16. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2013

Das andere 1913 – Sommer mit Gewitterwolken

von Erik Baron

Der Autor hatte in seiner Rezension des Buches „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies (Das Blättchen 12/2013, „Die Tücke der Lücke“) gefragt, ob die intellektuelle Avantgarde von 1913 tatsächlich so apolitisch und ahnungslos war, wie bei Illies dargestellt. Er schreibt nun Illies’ Panorama des Jahres 1913 fort. (Anm. d. Red.)

Juni

Nach elf von fünfzehn geplanten Aufführungen wird das von Gerhart Hauptmann geschriebene und von Max Reinhardt inszenierte Festspiel für die Breslauer Jahrhundertfeier anlässlich der Befreiungskriege von 1813 auf Drängen des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Hohenzollern abgesetzt und verboten. Nach Auffassung des Auftraggebers hat der Nobelpreisträger den eingeforderten Patriotismus nicht in ausreichendem Maße geliefert. Das Verbot stürzt Teile der intellektuellen Boheme in eine Zwickmühle. Erich Mühsam bringt diesen Zwiespalt auf den Punkt: „Was haben die Hüter des deutschen Ansehens erreicht? Daß wir, die wir das Festspiel als absolut mißglückt aufs entschiedenste ablehnen müssen, nun gezwungen sind, trotzdem mit allem Nachdruck Hauptmanns Partei zu nehmen. Es muß jenen patriotischen Pfaffen und Schlotbaronen auf das vernehmlichste ins Gesicht gesagt werden: Es kommt euch nicht zu, dies Stück schlecht zu finden. Das ist unser Vorrecht, die wir etwas von Kunst und Literatur verstehen“, schreibt Mühsam in der Juli-Ausgabe des Kain. Und er wirft dem Nobelpreisträger vor, sich unbedarft vor den politischen und patriotischen Karren hat spannen lassen: „Es ist höchst betrübend, daß sich ein Mann vom Range Gerhart Hauptmanns bereit fand, zu dem künstlichen Rummel bengalisches Feuerwerk zu machen. Er hätte überlegen sollen, wie sich vor hundert Jahren die deutschen Dichter verhielten… Hauptmann hätte bedenken sollen, wie er überhaupt zu dem Auftrag kommen konnte, das gewünschte Festspiel für die Breslauer Jahrhundertfeier zu verfassen. Was verbindet ihn denn mit denen, die ihm den Auftrag erteilten?… Gerhart Hauptmann bedachte nichts, wußte nichts und gestand sich nichts ein. Er schrieb das Festspiel und belastete sein gutes Dichterwerk mit einem unverzeihlich schlechten Elaborat.“ Und auch Siegfried Jacobsohn kommentiert in der „Schaubühne“ die Qualität des Festspiels: „Als ich das Stück gelesen hatte, blieb ich in Berlin. Der Ohnmacht reist man nicht nach… Hauptmanns Festspiel hat so viel Kunstwert wie der Einzug des Königs von Dänemark: es ist leeres Schaugepränge.“ Demzufolge hält sich auch sein Protest ob der Absetzung in Grenzen: das Stück sei so schlecht, daß ein Aufschrei sich nicht lohne. Wenn man aber das System treffen wolle, so sei es nur „durch Organisation, Arbeitersyndikate und strikte Opposition umzublasen“, nicht durch das „Geschrei meditierender Intellektueller“.
