von Mathias Iven
Spätestens, wenn ein wirklich historisch zu nennendes Ereignis den Zeitenlauf ins Wanken bringt, heißt es wieder einmal, sich seiner eigenen Identität zu versichern. Und so verwundert es auch nicht, dass nach dem Ende des Sozialismus die Frage der „Nationalcharaktere“ erneut auf die Tagesordnung gekommen ist. Nur: Finden wir Deutschen da eigentlich zu einer Antwort, die im nächsten Moment nicht schon wieder verworfen wird?
In seinem neuen Buch benennt Ulrich Sieg, Professor für Neueste Geschichte in Marburg, das eigentliche Problem unseres nationalen Selbstverständnisses. Er konstatiert eine langwährende „Fremdheit gegenüber den eigenen geistesgeschichtlichen Traditionen“, die sich nur durch eine „breite Kontextualisierung ideenhistorischer Phänomene“ aus der Welt schaffen lässt.
Die vor sieben Jahre gegründete Zeitschrift Ideengeschichte war der bisher wohl wichtigste Schritt in Richtung einer breit angelegten Auseinandersetzung mit, wie es die Herausgeber formulieren, „der veränderlichen Natur von Ideen“. Um dieser Wandlungsfähigkeit nachzuspüren, greift Sieg nun fünf Episoden der Jahre zwischen 1871 und 1945 heraus, die ihm – von der Quellenlage her betrachtet – besonders repräsentativ erscheinen. Dass es sich dabei ausschließlich um philosophiehistorisch relevante Geschehnisse handelt, ist in diesem Fall zuvorderst „dem besonderen Stellenwert der Philosophie in Deutschland“ geschuldet.
Am Anfang von Siegs Darstellung steht die Haltung deutscher Philosophen im Reichsgründungsjahrzehnt. In den Jahren nach 1871 profitierten zahlreiche junge Wissenschaftler vom forcierten Ausbau des Hochschulsystems. Allgemein setzte man auf Bildung und Fortschritt. Dass die politische Situation sich demgegenüber anders entwickelte, wurde spätestens nach den Kaiserattentaten von 1878 deutlich. So nutzte Bismarck den Umstand, dass einer der beiden Attentäter promovierter Philosoph war, nicht nur für einen Angriff gegen die Sozialdemokratie, sondern er stellte vor allem deren Bildungsideal in Frage.
Die Umkehr in der Bismarckschen Politik hin zu den Auffassungen der Konservativen zog eine Art „innere Neugründung“ des Kaiserreiches nach sich. Dabei waren es vor allem die zuvor attackierten Philosophen, die dieser Wandlungstendenz eine inhaltliche Richtung geben wollten. Exemplarisch dafür stand der Neukantianer Wilhelm Windelband mit seiner Wertphilosophie. Zwar war das Konzept nicht neu, doch die von Windelband vertretene, durchaus sehr zeitgebundene Weltsicht, sein „Hunger nach Weltanschauung“, harmonierte hervorragend mit dem Interesse des Staates an gesellschaftlichem Konsens. Der von ihm entwickelte „Sinngebungs-Idealismus“ versprach, so fasst es Sieg zusammen, durch seine Fähigkeit zur Definition „absoluter Werte“ vor allem „eine Überwindung des Wertrelativismus und eine gesicherte Stellung der Philosophie als akademische Metadisziplin“.
Der seit 1874 in Jena lehrende und heute fast vergessene Rudolf Eucken erkannte schnell die sich in dieser Situation bietende Chance: Wenn auf einmal Werte zur Grundlage von Weltanschauungen wurden, warum sollte sich ein Philosoph dann nicht der Erörterung von Gegenwartsfragen für die breite Öffentlichkeit stellen? Bereits 1896 hatte er in seiner Schrift „Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt“ die Überzeugung formuliert, dass es der Gesellschaft an einem „gemeinsamen Ideal“ fehle; dem abzuhelfen sei nur durch „eine völlige Erneuerung des Lebens“ möglich. Ungeachtet der Kritik seiner Kollegen, denen die Orientierung am Wissenshorizont der Feuilletonleser und seine semantischen Unschärfen missfielen, fanden Euckens Äußerungen allgemein und nicht nur in Deutschland Anklang – und brachten ihm im Übrigen 1908 den Nobelpreis für Literatur ein. Hinzu kam, dass er sich mit seinem Plädoyer „für die Zuständigkeit der Philosophie in den zentralen Sinnfragen der Zeit“ auf keinen Standpunkt festlegen ließ. Selbst die Geschehnisse des Ersten Weltkrieges, die spätestens seit 1916 auf die „Dämonisierung des ,inneren‘“ Feindes hinausliefen, konnte der die Werte der Goethezeit beschwörende Eucken noch für sich nutzbar machen. Als Teil des von ihm immer wieder aufs Neue kritisierten Kulturbetriebs eignet er sich sogar, so Sieg, „als nicht allzu ferner Spiegel unserer eigenen Zeit“.
Ganz anders sah es in der Weimarer Republik aus. Hier wurde der Streit um den „Gemeinschaftsbegriff“ zu einem zentralen Diskussionspunkt für die Philosophie. Mit Helmuth Plessners 1924 erschienenem Buch „Grenzen der Gemeinschaft“ rückte ein neues Gesellschaftsethos ins Blickfeld, das durch Kategorien wie „Zeremonie und Prestige“, „Diplomatie und Takt“ oder auch „Distanz“ und „Spiele“ bestimmt werden sollte. Plessners Schrift, die die Fragilität des sich vorrangig über Sozialleistungen definierenden Gemeinwesens erkannte, entfachte im Bürgertum eine Diskussion über die Gefahren des „sozialen Radikalismus“.
Dass die wirtschaftliche Katastrophe des Jahres 1929 Plessners „Konsequenzen unkritischer Gemeinschaftsverklärung“ bestätigte, war bereits einige Jahre später in Vergessenheit geraten. Schließlich galt es, der auf schlichten Verallgemeinerungen basierenden „Volkstumsmetaphysik“ des Dritten Reiches eine theoretische Grundlage zu geben. Ordnungsbegriffe wie „Volk“, „Rasse“, „Gemeinschaft“ oder „Nation“ wurden in ihrer metaphernreichen Diktion „zu einer derartigen Selbstverständlichkeit, daß kaum ein Wissenschaftler notwendige Differenzierungen anmahnte“. Die Philosophie wurde für die Nationalsozialisten in diesem Zusammenhang immer unbedeutender, denn, so fasst es Sieg zusammen, „für die Legitimierung einer menschenverachtenden Diktatur war das Beschwören nationaler Werte auf die Dauer ungeeignet“. Zumal wenn die Protagonisten der idealistischen Tradition verhaftet blieben und bei der Betrachtung völkischer Begrifflichkeiten deren historische Dimension gänzlich ausgeblendet wurde.
Warum die sich am Ende der Betrachtung zwangsläufig ergebende und mitnichten als Deutschtümelei misszuverstehende Identitätsfrage „Was ist deutsch?“ unbeantwortet bleibt, erklärt sich wohl am ehesten aus Siegs eigenem „behutsamen Umgang mit Geschichte“, der, wie er selbst sagt, „dem Moment des Ungewissen großen Raum lässt“. Und dennoch: Ulrich Sieg hat auch mit seinem jüngsten Buch einmal mehr den Blick auf „jene historischen Kontexte [geworfen], die aufgrund akademischer Konventionen als uninteressant oder irrelevant gelten“.
Ulrich Sieg: Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Carl Hanser Verlag, Berlin 2013, 315 Seiten, 27,90 Euro.
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