von Wulf Lapins, Prishtina
Trotz einer landesweiten Arbeitslosigkeit von weit über 40 Prozent in Kosovo ist die allgemeine Stimmung im Lande nicht von Trübsal geprägt – im Gegenteil, wie flüchtige Besucher aus Mitteleuropa bisweilen leicht konsterniert registrieren. Sobald die Sonne ihre ersten wärmenden Strahlen ab April/Mai ausschickt, sind die unzähligen Straßencafés von morgens bis spätabends gefüllt. Vor allem die Jugend ist dort versammelt. Nun ließe sich, was die Eindrücke flüchtiger Besucher anbetrifft, zu Recht einwenden, dass immer schon südländisches savoir vivre dem mittel- und nordeuropäischen protestantischen Arbeitsethiker sauer aufstieß. Aber nicht leicht von der Hand zu weisen ist der Hinweis, wo mangels unzureichender Studien-, Ausbildungs- und Arbeitsplätze sowie freizeitpädagogischer Einrichtungen denn anders als eben in den Straßencafés sich die jungen Kosovo-Albaner tagsüber aufhalten sollten? Mit ihren allgegenwärtigen smart phones und Laptops gehören sie ganz demonstrativ zur international entgrenzten Generation online. Wen aber dies sowie die lässige Kleidung, die insbesondere von jungen Frauen bei warmen Außentemperaturen zur Schau gestellt wird, zu dem vorschnellen Urteil verführt, dass Jugendliche und junge Erwachsene in Kosovo eine Einstellung wie die Grille in der Fabel von Jean de la Fontaine „Die Grille und die Ameise“ pflegen, der liegt ziemlich falsch. Die jungen Menschen in Kosovo sind, wie eine Jugendstudie ermittelte, mit 87 Prozent ganz überwiegend persönlich zukunftsoptimistisch und – was Werte und Einstellungen anbelangt – in Traditionen verwurzelt, die man wertkonservativ nennen könnte. Der Vater ist für sie, unabhängig von Geschlecht und Wohnort (Stadt/Land), die wesentliche Einflussperson, und die Familie die wichtigste soziale Institution. So ist es auch nicht überraschend, dass 55 Prozent ihre später geplante Familie mit drei oder mehr Kindern sehen. Hinsichtlich der Politik herrscht allerdings ein weit verbreiteter Skeptizismus vor. 64 Prozent sehen sich durch sie nicht repräsentiert.
Über die Hälfte (55 Prozent) der repräsentativ befragten Jugendlichen wollen am liebsten der sozialen und gesellschaftspolitischen Misere durch ein Auslandsstudium oder durch Arbeitssuche im Ausland entfliehen, was nicht selten auch mittels Schleppern auf illegalem Weg und höchst ungewissem Ausgang geschieht. Die Länderwunschliste entspricht in aller Regel den neuen Heimaten der Diaspora in Europa. Die vermittelt leider jedoch immer wieder ein geschöntes Bild von den realen Arbeits- und Lebensumständen in den EU-Ländern und der Schweiz. Jung und tüchtig zu sein reicht eben nicht. Allzu oft sind ja nicht einmal gute Sprachkenntnisse für das ersehnte Zielland vorhanden.
Bereits die erste Hürde, der Grenzübertritt, erweist sich als nur sehr mühsam zu überwinden. Ohne Visum können Kosovo-Albaner bislang nur nach Albanien, Montenegro, Mazedonien, in die Türkei und nach Haiti reisen. Wegen noch ausstehender Gesetze der Regierung für den Grenzschutz, für die Bekämpfung von Menschenhandel und organisierter Kriminalität und wegen fehlender Anpassungen an weitere EU-Vorschriften schauen die Kosovo-Albaner neidisch auf die Visa-Liberalisierung aller anderen Länder in der Region. Die Kosovaren haben zwar den Euro, aber können nicht frei reisen.
Abgesehen von der allgegenwärtigen Jugend fallen dem Wanderer, der nach Prishtina kommt, drei Dinge sofort ins Auge:
1. Nahezu alle Fußgängerwege sind ständig mit Autos zugeparkt.
2. Überall entledigen sich die Einheimischen achtlos Plastikmülls und Unrats jeder Art – eine Reise durch das Land ließe sich geradezu mit „Müll säumte seine Pfade“ überschreiben.
3. Die Bautätigkeit ist rekordverdächtig.
Für den letzteren Aspekt haben Einheimische den Begriff „Betongold“ geprägt. Eigentümer der unzähligen sich im Bau befindenden oder bereits fertig gestellten Wohnungen, vorwiegend in Hochbauten, sind Kosovo-Albaner aus der Diaspora, die sich damit ein Heimat-Standbein schaffen. Oder es sind Personen, die Einkünfte aus dem weit verbreiteten informellen Sektor auf diese Weise nicht mehr nachvollziehbar investieren. Man ist überrascht, wie häufig auch folgende Variante gehandhabt wird: Zum Verwandten- oder engen Freundeskreis des Besitzers eines größeren Grundstücks gehören ein Architekt sowie Baufachleute, Handwerker verschiedener Sparten mit eigenen Betrieben oder aber Zeitgenossen, die benötigte Fachkräfte mit entsprechenden materiellen Ausstattungen kennen. Ein jeder bringt dann seine Arbeit und das Material in den Bau ein. Vorab wird ausgehandelt, wieviele Wohnungen als Eigentum später jeder für seine erbrachte Leistung erhält. Auch der Zuständige im Bauamt wird für die notwendigen Genehmigungen bedacht.