Ein schwarzer Tage für den Frieden, ein schwarzer Tag für die Sozialdemokratie, denkt Rosa Luxemburg: am 30. Juni stimmt die sozialdemokratische Reichstagsfraktion dem einmaligen Wehrbeitrag und dem Vermögenszuwachssteuergesetz zu. Die zuvor von der Fraktion abgelehnte Heereserweiterung soll also aus einer Vermögensabgabe finanziert werden. Mit diesem Taschenspielertrick wurde die Sozialdemokratie geködert. Für Rosa Luxemburg ist klar: sollte ein Krieg ausbrechen, würden nun folgerichtig auch Kriegskredite bewilligt werden. Die Vorkriegsatmosphäre ist zum Greifen spürbar. „Nie war ein großer europäischer Krieg der Sache nach so wahrscheinlich wie in den letzten Jahren vor 1914“, erinnert sich später Golo Mann an diese Zeit. „Die Leute wußten das auch. Jeder Bürger konnte es wissen. Trotzdem glaubten sie nicht ernsthaft daran. Der Krieg war nahe für ihren Verstand, wenn sie diesen zu gebrauchen wünschten; er war nicht nahe für ihre Vorstellungskraft.“
Je näher die Sommerausstellung der Berliner Secession rückt, desto mehr eskaliert der Streit um die Auswahl der Bilder. Käthe Kollwitz ist befremdet. Doch sie schwankt zwischen den Ansichten der Betroffenen hin und her. Nur ihrem Tagebuch vertraut sie sich jetzt an: „Liebermann ist, wie ich sehe, von Moment zu Moment bestimmbar, unberechenbar heftig und willkürlich. Cassirer ist mir unklar. Charakter hat er wohl nur in Bilder-Beurteilung. Ich halte ihn für rachsüchtig, etwas verlogen, geschwollen, sobald es auf das Moralische ankommt. Slevogt habe ich nichts tun sehen, was ich verurteilen muß, doch traue ich ihm nicht. Gaul weiß ich nicht. Baluschek, ehrlich, aber leidenschaftlich beschränkt. Die andern alle neigend, den Mantel nach dem Winde zu hängen. Wäre noch Barlach. Von ihm habe ich den Eindruck eines für sich bestehenden rauhbeinigen Mannes.“ Noch im Sommer bricht die Berliner Secession auseinander.
Ja, was eigentlich macht Ernst Barlach? Seitdem er sich endgültig mit Mutter und Sohn nach Güstrow in sein Schneckenhaus an den Inselsee zurückgezogen hat, macht er sich rar. Keine Briefe. Nur Schweigen. Sein Drama „Der tote Tag“, das er vergangenes Jahr mit 17 Lithographien im Cassirer Verlag herausgegeben hat, ist fast schon sein letztes öffentliches Lebenszeichen gewesen. Er soll an einem neuen Roman arbeiten, heißt es. Der Held, wen wundert es, ein Wurzelloser, ein Desorientierter ohne Halt. Ein Verwandter von Rilkes Malte, heißt es, ein Halbbruder von Kafkas Josef K., ein armer Vetter Ulrichs aus Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Also stören wir ihn nicht, soll er schreiben…

