16. Jahrgang | Nummer 17 | 19. August 2013

Querbeet (XXIX)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein trommelnder Bär, ein hundertjähriger Held sowie ein Roman voller Hollywood-Blut.

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Er ist der einzig Überlebende seiner Art; alle anderen sind von Motten und anderen Gefräßigkeiten vertilgt worden. Und so steht er denn stolz in voller Lebensgröße aufrecht stramm in einer Glasvitrine im Mathematisch-Physikalischen Salon des Dresdner Zwingers: Meister Petz mit dem prachtvollen Pelz, unter dem anno 1625 ein Geh-, Schlag- und Trommelwerk installiert wurde. Seither arbeitet der brave Bär als Wecker für höhere schnarchende Herrschaften. Er zeigt die Zeit an, und zur eingestellten Stunde rollt er mit den Augen, schnappt mit dem Maul und schlägt heftig eine am Bauch baumelnde Trommel, auf dass die Schlafmütze vor Schreck aus dem Bett falle. Ein herzoglicher Spaßvogel schenkte das Kunststück früher Automatenherstellung einst dem sächsischen Kurfürsten Johann Georg I., der dem Wundertier schließlich Quartier gab in der um 1560 eingerichteten fürstlichen Kunstkammer auf dem Dachboden vom Dresdner Residenzschloss. Dort wurden freilich nicht nur solch kostbare Raritäten aufbewahrt, sondern zunehmend Gerätschaften zur Erkundung, wie die Welt wohl funktioniert – Sonnenuhren, Globen, Teleskope, Zirkel, Rechenmaschinen, Weltzeituhren, Planetenlaufuhren, Brennspiegel, Wagenwegmesser…

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Es ging also weniger ums Anhäufen diverser (technisch-animalischer) Kuriosa sowie kunsthandwerklicher Sensationen, sondern ganz praktisch ums Bereitstellen von Instrumentarien des technischen Fortschritts ‑ mithin um die Vermehrung des höfischen Reichtums wie beispielsweise Geräte zur korrekten Landvermessung und Kartographie; darunter solche zum Ausmessen von Stollen unter Tage für den erzgebirgischen Silberbergbau, dem frühen Quell sächsischer Prosperität. Und mit den versammelten Weltmodellen lange vor Satellitenbildern und Google Streetview demonstrierte der Landesherr selbstverständlich kosmische Kenntnisse – „deß gantzen himels eigenschafft unnd tugent“. Schließlich war er als Herrscher von Gottes Gnaden zugleich oberster Lehrmeister seines Volkes. (Das fortan als ziemlich schlau galt, oder?) So wurde denn die Sammlung immer wichtiger als Wissenschaftszentrum zum Zwecke höfischer Machtsicherung. Da war es nur folgerichtig, dass Kurfürst August von Sachsen in seinem zunächst als barocke Lust-Architektur erbauten Zwinger anno 1728 ein „Palais des Sciences“ einrichten ließ – mit Sternwarte auf der Terrasse sowie der Installation eines sächsischen Zeitdienstes, nach dem noch bis ins 20. Jahrhundert hinein alle Uhren im Land gestellt wurden.

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1728 gilt fortan als Geburtsjahr einer der ältesten Sammlungen der Welt für Wissenschaftsgeschichte! Jetzt präsentiert sie sich besucherfreundlich kommentiert und prunkvoll wie nie zuvor in aufwändig sanierten, teils neu in den Zwingerwall unterirdisch hinein gebauten Räumen. Eine Fundgrube für Technik-Freaks, Astronomen, Architekten. Eine Augenweide für Schöngeister.

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Wirklich: Ein schöner junger Mann. Hohe Stirn, kantiges Kinn, sinnlicher Mund. Und herausfordernd fragende Augen, aber ein trauriger Blick. Als das Foto entstand, war Erwin Jöris Mitte zwanzig und hatte schon allerhand hinter sich. 1912 geboren im Berliner Proletenbezirk Lichtenberg, erlebte der gelernte Tischler als Schulanfänger die Spartakuskämpfe, den Trauerzug der wütenden Massen für die ermordeten KP-Führer Liebknecht und Luxemburg, die ihm zum Lebensvorbild wurden. Denn das entsetzliche Elend der schwer malochenden, hungernden Proleten, das um ihn war, das konnte nicht gerecht sein, das politisierte schon den Knaben. Alsbald trieb es den jungen Kerl mit dem kritischen Kopf und der hellen Empörung gegen alles Unrecht der Welt ins linke Lager. Erwin wurde Lichtenberger Bezirksjugendleiter der Kommunistischen Jugend, bekam Kontakt mit allen KP-Größen der Reichshauptstadt, organisierte linkes Jugendleben, dazu Streiks, Aufmärsche, kriegerische Straßenkämpfe ‑ die Sargnägel der Weimarer Republik. Mit der NS-Herrschaft kam das KZ, dann die Emigration nach Moskau. Dem Quartier im Komintern-Hotel „Lux“ folgte – nach unbotmäßigem Verhalten – das berüchtigte NKWD-Gefängnis Lubjanka. Dort entstand das besagte Porträt eines schönen jungen Mannes, des Häftlings E. Jöris, Mitte 20.

