von Peter Petras
Revolutionen kommen immer so plötzlich. Erst hat sie niemand kommen sehen wollen, und danach meinen alle, sie hätten es schon immer gewusst. Allerdings wissen die Beobachter oft Unterschiedliches. So hat die Zeitung neues deutschland einerseits den Linken-Politiker Stefan Liebich zitiert, der meinte: „bei allem, was in Ägypten unter Mursi falsch lief: Ein Militärputsch ist die falsche Antwort“, und andererseits die Linken-Politikerin Sabine Leidig, die betonte, „nicht das Militär hat Mursi gestürzt, sondern Millionen Menschen auf den Straßen“, die friedlich demonstrierten. Beide gleichzeitig werden kaum Recht haben. Die Differenz zwischen den beiden Positionen ist: Einerseits die Verabsolutierung der Rolle und Bedeutung des Wahlzettels, andererseits die Verhimmelung der realen Bewegung der Menschen auf der Straße. Zugestanden werden muss aber wohl, dass etwas falsch gelaufen war mit der „Revolution“.
Am 3. Juli ist Mohammed Mursi, der Präsident Ägyptens, der den Muslimbrüdern angehört, aus dem Amt gejagt worden. Zunächst hatten immer wieder Hunderttausende, ja Millionen Menschen gegen ihn demonstriert. Dann stellte ihm die Militärführung ein Ultimatum, er solle einen Kompromiss herstellen, der die Kritiker einschließe. Dazu war er im Kern der Sache nicht bereit; er bestand auf seiner Legitimation durch den Wahlzettel. So sorgte das Militär für seine Amtsenthebung, übernahm aber nicht selbst die Regierung, sondern setzte den Obersten Richter, Adli Mansur, ein; er übernahm interimistisch das Amt des Staatspräsidenten. Der im Westen hochgelobte Mohammed el-Baradei wurde Vizepräsident und der Finanzexperte Hasim al-Beblawi Regierungschef, alles Zivilisten. Dennoch fanden auch weiterhin Demonstrationen der Muslimbrüder für Mursi und gegen seine Amtsenthebung statt. Die Auseinandersetzungen halten an. Sind die Muslimbrüder die berufenen Aneigner des „Arabischen Frühlings“ in Ägypten?
Die Vorgeschichte ist ziemlich verworren. Am Anfang stehen islamistische Reformer, die vor allem in Britisch-Indien, Ägypten und Iran eine Rolle spielten – also gerade dort, wo nicht die rückständigsten islamischen Richtungen und Gemeinschaften ihren Ort hatten und wo der westliche Kolonialismus massiv Fuß gefasst und begonnen hatte, die Gesellschaften zu modernisieren. Dschamal ad-Din al-Afghani (1838-1897) war Reformtheologe und ein Begründer des Antikolonialismus, ein Modernisierer, der den Panislamismus forderte und zugleich die Rückbesinnung auf den wahren, unverfälschten Islam. Er stammte aus dem Iran und hatte die Welt von Indien bis Frankreich bereist. Ernest Renan (1823-1892) – er hielt am 11. März 1882 an der Sorbonne zu Paris eine programmatische Rede zu der Fragestellung „Was ist eine Nation?“ und definierte diese als „alltägliches Plebiszit“– veröffentlichte 1883 in Paris einen Text über „Islam und Wissenschaft“, in dem er behauptete, Wissenschaft und Philosophie hätten ausschließlich nicht-arabische Quellen. Al-Afghani antwortete ihm wenige Wochen später in derselben Zeitschrift und beurteilte Renans Sichtweise als rassistisch; Wissenschaft und Philosophie entwickelten sich überall. Die Muslime bräuchten die moderne Wissenschaft, die sie vom Westen übernähmen. Aber eine koloniale Gesellschaft sei nicht durch bloße Imitation zu modernisieren.
In diesem Sinne forderten die islamischen Intellektuellen in Indien ein eigenes Heimatland für die Muslime – was dann Pakistan wurde. In Ägypten gründete Hasan al-Banna (1906-1949), der unter dem Einfluss von al-Afghani stand, 1928 die Muslimbrüderschaft – in ausdrücklicher Entgegensetzung zu Forderungen von Arbeiterorganisationen – und forderte: Die Muslime sollten nicht andere Völker nachäffen, sich der Gewalt enthalten und sich in einer großen Wohlfahrtsorganisation engagieren. Zu beiden Fällen, Indien wie Ägypten, gab es von Seiten fortschrittlicher Beobachter die Vermutung, dass die islamistischen Organisationen nicht ohne Zutun des britischen Geheimdienstes gegründet wurden, um die antikoloniale Bewegung zu spalten.