Juli

Ende des Monats öffnen sich die Tore der Nervenheilanstalt Tannenfeld in Thüringen. 18 Monate lang hat der zwanzigjährige Rudolf Ditzen hier verbracht. Dr. Tecklenburg, der Leiter der Anstalt, sieht die Zeit für gekommen, „Ditzen dem sozialen Leben wiederzugeben und ihn vielleicht doch noch zu einem nützlichen Gliede der menschlichen Gesellschaft zu machen“. Fast zwei Jahre ist es mittlerweile her, als der Gymnasiast Rudolf Ditzen mit seinem besten Freund Hanns Dietrich von Neckar den wahnwitzigen Plan eines als Duell getarnten Doppelselbstmordes umgesetzt haben, infolge dessen von Necker tödlich und Ditzen lebensgefährlich verletzt wurden. Beide hatten zuvor Nietzsches „Zarathustra“ gelesen und wollten der unerträglichen Alltäglichkeit ihres Daseins ein Ende bereiten. Der überlebende Ditzen wurde unmittelbar nach der Tat verhaftet und zunächst wegen Mordes angeklagt. Doch ein psychiatrisches Gutachten bescheinigte ihm Schuldunfähigkeit wegen „einer Gemütsdepression mit ausgesprochenen Zwangsvorstellungen“. Und auch zuvor war der junge Ditzen bereits auffällig geworden und in psychiartischer Behandlung gewesen. Im Jahr 1909 hatte der Hausarzt Dr. Eggebrecht dem damals 16Jährigen ein geradezu vernichtendes Attest ausgestellt: Der Junge macht den Eindruck eines schwer hysterischen Menschen, der in seiner Zurechnungsfähigkeit erheblich vermindert erscheint.“ Doch nun, Ende Juli, gilt Rudolf Ditzen, der sich später Hans Fallada nennen wird, als geheilt.
Stefan Zweig schwitzt in Wien über seinem Dostojewski-Essay, der ihm jetzt, kurz vor Vollendung, alles abverlangt. Längst hat ihn das Fieber Dostojewskis selbst erfasst, fühlt er sich gleichsam von dessen Leidenschaft und Mission angesteckt. Zwei fiebernde Seelen des Weltgewissens, die sich 1881, dem Todesjahr Dostojewskis und dem Geburtsjahr Zweigs, den geistigen Staffelstab übergeben haben. Hat Dostojewski, indem er in die Tiefe der menschlichen Seele vorgedrungen ist wie kein zweiter vor ihm, nicht auch das Tor geöffnet zum Verständnis globaler Zusammenhänge, die weltweit zu neuerlichen Patriotismen und Nationalismen führen? Hat Dostojewski mit seiner missionarischen Religiosität nicht auch den Weg geebnet vom Ich-Gefühl zum Welt-Gefühl? Hat Dostojewski, der Grenzüberschreiter, nicht einen Brückenkopf zwischen Russland und Europa geschlagen? „Man versteht Rußland nicht mit der Vernunft, sondern mit dem Glauben“, zitiert Zweig Dostojewski und: „Wir werden die ersten sein, die der Welt verkünden, daß wir nicht durch Unterdrückung der Persönlichkeit und fremder Nationalitäten das eigene Gedeihen erreichen wollen“. Für Stefan Zweig besteht kein Zweifel: Mit seinem Dostojewski-Essay will er ein Zeichen setzen in unruhigen Zeiten.
Auch Helmut Herzfeld, liebevoll Muti genannt, zieht es von München nach Berlin. Nachdem er 1911 das Studium an der Kunstgewerbeschule  in München beendet und sich eine Zeit lang als Gebrauchsgrafiker sein Geld verdient hatte, will der 22-jährige zurück in seine Geburtsstadt Berlin, ins pulsierende Leben der Reichshauptstadt, die sich immer mehr auch als Kunstmetropole einen Namen machte. Hier sieht er auch mehr ein Betätigungsfeld für politisch radikale Kunst. Hier kann er Anschluss an die Künstlerkreise um die Zeitschriften „Sturm“ und „Die Aktion“ suchen. So reist Muti allein nach Berlin, die Lage zu sondieren, damit auch sein fünf Jahre jüngerer Bruder Wieland schnellstmöglich nachkommen kann. Denn trotz des Altersunterschiedes halten die beiden Brüder wie Pech und Schwefel zusammen. Es gibt nichts, was sie sich nicht anvertraut hätten. Helmut, immer der Gutgläubige und Schüchterne, der Schwärmer, gibt viel auf die Meinung seines jüngeren Bruders, der viel fester und forscher mit beiden Beinen im Leben zu stehen scheint. Doch in einer entscheidenden Frage, vor Jahren in München noch, hatte Helmut seinen Willen durchgesetzt. Wieland riet seinem Bruder damals inständig ab, Malerei zu studieren, es gäbe doch an jeder Ecke Fotografen. – Nicht auf Ähnlichkeit komme es an, sondern auf die Kunst. Und Talent habe er, erwiderte Helmut, der sich ab 1916 offiziell John Heartfield nennen wird – eine Protestaktion gegen den zunehmenden Deutschnationalismus.

