von Peter Liebers
„Angenehme Thermen, grüne Wälder und hervorragende Brauereien, ich fühle mich fast wie im Urlaub“, so beschreibt Frank Castorf seine ersten Eindrücke nach der Ankunft im fränkischen Bayreuth. Wie anders sollte er auch gegenhalten, nachdem die Medienwelt die Entscheidung der Festspielleitung, der Volksbühnenchef werde den „Ring des Nibelungen“ ausgerechnet im Wagner-Jubiläumsjahr inszenieren, das Desaster auf dem Grünen Hügel mit Häme nach beiden Seiten hin prophezeite? Aber nach diesem kaum der angeheizten Situation angemessenen Ablenkungsmanöver legte der bisher im Opernbereich nicht eben ausgewiesene Regisseur seinem „OST“-Signet auf dem Dach seines Theaters am Berliner Luxemburgplatz gemäß nach und kokettierte mit seiner ostdeutschen Herkunft.
Gemeinsam mit der Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki aus Rio de Janeiro, dem serbischen Bühnenbildner Aleksandar Denić und dem russischen Dirigenten Kirill Petrenko seien „Außenseiter“ in einem Inszenierungsteam vereint worden, betonte Castorf den durch ihn und sein Team den Bayreuther Festspielen 2013 beigebrachten exotischen Charakter.
Dabei hatte die brasilianische Ausstattungskünstlerin diesen von ihm entfachten Trommelwirbel gar nicht nötig. Adriana Braga Peretzki studierte an der Hochschule für Angewandte Künste in Hamburg Kostümdesign, begann am Thalia Theater der Hansestadt ihren Weg, verdiente sich an der Berliner Volksbühne ihre Sporen. Seit 2009 arbeitet Braga Peretzki kontinuierlich mit Castorf zusammen. 2012 schuf sie die Kostüme für dessen Inszenierungen „Die Kameliendame“ am Théatre de l’Odeon in Paris und Franz Kafkas „Amerika“ am Schauspielhaus Zürich.
Der freie Umgang Castorfs mit den Klassikern wie zuletzt 2013 mit Anton Tschechows „Das Duell“ an der Berliner Volksbühne macht plausibel, warum er die Brasilianerin als Mitarbeiterin ins Bayreuther Festspielhaus eingeladen hat. Wer sonst hätte sich in der Geschichte der „Ring“-Inszenierungen auf dem Grünen Hügel dieses spektakulärste und mit Sicherheit handwerklich schwerste Werk zumuten wollen?
Gleichfalls erprobt in gemeinsamer Arbeit ist Aleksandar Denić, der äußerst fantasievolle und kunstreiche Bühnenbilder entworfen hat, und damit Castorfs Sicht auf Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ überaus sinnfällig erscheinen lässt. Und es ist durchaus möglich, dass diese Inszenierung mit Denićs Namen in die Festspielannalen eingehen wird, auch wenn er mit seiner Bildgewalt nicht immer Rücksicht auf die akustischen Besonderheiten des Festspielhauses und die Sichtmöglichkeiten des Publikums nimmt. Der 1963 in Belgrad geborene Bühnenbildner ist seit zwei Jahren Mitglied des Nationalen Kulturrates von Serbien. Mit Castorf verbindet auch ihn die Zusammenarbeit an der Pariser „Kameliendame“, „Amerika“ in Zürich und „Das Duell“ in Berlin.
Ein Grund zur Irritation in Vorbereitung auf die traditionsreichen und von Anfang an von König Ludwig II. von Bayern und bis heute durch die Aufmerksamkeit der Bundeskanzlerin Angela Merkel wertgeschätzten Festspiele war, dass sich Frank Castorf im Vorfeld seiner „Ring“-Inszenierung als „alles andere als einen lupenreinen Demokraten“ bezeichnete. Es ist also nur konsequent, dass sich die Protagonisten seiner „Ring“-Inszenierung „aufmachen, die Welt zu verändern“, sich von Traditionen verabschieden und auf Zeitreise begeben. Sie folgen ihren Illusionen, denn die Gegenwart ist ihnen zu fad geworden.
Es gilt die zentrale Frage zu beantworten: Was ist heute unser Gold? Für Castorf ist es das Öl. „Ohne Öl funktioniert gar nichts!“ Und so beginnt sein „Ring“ an einer Tankstelle – nicht irgendwo, sondern an der legendären Route 66 in den USA. Vom ersten Abend der Tetralogie Wagners, dem „Rheingold“, wird das für das Publikum (womit nicht nur die ihrem Musikgott ergebenen Wagnerianer aus aller Welt gemeint sind) eine optische Zumutung, die die musikalische Wahrnehmung aus dem „mystischen Graben“ beeinträchtigt.
Die von Castorf ins Festspielhaus übertragenen, kräftigen Bordellszenen sind gleich auf mehreren Leinwänden zu sehen. An einem gewaltigen Wasserbecken grillen die herausgeputzten und in grelle Gewänder gekleideten Rheintöchter Bratwürste und ringen mit dem listigen Alberich in den Fluten um den in ihre Obhut gegebenen Goldschatz. Kein Detail soll dem Publikum verborgen bleiben, weshalb Castorf auf sein Prinzip der Liveübertragung per Videokamera setzt. Dabei gehen einem von dieser Bilderflut die Augen über.
