von Dieter B. Herrmann
Als 17-jähriger Oberschüler darf man wohl noch einen gehörigen Schreck bekommen, wenn plötzlich in einer selbst durchgeführten Veranstaltung ein „prominentes“ Gesicht auftaucht. So erging es mir, als ich 1956 in einer Abendführung der Archenhold-Sternwarte eine hochgewachsene Erscheinung im Publikum erspähte, die ich von vehement geführten öffentlichen Diskussionen über die Unendlichkeit des Weltalls mit Robert Havemann kannte. Den Namen des Mannes hingegen wusste ich nicht. Das änderte sich allerdings auf dem dunklen Weg zum S-Bahnhof Treptow, den wir nach der Führung gemeinsam gegangen sind. Meine Respektsperson war Friedrich Herneck, Dozent für das marxistisch-leninistische Grundstudium an der Humboldt-Universität. Dort hatte ich mich gerade für das Fach Physik beworben. „Dann sehen wir uns im Hörsaal wieder“, verabschiedete sich Friedrich Herneck von mir.
Dass ich kaum einen Platz in dem großen Saal bekam, war damals bei „Diamat“ – wie man die Vorlesung in Studentenkreisen abgekürzt nannte – eher ungewöhnlich. Kein Wunder, Herneck sprach faszinierend, hatte offenbar jedes Detail vorbereitet und seine Vorlesung geradezu dramaturgisch inszeniert. Doch er konnte auch inhaltlich mit Ungewöhnlichem aufwarten. Der damals von den Lehrkanzeln verkündeten These, die Erfolge der sowjetischen Naturwissenschaft seien auf die Anwendung des dialektischen Materialismus zurückzuführen, widersprach er energisch. Er hielt dem in seinen Vorlesungen entgegen: „Wenn ohne den dialektischen Materialismus keine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu gewinnen wären, wie sollen wir uns dann die Leistungen von Planck und Einstein erklären?“. 1957 erschien ein Aufsatz von Herneck mit dem Titel „Über eine unveröffentlichte Selbstbiographie Ernst Machs“. Diese Publikation bedeutete den Beginn einer neuen Ära der Mach-Forschung. Herneck mahnte eine differenziertere Betrachtung dieses großen Physikers an, der vor allem durch Lenins Kritik in dessen „Materialismus und Empiriokritizismus“ bei vielen Marxisten als ein für allemal „abgeurteilt“ galt. Doch konnte Herneck nachweisen, dass die Gedanken von Ernst Mach eine herausragende Rolle für Albert Einstein bei dessen Ausarbeitung der Relativitätstheorie gespielt hatten – heute ein Gemeinplatz der Wissenschaftsgeschichte. Andere sahen das aber anders und unterstellten Herneck, er wolle Lenins Kritik an Mach ad absurdum führen. Das alles ging nicht lange gut. Bald las ich in der Universitätszeitung über meinen Dozenten, er befinde sich „auf der Linie unserer Feinde“ und habe den gerade ein Jahr zuvor statt gefundenen XX. Parteitag der KPdSU, der Hoffnungen auf eine neue Offenheit im gesamten sozialistischen Weltsysytem ausgelöst hatte, gründlich missverstanden. Hernecks Absicht, gewachsene ideologische Verkrustungen aufzubrechen, um der weiteren Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu nützen, wurde als „Revisionismus“ gebrandmarkt. In einer mehrseitigen Beurteilung über ihn heißt es unter anderem, dass es ihm an „Klassen- und Parteiverbundenheit mangelte“ und er sich „antisowjetischer Tendenzen“ schuldig gemacht habe. Herneck war in die „Schusslinie“ der Ideologen geraten. Auch sein Freund Havemann, damals noch in hohem Ansehen, vermochte ihm nicht zu helfen. Als Dozent zunächst entlassen, dann aber nur versetzt, bekam Herneck den Auftrag, eine große dreibändige Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum der Humboldt-Universität zu betreuen. Ein Glücksfall, denn dadurch kam er enger als zuvor mit der Geschichte der Naturwissenschaften in Berührung und wechselte gleichsam sein Fach. Dank der lebhaften Unterstützung durch Havemann konnte sich Herneck über „Wilhelm Ostwald und seinen Kampf um ein naturwissenschaftlich begründetes Weltbild“ 1961 habilitieren und wurde schließlich wieder Dozent, diesmal für Geschichte der Naturwissenschaften und 1967 sogar zum Professor an der Humboldt-Universität berufen.