August

Rudolf Ditzen, der spätere Hans Fallada, tritt nach der Entlassung aus der Nervenheilanstalt Tannenfeld am 1. August eine Landwirtschaftslehre im nahegelegenen Rittergut Postersein in Thüringen an. Sollte aus dem extrovertierten jungen Mann tatsächlich noch ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden? Von offizieller Seite wird dies angezweifelt. Rudolf Ditzen gilt weiterhin als gefährlich. Es wird eine „unauffällige polizeiliche Überwachung“ des Eleven erwogen. Doch Ditzen bekommt von Überwachungserwägungen hinter den Kulissen der Macht nichts mit. Ihm schlägt jedoch regelmäßig offen zur Schau getragene Feindschaft entgegen. Der Pastor der Kirchengemeinde Postersein verweigert Rudolf Ditzen das Abendmahl, weil „Blut an seinen Händen klebe“.
Nachdem die zwölf Gedichte des „Schwarzen Revier“ neuverlegt worden sind, hat Paul Zech mit dem Leipziger „Verlag der Weißen Blätter“ endlich auch einen Verleger gefunden, der sein Gedichtbuch „Die eiserne Brücke“ herausgeben will – Gedichte „als mit der Axt geschrieben, so hart sind sie“, äußert sich Else Laske-Schüler später über Zechs Stilisierung der Sprache. Dieser kleine Leipziger Verlag wird auch seinen Novellenband „Der schwarze Baal“ verlegen. Jetzt aber hat er soviel Ruhe, dass er endlich zum Drama kommen kann. Vom Journalismus jedoch wird er sich unter allen Umständen zurückziehen. „Die Kraft die man dafür aufwendet, ist weggeworfen.“
Am 13. August stirbt August Bebel in Passugg in der Schweiz. Friedrich Ebert wird sein Nachfolger als Parteivorsitzender der SPD.
„Ich mag uns alle gern“, denkt Kurt Tucholsky augenzwinkernd über sich selbst. Mehrfach aufgespalten, sieht er sich und seine Pseudonyme, seine homunculi, gleichberechtigt nebeneinander agieren. Was als Spielerei begann, um die Schaubühne nicht zu sehr mit Tucholsky zu überfrachten, beginnt sich allmählich als heitere Schizophrenie zu manifestieren. Aber hin und wieder muss er sich auch als Kurt Tucholsky zurückmelden – so Ende August, als er in der Schaubühne darüber sinniert, was geschehen würde, wenn Ibsen wiederkäme. Vermutlich nichts, denkt er. Ibsen der Zweite wäre wohl ein lebender Leichnam, der nicht aufgeführt würde. Er stellt sich vor, ein Stück wie „Nora“, etwas zeitgemäßer zwar, käme 1913 über uns. Was würden die „Leute“ sagen? „Pfeifen würden sie… Und es bliebe nicht beim Pfeifen. Sie würden ihn heruntertrampeln, sie würden nicht ruhen, bis sie ihn totgemacht hätten, bis er sich nicht mehr rührte. Oder sollten sie nicht einmal dazu die Kraft haben?“ Wie ödet ihn diese Selbstzufriedenheit des Berliner Bürgertums an, das die Theater okkupiert hat. Industrie und Kapital, die frech von sich behaupten, Mäzen für die Kultur zu sein, haben sich in Wirklichkeit der Köpfe bedient und sie mit der Ideologie des Mammons verseucht! „Wir sind schlimmer als Amerika: sie beten den Dollar an – wir den Mann, der ihn hat.“ Das musste einmal gesagt und geschrieben werden! Und keine Angst: Ibsen ist vor sieben Jahren gestorben und wird nie mehr auferstehen!
Stefan Zweig ist beglückt. Es ist ihm gelungen, im Wiener Volkstheater Romain Rollands neues Drama „Die Wölfe“ anzubringen. Es soll in der kommenden Saison inszeniert werden, schreibt er seinem französischen Freund. Und als weiteres Zeichen seiner Verbundenheit fragt Zweig bei Rolland an, ob er ihm erlaube, den geplanten Essayband über die drei Meister Balzac, Dickens und Dostojewski, der kurz vor der Fertigstellung ist, Rolland widmen zu dürfen. Natürlich hat Rolland nichts dagegen, fühlt sich, im Gegenteil, geschmeichelt. Seitdem steht folgende Widmung wie in Stein gemeißelt: „Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren“.