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Was für Auf-, Aus- und Zusammenbrüche. Doch sie waren nur Auftakt für noch sehr viel Schlimmeres in braunen und roten Diktaturen. 22 Jahre seines Lebens verbrachte Jöris in Gefängnissen und Lagern der Nazis, der Sowjets, der Stasi. 1955 floh er in den Westen. Lebt seither, die kommunistische Hoffnung beiseite geschoben, in Köln. 1995 feierte er seine Rehabilitierung, Anfang Oktober 2013 wird er seinen 101. Geburtstag haben. Was für ein Leben!

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Der Historiker Andreas Petersen machte daraus ein Buch: „Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren“ (Marisverlag Wiesbaden). Und das immer wieder überraschend großartige Berliner Theater 89 machte aus der gedruckten Vorlage eine Szenenfolge. Kiez-, National- und Weltgeschichte verquickt, authentisch lebensprall erzählt über O-Töne, kontrapunktiert mit Liedgut der Zeit sowie retrospektiven Kommentaren des gebrochenen Helden selbst und seiner Zeitgenossen von Luxemburg, Thälmann, Goebbels, Ulbricht, Stalin bis Mielke.

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„Jöris: Deine Schnauze… “ (Teil 1, ein zweiter Teil folgt im Herbst) gehört zum packenden „Projekt Erinnern“ dieser verdienstvollen und ruhmreichen Off-Bühne (Regie: Hans-Joachim Frank, Dramaturgie Jörg Mihan). Und seine große Jöris-Doku wird spannungsvoll ergänzt mit so genannten „Gipfelgesprächen“. Es sind, den Archiven entrissen, theatralisch aufbereitete Auseinandersetzungen zwischen Stalin, Pieck, Grotewohl, Ulbricht in Moskau 1952 sowie zwischen Kohl, Krenz, Gorbatschow im Herbst 1989.

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Schwierige Lebensläufe, tragische Schicksale im Zusammenhang ebensolcher Zeitläufte aus unserer jüngsten Vergangenheit korrekt und künstlerisch signifikant vergegenwärtigt ist eine singuläre Spitzenleistung des kleinen Theaters 89 im Hauptstadtbühnenbetrieb. Jetzt, im Sommer, zieht es damit raus ins Brandenburger Land. Ins Kulturzentrum Niedergörsdorf/Ortsteil Altes Lager, wo nach den kaiserlichen Truppen die der Wehrmacht und später die der Sowjets lagerten. Dort gibt es zwischen dem 23. und 25. August das Jöris-Stück (ab Herbst wieder im Berliner Stammhaus Putlitzstraße), gerahmt von den „Gipfelgesprächen“. Eine Landpartie in den Fläming vor den Toren Berlins als aufregende Reise in jüngste Zeitgeschichte.

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Johnny Depp, Hollywood-Star, kennt jeder. Daniel Depp kennt nicht jeder. Aber jedermann, der mit Hollywood zu tun hat, weiß: Er ist ein großartiger Produzent und Drehbuchschreiber („The Brave“) und, nebenbei bemerkt, der große Bruder von Johnny. Daniel ist also ein mit allen Wassern gewaschener Kenner der Traumfabrik sowie ihren albtraumhaften, oft grauenvollen Zuständen hinter den glamourösen Fassaden. Die liefern ihm das Material, aus denen er, quasi als Nebenprodukt seiner Arbeit als Producer und Script-Chef, hoch spannende Roman-Thriller bastelt. Es sind glänzend geschriebene, pointenstarke, sarkastische und melancholische, bitterböse und zutiefst menschliche Bücher über Gewalt, Gier, grenzenlose Ruhmsucht und ebensolche Liebe.

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Soeben erschien (bei Random House) David Depps neuestes Opus „Tanz mit dem Teufel“, dessen exzessive Story sich abenteuerlich rankt um die so komische wie lebensgefährliche Schnüffeltätigkeit des Hollywood-Privatdetektivs David Spandau. Es geht zu wie bei Quentin Tarantino und Raimond Chandler. Entsetzliche Horrortrips und subtile Seelenerkundung fallen in eins – garniert mit rasierklingenscharf formulierten philosophischen Apercus. Auf jeder der 351 Seiten ein Schrecken und ein Scherz. Zum Beispiel dieser: „Alle Männer werden im Bett zu Kindern. Bei den Frauen ist das anders. Eine Frau wird im Bett zur Mutter.“ – Bis zum nächsten Querbeet.