In all den Jahren, während meiner Studienzeit und auch danach, blieb ich mit Herneck in engem Kontakt und promovierte auf seinen Vorschlag bei ihm und dem Astronomen Wempe 1969 mit einer wissenschaftshistorischen Arbeit. Hierbei erwies sich Herneck als ein überaus strenger Doktorvater. Er erwartete höchste Gewissenhaftigkeit beim Studium der Quellen, eine kritische Bewertung von deren Aussagekraft und verlangte mit Nachdruck, die Zusammenhänge zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen und den Prozessen in der Wissenschaft aufzudecken. Stundenlange anstrengende Konsultationen in seiner Berliner Wohnung wurden meist mit dem Satz eingeleitet: „Nimm Platz und vergiss nicht: Auf diesem Sofa hat schon Max von Laue gesessen.“ Tatsächlich hatte Herneck schon seit 1947 in Kontakt zu dem Physiknobelpreisträger gestanden, der ihn mehrfach auch persönlich besucht und sich in dem Parteikonflikt mit Herneck solidarisch verhalten hatte und dadurch sicher eine Art Schutzschirm für den vermeintlich Abtrünnigen darstellte. Als Otto Hahn Herneck 1958 in Berlin mit der Frage begrüßte: „Na, Herr Herneck, raucht der Scheiterhaufen schon?“, konnte der Angesprochene wahrheitsgemäß antworten: „Er raucht nicht mehr“.
Herneck, der fortan Geschichte der Naturwissenschaften an der Humboldt-Uni las, hat die meisten seiner Überlegungen und Erkenntnisse von früher unerschrocken in diese Zeit mit hinüber genommen. Offenbar erschien jetzt vieles weniger provokativ, was wenige Jahre zuvor noch als Ketzerei gegolten hatte. Aus seinen Vorlesungen entwickelte er das Buch „Bahnbrecher des Atomzeitalters“ (1965), in dem er über berühmte Naturforscher von Maxwell bis Heisenberg in fesselnd geschriebenen und wissenschaftlich präzise fundierten Kapiteln berichtete. Das Buch wurde zu einem ungewöhnlichen Erfolg und erlebte sieben Auflagen binnen zehn Jahren!
Mehr und mehr setzte sich die Wertung durch, dass Herneck – gerade durch seine kritische Sicht auf etablierte Dogmen – zu einem Bahnbrecher und Popularisator der Wissenschaftsgeschichte geworden war. Ohne Schwierigkeiten zu überwinden, ist noch kein Wissenschaftler zum Bahn-Brecher geworden! Bis zuletzt beleuchtete Herneck in seinen zahlreichen weiteren Büchern und Publikationen – vor allem über Einstein – zahlreiche Aspekte, die durch historisch-materialistische Ideen nahe gelegt und damals von der westlichen Geschichtsschreibung kaum beachtet wurden. Dass er dabei stets streitbar blieb, versteht sich fast von selbst. Seinem Buch „Abenteuer der Erkenntnis“ (1973) stellte er ein Motto voran, das Alexander von Humboldt bereits 1828 formuliert hatte: „Entschleierung der Wahrheit ist ohne Divergenz der Meinungen nicht denkbar.“
Friedrich Herneck starb am 18. September vor 20 Jahren.
Schlagwörter: Dieter B. Herrmann, Friedrich Herneck, Wissenschaftsgeschichte