Bekanntlich hat die EU 2003 allen Ländern des Westbalkans prinzipiell eine Beitrittsperspektive eröffnet. Wenn der Kosovo – wahrscheinlich nicht früher als in zehn bis 15 Jahren – als Mitglied aufgenommen werden sollte, würde das einem Staat mit größtenteils muslimischer Bevölkerung die Tür nach Brüssel aufstoßen. Islamophopische Ressentiments ob einer solchen möglichen Perspektive sind allerdings fehl am Platze. Der Islam der Kosovo-Albaner folgt der moderaten hanafitischen Rechtsschule. In einer groß angelegten Befragung charakterisierten sich zwar 91 Prozent der jungen Kosovo-Albaner als Muslime, aber nur 26 Prozent praktizieren auch ihren Glauben. Man ist Muslim, sozusagen qua Geburt, so wie man in Bayern eben Katholik ist. Natürlich, fünfmal am Tag bis zum späten Abend schallen laut und vernehmlich die Aufforderungen zu den Gebeten aus den Lautsprechern der zahlreichen Moscheen in den Städten. Aber die Menschen gehen auch dabei eher gleichgültig ihren jeweiligen weltlichen Tätigkeiten nach. In Prishtina wie in den anderen Städten besuchen vor allem Ältere die Moscheen. Recht gut besucht sind sie eigentlich nur zum traditionellen Freitagsgebet. In welchem Maße die Religionsausübung allerdings im ländlichen Raum verankert ist, kann hier mangels hinreichender persönlicher Erfahrung noch nicht berichtet werden. Dem aufmerksamen Beobachter fällt im städtischen Straßenbild jedoch auf, dass sich im Vergleich zum vergangenen Jahr die Zahl von jungen Frauen mit Djibab (Kopftuch) oder Hijab (weibliche Ganzkörperbedeckung) sowie jungen Männern mit längeren Bärten und langen Hemden ein wenig erhöht hat. Dies ist auf den bislang nur latent zunehmenden Einfluss muslimischer Sekten aus dem arabischen Raum zurückzuführen. Wie aber anfangs dargelegt, unterscheiden sich die jungen Menschen in ihrer Kleidung ganz überwiegend nicht von Altersgenossen in München oder Berlin. Ob das so bleibt, wird nicht zuletzt auch vom weiteren Agieren der EU abhängen.
Wer das zivilgesellschaftliche Entwicklungsniveau in Kosovo mit durchaus berechtigter Kritik belegt, sollte sich aber auch bewusst sein, dass es sich bei der hiesigen Gesellschaft um eine Post-Konflikt-Gesellschaft handelt und die Staatsgründung erst vor fünf Jahren stattfand. Das Referenzbeispiel wäre hierfür die gesellschaftspolitische Lage in der alten Bundesrepublik von 1954 oder die in Ostdeutschland um 1995.
Etliche Verwaltungsstrukturen, darunter die Judikative, sind zwar bereits aufgebaut, aber noch längst nicht effizient, so dass Kosovo zugespitzt als Institutionendemokratie mit strukturellen Defiziten beschrieben werden kann. Zu den weiterhin ungelösten und drängenden Problemen gehören vorrangig versuchte politische Gängelung der Medien, Korruption, Klientilismus und Nepotismus in der öffentlichen Verwaltung.
Hinsichtlich der Pressefreiheit platziert die Organisation Reporter ohne Grenzen deshalb Kosovo 2013 auf Rang 85 von 179 bewerteten Ländern. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International rangiert das Land in diesem Jahr auf Rang 105 von 174. Und Freedom House positioniert gegenwärtig die „political rights“ in Kosovo auf der Wertescala bei Fünf, wobei Sieben „worst“ wäre und die „civil liberties“ auf Vier. Insgesamt wird der „freedom status“ als lediglich „partly free“ eingestuft.
Die wesentlichen Herausforderungen für den weiteren notwendigen zivilgesellschaftlichen Aufbau liegen in der Verbreitung von Wissen und Verstehen der Funktion von Demokratie und in der politischen Mitgestaltung seitens der Öffentlichkeit. Dabei geht es sowohl um Eigenständigkeit wie auch Zusammenwirken von bürgerschaftlichem Engagement und etablierter Politik. So könnte ein kontinuierlich lernendes Kreislaufsystem entstehen, in dem fortlaufend die nachwachsende Generation auf neue Fragen, aber zuweilen auch alte Fragen, Antworten sucht. Und dies nicht nur in Kosovo.
Der erste Teil dieses Beitrages erschien in Ausgabe 15/2013.
Schlagwörter: EU, Jugend, Kosovo, Wulf Lapins