von Axel-Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.
Natürlich beteuern Obama und sein Team, dass die von Edward Snowden zumindest partiell aufgedeckten Spitzelprogramme der NSA völlig harmlos seien und nur unserem Wohl und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dienten. Unbescholtene Bürger hätten schlieβlich nichts zu verstecken. Kürzlich meldete sich gar der überführte Kriegsverbrecher George W. Bush zu Wort und beklagte, wie Snowden und seine Helfershelfer der Sicherheit der freien Welt mit den Enthüllungen groβen Schaden zufügten. Er selbst habe die NSA ja nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 autorisiert, flächendeckend in unseren privaten E-Mails und Telefongesprächen nach Terroristen und anderen Bösewichten zu suchen. Dabei seien nie irgendwelche Bürgerrechte kompromittiert worden, wird uns von Herrn Bush versichert, der bereits den Irak demokratisiert und von Massenvernichtungswaffen gesäubert hatte.
Nun sind halbwegs intelligente Zeitgenossen einigermaßen abgebrüht nach all den Enthüllungen von Bradley Manning über die massenhaften Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der US-Streitkräfte im Irak und Afghanistan. Noch Schlimmeres erfährt man durch die Lektüre von Jeremy Scahills gerade erschienenen, erstklassigen Buches Dirty Wars: The World Is a Battlefield. Massenhafte Massaker an Zivilisten, bestialische Verstümmelungen, Massenvergewaltigungen – all diese bereits vom Vietnam-Krieg bekannten und kürzlich von Nick Turse in Kill Anything That Moves: The Real American War in Vietnam an Hand von lange unzugänglichen Pentagon-Dokumenten untersuchten Kriegsverbrechen – waren und sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Sollte man in der Annahme Trost suchen, dass zumindest innerhalb der USA Menschen- und Bürgerrechte respektiert würden? Barack Obama positionierte sich gerade wieder als Trittbrettfahrer des schwerkranken Nelson Mandela. Bedeutet dies, dass Obama und sein Weißes Haus die gerade von Mandela demonstrierte Notwendigkeit von zivilem Ungehorsam akzeptieren? Allein die Erfahrungen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sollten Obama zeigen, dass ziviler Ungehorsam und eine dynamische Protest-Kultur zur Demokratie gehören wie die Luft zum Atmen.
Eben diese Luft zum Atmen suchen die Herrschenden in Politik und Wirtschaft traditionsgemäss zu begrenzen – heute und in Amerika mehr denn je. Demokratie als Volksherrschaft war der Wirtschafts- und Finanzoligarchie nie geheuer. Und jedwede Versuche, zunehmend formale politische Demokratie durch Aspekte von Wirtschaftsdemokratie mit neuem Leben zu füllen, werden mit dem Ausbau eines Überwachungsstaates beantwortet. Der alte Polizeistaatler Fürst Metternich hätte gewiss seine Freude an dieser Entwicklung. Sich selbst noch immer ernstnehmende Demokratie-Unterstützer allerdings haben allen Grund zur Sorge angesichts dieses Großangriffes auf das Herz eines offenen, pluralistischen und demokratischen Gemeinwesens.
Die Occupy-Bewegung beispielsweise wurde, wie in der Juni-Ausgabe des The Progressive-Magazines nachzulesen ist, seit einiger Zeit systematisch von den unter dem Schirm von Homeland Security zusammengefassten Geheimdiensten ausspioniert. Der Herausgeber des Progressive, Matthew Rothschild, schrieb einen äuβerst lesenswerten Beitrag unter dem Titel Spying on Occupy Activists: How Cops and Homeland Security Help Wall Street. Diese Geheimdienste arbeiten sehr eng mit den Konzernen im Privatsektor zusammen. Offiziell wird vorgeschoben, dass es sich bei den Schnüffeleien ausschlieβlich um die Abwehr potentieller terroristischer Anschläge handele. Doch selbst die neutralsten Beobachter können sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hinter diesen Floskeln eine beängstigende Zuarbeit der Geheimdienste für die Interessen der Wirtschafts- und Finanzelite lauert. Die durch Steuergelder finanzierten und zumindest theoretisch einer demokratischen Kontrolle unterliegenden Geheimdienste entpuppen sich demnach als einseitige Macht-Instrumente für die Wall Street und eben nicht als neutrale Interessenvertreter aller Bürger.
Inzwischen liegen durch die Recherchen von DBA Press und dem Center for Media and Democracy tausende von Dokumenten vor, welche das Zusammenspiel von Wirtschaftsbossen und Geheimdiensten detailliert dokumentieren. Abertausende Amerikaner, die gegen die aggressive Dominanz der Konzerne im politischen und gesellschaftlichen Leben der USA protestieren, sollen augenscheinlich kriminalisiert und mundtot gemacht werden. Lisa Graves, Direktorin des Center for Media and Democracy beklagt, wie zahllose Millionen Dollar an Steuergeldern missbraucht und verpulvert werden, um die Bürgerrechte unschuldiger Amerikaner auszuhebeln, ohne dass diese auch nur das Geringste mit Gewaltbereitschaft oder Terrorismus zu tun hätten.