Nach der Niederlage der arabischen Armeen und der Gründung des Staates Israel 1948 erklärte al-Banna, Wohlfahrt reiche nicht, und rief zur Schaffung eigener militärischer Einheiten auf, die in Palästina kämpfen sollten. Ende Dezember 1948 wurde die Organisation der Muslimbrüder von der ägyptischen Monarchie verboten und massiv unterdrückt, 1951 jedoch wieder zugelassen. Als junge Offiziere unter Gamal Abdel Nasser 1952 den König stürzten, erhielten sie die Unterstützung der Muslimbrüder. Nach einem Anschlag auf Nasser 1954 aber wurden die Muslimbrüder erneut verboten und brutal verfolgt, tausende ins Gefängnis geworfen und ihr Vordenker Sayyid Qutb (geboren 1906) 1966 hingerichtet. Er hatte in seinen Gefängnis-Schriften einen Schwenk zur Radikalisierung vollzogen.
Mit der Niederlage im Sechs-Tage-Krieg gegen Israel 1967 hatte nicht nur der Staat Ägypten einen deutlichen Rückschlag erlitten, sondern auch die Idee des säkularen, nationalistischen Staates generell. Nach dem Tod Nassers 1970 wurde Anwar as-Sadat neuer ägyptischer Präsident. Auf politische Proteste der Jugend und vor allem Studenten reagierte er mit Kompromissen gegenüber den Muslimbrüdern. Sie wurden offiziell zwar nicht wieder zugelassen, der Großteil ihrer Mitglieder wurde jedoch aus den Gefängnissen entlassen, und sie konnten in vielen Bereichen der Gesellschaft, darunter auch an Universitäten und Hochschulen, praktisch wirken – und damit zusätzlich Anhänger rekrutieren. Im Umfeld der Ermordung Sadats 1981 fanden wieder Repressionen statt, am Ende waren jedoch nicht die Muslimbrüder, sondern war eine sektiererische islamistische Gruppe für den Mord verantwortlich. Präsident Hosni Mubarak, der Sadat nachfolgte, lockerte die Bedingungen für die Muslimbrüder weiter. Über Wahlallianzen und gemäß Absprachen mit dem Mubarak-Regime waren sie all die Jahre bis 2011 im Parlament vertreten und in der Öffentlichkeit präsent, konnten ihre Aktivitäten entfalten.
Nach dem Sturz Mubaraks im Gefolge der ersten großen Proteste auf dem Kairoer Tahrir-Platz hatten die Muslimbrüder einerseits den Nimbus, jahrzehntelang verfolgt worden zu sein, andererseits kannte man sie. Das war bei den Wahlen von Vorteil, ebenso wie die Tatsache, über eine landesweite Organisation, Geld und eine große, mobilisierungsfähige Anhängerschaft zu verfügen. Das war die Basis für die Wahl Mursis.
Am Ende jedoch spielten zwei Themen eine wesentliche Rolle: Die wirtschaftliche Lage des Landes verschlechterte sich seit der „ersten“ Revolution weiter, und die Mursi-Regierung tat nichts dagegen. Und zweitens war in den Auseinandersetzungen um die Besetzung von Posten in Regierung, Verwaltung und Medien und vor allem in den Kämpfen um die Verfassung klar geworden, dass die Muslimbrüder tatsächlich das islamische Recht zur Grundlage nicht nur des Staates, sondern auch des gesellschaftlichen Zusammenlebens machen wollten. Wo aber das Wort Gottes waltet, findet die Demokratie als Kompromiss zwischen unterschiedlichen Positionen und Interessen nicht mehr statt: Wenn das Wort von Gott kommt, dürfen es die Menschen mit ihren wechselnden Mehrheitsverhältnissen nicht mehr zur Disposition stellen.
Mursi war demokratisch gewählt, aber der urbane, gebildete und durchaus auch säkulare Teil der Gesellschaft gewann den Eindruck, dass er durch den anderen, ländlichen, ungebildeteren, islamistisch geprägten dominiert werden würde. Es war Zeit, wieder auf die Straße zu gehen. Das war nicht die Revolution, für die so viele zuvor demonstriert hatten.
Dabei war nun aber das Paradoxe, dass Saudi-Arabien und Katar gleich nach Mursis Sturz zugesagt hatten, die neue Regierung mit viel Geld stabilisieren zu helfen. Aus ihrer Sicht waren die Muslimbrüder nicht islamistisch genug, sie erhoffen sich vielmehr eine Stärkung der Salafisten, die unter vergleichender Perspektive noch orthodoxer sind, als es schon Mursi war. Das bedeutet: Der Kampf um die Zukunft Ägyptens ist noch lange nicht zu Ende.
Schlagwörter: Ägypten, Mohammed Mursi, Peter Petras, Tahrir-Platz