„Ich habe mich zurück erinnert an die Zeit, als ich als junger DDR-Bürger von der amerikanischen Freiheit geträumt habe“, erklärt Castorf das Zustandekommen seines Konzeptes. Und damit diese Idee eine weltumspannende wird, werden Aserbaidschan, ein Mix aus Wallstreet und Alexanderplatz sowie Mount Rushmore zu weiteren Schauplätzen des „Ring“-Zyklus. Statt vier monumentaler Reliefs amerikanischer Präsidenten sieht man allerdings Marx, Lenin, Stalin und Mao in den Fels gehauen.
Für Castorf ist Wagners Musik „sehr modern“, weshalb Hollywood-Regisseure immer wieder gerne auf Leitmotive aus Wagners Opern zurückgreifen würden. Seine Bemerkung, Musik und Bilder schafften „unvergessliche Eindrücke“ blieb im Premierenjahr mehr Behauptung als sie der im Opernfach unerfahrene Regisseur einlösen konnte. Ein Fakt, der Wagners Idee von der „Werkstatt Bayreuth“ für die nächsten fünf Jahre aktuelle Bedeutung gibt. Ob Castorf dabei ein neuer „Jahrhundertring“ gelingen wird ist nicht die Frage. Viel erreicht wäre schon, wenn 2014 die Entrüstungsstürme des konservativen Flügels der Wagnerianer weniger heftig durchs Festspielhaus schallten. Eines dürfte gewiss sein, der Engpass an Trillerpfeifen im Umland Bayreuths wird sich nicht wiederholen, haben sich doch alle Traditionalisten jetzt damit eingedeckt.
Dass auf dem Grünen Hügel nicht nur Wagner gehuldigt und Tradition bewahrt wird, ist auch von den Kritikern der Festspielleitung nicht zu leugnen. Das Wagnis, „Tristan und Isolde“ in einer Fassung für Kinder herauszubringen, ging wie schon mit den „Meistersingern“, dem „Ring“ oder „Tannhäuser“ nicht nur auf, sondern wurde von Publikum und Kritik umjubelt. Dazu war es Katharina Wagner gelungen, den schwedischen Opernstar Iréne Theorin für diese auf neunzig Minuten gekürzte Inszenierung zu gewinnen.
Die im zweiten Jahr angebotenen Einführungsvorträge in das Werk Wagners sind ausgebucht und der Versuch, die vom Hügel verbannten Frühwerke „Die Feen“, „Das Liebesverbot“ und „Rienzi“ endlich auch in Bayreuth aufzuführen, hat sich aufs Schönste eingelöst. Nicht im Festspielhaus, das nach Wagners Willen einem Kanon von zehn seiner Opern vom „Fliegenden Holländer“ bis zu „Parsifal“ vorbehalten bleibt. Die Oberfrankenhalle war ein großes Zugeständnis der beteiligten Künstler, zu denen auch der Dirigent Christian Thielemann gehörte. Aber diese wohl dem 200. Geburtstag Wagners geschuldete Kompromissbereitschaft hat sich ausgezahlt.
Unstrittig bleibt, dass die Stadt und das Land Bayern nicht die glücklichste Entscheidung getroffen haben, im Jubiläumsjahr und bis 2017 das Haus Wahnfried und den stillen Ort der Begräbnisstätte Richard und Cosima Wagners in eine riesige, kaum begehbare Baustelle zu verwandeln. Eine Enttäuschung für alle Besucher aus nah und fern, die dem Meister hier ihre Reverenz erweisen möchten. Originell bleibt die Idee des „Walk of Wagner“, eines Komponistenweges, der Bürger, Gäste und Wagnerianer auf den Spuren Richard Wagners wandeln lässt und dem „Walk of Fame“ in Hollywood nachempfunden wurde, wie die Bayreuther Marketing & Tourismus GmbH vollmundig verkündet.
Dabei wird man auf Sehenswürdigkeiten aufmerksam, die mit dem Leben und Wirken Wagners in Verbindung stehen. Sei es die Restauration Angermann, das Haus Meysenburg oder seine erste Wohnung in Bayreuth. Dem Thema „Lebensstationen Richard Wagners“ soll 2014 die Präsentation prominenter Festspieldirigenten folgen. Weniger geglückt ist das Heer der Wagner-Zwerge, die gegen den Willen der Festspielleiterinnen im Stadtbild auftauchen. Aber auch das ist wie so vieles an und um Wagner Geschmackssache, denn die schrill-bunten Gesellen haben durchaus ihre Liebhaber gefunden, zumal etliche verschwunden sind.
Mit den Jahren hat sich auf dem Festspielhügel mehr verändert als die Öffentlichkeit wahrnehmen möchte. Neben den selbstbewussten Wagnerianern finden sich mehr und mehr den Komponisten spät entdeckende Gäste, die sich trotz aller Bewegtheit der Festspielgeschichte das Werk Wagners respektvoll erschließen und von der besonderen Atmosphäre in diesem vom Komponisten selbst konzipierten Theaterbau überwältigt sind.
Auch wenn sich die Festspiele seit dem Tod des Wagner-Enkels Wolfgang spürbar geöffnet haben und dem Trend folgen, Aufführungen digital in Kinos oder im Fernsehen zu übertragen, bleiben der Pilgerweg auf den Grünen Hügel und das authentische Musikerlebnis in dem hoch über der Stadt gelegenen Gebäude mit seinem mystischen Orchestergraben auf wunderbare Weise unersetzlich.
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