Jamie Dimon, Chef der gröβten amerikanischen Bank JPMorgan, besuchte im Oktober 2011 Phoenix im Bundesstaat Arizona. Bereits vorab setzte sich sein Büro mit dem Homeland Defense Bureau in Phoenix in Verbindung, um die frisch gegründete Occupy Phoenix-Bewegung flächendeckend und langfristig zu observieren und zu unterwandern. So koordinierten der großkapitalistische Privatsektor gemeinsam mit dem FBI, den regionalen Sheriffszentren und Homeland Security ihre Aktivitäten, um Kritikern der JPMorgan-Bank das Leben schwer zu machen. Detaillierte Pläne für Massenverhaftungen von Protestlern wurden gemeinsam ausgearbeitet, schwarze Listen angefertigt und Agents Provocateurs wie Saul DeLara auf die Occupy-Bewegung angesetzt.
Man stelle sich nur für einen Augenblick vor, dass wir in einer tatsächlich funktionierenden Demokratie lebten. JPMorgan, als gröβte US-Bank auch einer der Hauptschuldigen an der tiefen Krise nicht nur der US- sondern auch der Weltwirtschaft, würde dann nicht als sakrosankte Institution über den Gesetzen stehen und diese nach Gutdünken im eigenen Interesse biegen und schieben dürfen. Polizei und Homeland Security müssten dann das Bankengewerbe und andere Großkonzerne mit mindestens ebenso viel Skepsis und Misstrauen begutachten wie die Occupy-Bewegung. FBI und Homeland Security würden sich dann nicht nur mit den Konzernen konsultieren, sondern auch mit den Bürgerbewegungen für soziale Gerechtigkeit. Was wäre uns allen erspart geblieben, wenn sich im Vorfeld der 2007 beginnenden Weltwirtschaftskrise eine solche für alle Seiten transparente und demokratische Zusammenarbeit entwickelt hätte?
Neben JPMorgan wurden auch andere Großunternehmen von den Schnüffeldiensten mit Insider-Information beliefert, so beipielsweise die Beraterfirma Ernst & Young. Schockierend sind auch die Zuarbeitungsdienste für eine der destruktivsten und demokratie-feindlichsten Organisationen im heutigen Amerika: ALEC. Diese verharmlosend American Legislative Exchange Council genannte Institution beliefert lokale, regionale und bundesstaatliche Regierungen in den USA, einschlieβlich Washington, mit vorgefertigten Gesetzesentwürfen im Interesse der Großkonzerne. Die vom groβen Geld gekaufte Politikerkaste muss diese dann nur noch vermarkten und mehrheitsfähig machen. ALEC ist unter anderem für die rassistischen Stand Your Ground-Gesetze verantwortlich, die es George Zimmerman in Florida ermöglichten, den siebzehnjährigen und unbewaffneten Afro-Amerikaner Trayvon Martin ebenso kaltblütig wie straflos zu erschießen. Erschreckend antidemokratisch und perfide ist auch ALECs Modellgesetz, welches Tierschützer automatisch zu Terroristen erklärt. Bewusst irreführend The Animal and Ecological Terrorism Act tituliert, macht diese Gesetzesvorlage jedwedes Dokumentieren von Tierquälerei in den Massen-Farmen zu einem terroristischen Delikt. Acht Bundesstaaten haben dieses Gesetz bereits ratifiziert, welches wohlgemerkt nicht die eigentliche Tierquälerei, sondern ihre Enthüllung kriminalisiert. In neun weiteren Bundesstaaten wird es gerade verhandelt.
Das Mother Jones-Magazin beschreibt in seiner Juli/August-Ausgabe, wie in nicht wenigen landwirtschaftlichen Großunternehmen grausamste Verfahren zur Regel gehören. Noch lebende Tiere werden routinemässig von riesigen Maschinen zermalmt, zersägt und zerissen. Untergewichtige Ferkel werden an den Hinterbeinen hochgezogen und die Schädel auf dem Betonboden zertrümmert. Das Enthüllen solch sadistischer Praktiken – vom Management naturgemäß als geschäftsschädigend bekämpft – ist nun dank ALECs Animal and Ecological Terrorism Act in immer mehr Bundesstaaten illegal.
In deutschen Landen deklariert Frau Merkel, dass die weiter ausufernde Infrastruktur des heutigen Überwachungsstaates mit der – Gott sei’s gedankt – auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandeten Stasi nichts, aber auch gar nichts gemein habe. Weniger opportunistisch agierende Zeitgenossen sehen dies allerdings anders. So beispielsweise Daniel Ellsberg, der 1971 durch das Aufdecken der Pentagon Papers nachweisen konnte, wie systematisch die amerikanische Regierung das amerikanische Volk in puncto Vietnam-Krieg belogen und betrogen hatte. Ellsberg schrieb bereits am 10. Juni im Guardian, dass die von Snowden aufgedeckte NSA-Affaire aufzeigt, wie die Geheimdienste zur United Stasi of America mutieren und damit der Substanz unserer Demokratie unermesslichen Schaden zufügen. Hinzuzufügen wäre die immer bedenklichere Verflechtung von Polizei, Geheimdiensten und Großkonzernen.
Schlagwörter: Axel Fair-Schulz, Demokratie, Edward Snowden, NSA, USA