkschaftler, Linksliberale und deutsche Staatsbürger jüdischer Herkunft. Wenn die Herausgeber der Tagebücher Großcurths nahelegen, es sei „glaubwürdig bezeugt“, er habe der NS-Bewegung „vor und nach 1933 skeptisch gegenüberbestanden“, ist das wenig beweiskräftig, zumal sie sich dabei lediglich auf die Aussage des Bruders von Großcurth, also eines engen Verwandten, stützen, ohne den Wahrheitsgehalt seiner Angaben wirklich belegen zu können. Zudem verdeutlichen sie in ihrer „Einführung“ zu den Tagebüchern Großcurths, er habe „vermutlich [!] … gleich so vielen deutschen Mitbürgern, besonders Offizieren“, – ein Hinweis, der offenbar entlastend wirken soll –, „die nationalen und sozialen Postulate und Ziele der NSDAP wie Volksgemeinschaft, ‚Wehrhaftmachung‘, Revision des Versailler Vertrags bejaht.“ Weiter heißt es: „Grundsätzlich war Groscurth wohl [!] Anhänger einer autoritären Staatsführung.“ War das NS-Regime nicht durch eine „autoritäre Staatsführung“ charakterisiert?
Als Canaris 1935 Chef der Abwehr wurde, stellte er viele ehemalige Mitglieder der Freikorps sowie der „Organisation Consul“ als neue Mitarbeiter ein, so auch Helmuth Groscurth, dem er schließlich am 1. Juni 1938 die Leitung der „Abteilung II der Amtsgruppe Auslandsnachrichten und Abwehr“ übertrug. Bereits Mitte April 1935 hatte er im geheimen Meldedienst der Abwehr die Aufgabe übernommen, in Frankreich, Belgien, Italien, der Tschechoslowakei und Abessinien Informationen zu sammeln beziehungsweise Erkundungen einzuholen mit dem Ziel, die gegnerische Wehrkraft zu schwächen beziehungsweise zu zersetzen, Sabotageakte in Feindesland für den Kriegsfall vorzubereiten sowie geheime Beziehungen zu sogenannten volksdeutschen und fremden Minderheiten aufzubauen und zu unterhalten – also ein Netzwerk von hinterhältiger Art zu organisieren. Selbst die Herausgeber der „Tagebücher“ Groscurths kommen nicht umhin festzustellen: „Was die politische Praxis angeht, so scheint er gegen die fragwürdige Minderheitenpolitik des Regimes, welche volksdeutsche wie fremde Minoritäten unter Gefährdung ihrer Existenz zu Instrumenten der Zersetzung im Dienst einer Expansionspolitik machte, im Hinblick auf einen möglichen Kriegsfall keine prinzipiellen Bedenken gehegt zu haben.“
Seit dem 30. Mai 1938 bereitete sich die Abwehr gemäß einer Anordnung Hitlers auf einen Krieg gegen die Tschechoslowakei vor, Pläne, die jedoch durch das Münchner Abkommen vom 29./30. September 1938 nicht zur Ausführung kamen. Kaum stand fest, dass die Annexion des Sudetenlandes auch ohne Krieg möglich geworden war, machten sich die Verschwörer von gestern daran, den Einmarsch und die Erledigung des tschechischen Reststaates vorzubereiten. Sie erfolgte am 15./16. März 1939.
Schon im Jahre 1937 war Groscurth damit beschäftigt, auf tschechoslowakischem Staatsgebiet Munitionslager anzulegen, V-Leute anzuwerben und getarnte Kampf- und Sabotageverbände aufzubauen, die bei Kriegsbeginn Sabotage- und Terroraktionen ausführen sollten. Die Abwehr organisierte auch die Aufstellung des Sudetendeutschen Freikorps. Groscurths Erfahrungen aus seiner Zeit als Kurier bei der „Organisation Consul“ dürften von großem Wert gewesen sein.
Canaris wie auch Groscurth waren zu dieser Zeit Wegbereiter von Hitlers Eroberungskriegen. Erst als dessen Gewalt- und Kriegspolitik aus ihrer Sicht immer mehr einem Vabanque-Spiel glich und die Terrormaßnahmen durch Partei und SS ungeahnte Züge annahmen, fühlten sie sich als „nationalkonservative Fronde in der Abwehr zum Gegensteuern veranlaßt.“
Der Widerstand von Offizieren wie Groscurth oder Canaris ist nicht als geradlinig zu bezeichnen und mit einem erheblichen Makel behaftet. Beide waren keine Mitläufer. Deutschnational und militärisch geprägt sowie in Gewalt- und Freund-Feind-Kategorien denkend, sahen sie in den Nazis längere Zeit so etwas wie einen „Segen“, folgten ihnen oder unterstützten zumindest ihr Bestreben nach einer deutschen Hegemonie über Europa und die Welt. Selbst wenn man ihnen konzediert, irregeleitet gewesen zu sein, und sie aus ihrer Sicht nicht anders zu handeln vermochten, sind sie doch nicht einfach nur „Opfer“. Eine Tat und ihre Hintergründe zu verstehen, bedeutet nicht, sie zu akzeptieren oder über sie als Teilaspekt eines früheren Lebens hinwegzusehen. Wenn damit Aktivitäten verbunden sind, die mit Mord und Totschlag einhergehen, haben wir es mit einem neuen und anderen Problem zu tun: mit der Verletzung von Menschenrechten und dem Grundrecht auf Leben und dessen Unversehrtheit. Wer andere Menschen aus ideologischen, rassistischen, nationalistischen oder revanchistischen Gründen umbringt beziehungsweise umbringen lässt oder sich daran beteiligt, hat für die Mordtaten und für alles, was damit verbunden ist, gerade zu stehen und ist dafür zur Verantwortung zu ziehen. Sind ihm, weil er später in den Widerstand ging, deshalb mildernde Umstände zuzubilligen?
Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit wir Groscurths Handlungsweise gutheißen und ob und in welcher Form wir ihm ein ehrendes Andenken bewahren wollen, welche Ehre ihm im Vergleich mit jenen Offizieren gebührt, die sich bereits zwischen 1918 und 1933 dafür engagiert haben, dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen dürfe. Kann und soll man deutsche Militärs dafür ehren, dass sie gegen Hitler waren, zuvor aber stets das getan haben, was deutsche Offiziere, wie Großcurth es selbst einmal ausgedrückt hat, immer getan haben: „Gehorcht und weiter nichts!“
Die deutschen Demokraten von heute sollten sich ernsthaft fragen, inwieweit Groscurth und Canaris ihnen als Vorbild dienen können. Was spricht dafür oder dagegen, Personen zu Leitbildern zu erklären, deren Wandlung dadurch belastet ist, zuvor in Kauf genommen zu haben, dass Menschen ihrer Freiheit beraubt und ermordet worden sind? Muss man in Deutschland erst Mittäter gewesen sein, um später als Vorbild zu gelten? Was haben Canaris und Groscurth getan, als man die Gegner des NS-Regimes verhaftet, in Konzentrationslager verschleppt, gequält und umgebracht hat? Reicht es aus, dass jemand wie Groscurth sagt: „Man muß sich schämen, noch ein Deutscher zu sein!“ – um ihn dafür zu ehren? Hat sich ein Gegner des nationalistisch-militaristischen Deutschlands wie Friedrich Wilhelm Foerster geschämt, „noch ein Deutscher zu sein“? Und wie verhält es sich mit den Deutschen, die das NS-Regime ins Exil getrieben, eingesperrt oder ermordet hat? Haben sie sich geschämt, Deutsche zu sein? Warum hätten sie es tun sollen? Schämte sich François de Beaulieu, als man ihn wegen „Wehrkraftzersetzung“ verurteilte? Haben die Richter und Henker sich jemals für ihre Untaten und Verbrechen geschämt oder verantwortlich erklärt?
Helmuth Groscurth erinnert mit keinem Wort in seinen Tagebüchern an seine Mitgliedschaft in einer Mörderorganisation, an sein Engagement, die Republik zu zerstören, oder an seine Bereitschaft, sich für den Expansionswillen Hitlers willfährig einzusetzen. Nach einem Eingeständnis, an der nationalistischen und militaristischen Verwilderung Europas mitschuldig zu sein, sucht man vergebens.
Ganz im Geiste des preußisch-neudeutschen Militarismus erzogen, war Groscurth nicht zuletzt auch deshalb bereit, in den Nationalsozialisten eine Art „Junior-Partner“ zu sehen, mit dem man angesichts vieler übereinstimmender Ziele zusammenarbeitete, ohne sich mit ihm deshalb vollends zu identifizieren. Je mehr die bestimmenden Kreise in der NSDAP und im NS-Staat den Militarismus nicht nur im Sinne der Wehrmacht, sondern auch im eigenen Interesse steigerten, je weiter sie ihren Alleinvertretungsanspruch zudem in allen anderen Bereichen und Belangen des politischen, geistigen und religiösen Lebens durchsetzten und ins Unermessliche erhoben, desto stärker Groscurths Kritik an den Methoden der unumschränkten Machtausübung der Nazis. Vor allem ihre Arroganz und Ungezügeltheit, ihr extremer Rassedünkel und ihr Bestreben, nicht nur im Äußeren, sondern auch im Inneren alles niederzuwalzen, was sich ihnen in den Weg stellte, schossen für seine Vorstellungen weit über das Ziel hinaus und ließen ihn eine Katastrophe befürchten.
Selbst wenn man dem Gesagten nicht in allen Punkten zu folgen vermag, so stellt sich gleichwohl die Frage: Warum soll ich mich, an den Traditionen des aufklärerisch und übernational gesinnten Deutschlands orientiert, mit einem Mitläufer oder Mittäter identifizieren oder allen Zeitgenossen und vor allem der Jugend nahelegen, das zu tun? Warum soll ich mich in die Denkbahnen eines deutschnational und militaristisch gesinnten Offiziers begeben und, gewissermaßen meine Persönlichkeit spaltend, nachvollziehen, was in ihm vorgegangen ist? Ich sehe darin keinen Sinn. Eher beschleicht mich das Gefühl, dass man mich zu einem Umgang mit der deutschen Vergangenheit verpflichten will, der mit dem alten deutschen Satz „Ehre, wem Ehre gebührt!“ wenig bis nichts zu tun hat.
Entnommen aus François de Beaulieu: Mein Vater, Hitler und ich. Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Karl Holl, Donat Verlag, Bremen 2013, 240 Seiten, 14,80 Euro. Leicht gekürzte Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.
Schlagwörter: François de Beaulieu, Helmut Donat, Helmut Groscurth, Vergangenheit, Widerstand